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Wahlverwandtschaft
Neue Zürcher Zeitung

Schinkel-Rezeption bei Ludwig Mies van der Rohe

19. Dezember 2002 - Jürgen Tietz
Mies und Schinkel - eigentlich, so sollte man meinen, müsste zu diesem Thema bereits eine ganze Bibliothek an Forschungsliteratur existieren. Schliesslich gehört die Rezeption von Karl Friedrich Schinkels Werken in den Arbeiten Ludwig Mies van der Rohes zu den meistbemühten Topoi der Architekturgeschichte. Und das nicht erst seit gestern. Schon Paul Westheim meinte 1927, Mies sei «als einer der begabtesten weil ursprünglichsten Schinkelschüler anzusehen». Doch auch wenn in der architekturgeschichtlichen Literatur immer wieder die Saite über die Beziehung zwischen Mies und Schinkel angeschlagen wird, so hat sie Max Stemshorn jetzt erstmals zusammenfassend untersucht. Er hat alte Fäden aufgenommen und einige neue hinzugefügt. Gestützt werden die Überlegungen zur architektonischen Wahlverwandtschaft zwischen dem Berliner Klassizisten und seinem modernen Nachfolger auch von Mies van der Rohe selbst. Vor allem gegen Ende seiner Laufbahn wies er mehrfach auf die vorbildhafte Bedeutung von Schinkels Werken für seine eigene Arbeit hin. So lobte er Schinkels Altes Museum als wunderbares Gebäude, von dem man alles in der Architektur lernen könne - und das habe er eben versucht. Aus diesem Lob spricht der Wunsch, die eigene Arbeit in ihrer überzeitlichen Geltung zu stilisieren - auch darin war Mies wie Schinkel ganz Klassizist.

Näher kennen gelernt haben dürfte Mies das Werk Schinkels spätestens durch die Vermittlung von Peter Behrens, in dessen Neubabelsberger Atelier er zu Beginn seiner Berliner Karriere arbeitete. Bereits bei Mies' Entwurf für ein Bismarck-Nationaldenkmal bei Bingerbrück wird Schinkels Einfluss spürbar, orientiert sich doch dieses Projekt in Lage und Gesamtdisposition an Schinkels Entwurf für das Königsschloss auf der Akropolis von 1838. Noch weit konkreter sind die Bezüge beim Haus Perls, das einer modernen Adaption des Schinkel-Pavillons in Charlottenburg gleicht. Ausführlich widmet sich Stemshorn in seiner Untersuchung dem Entwurf für das Haus Kröller-Müller, ohnehin eines der Lieblingsthemen der Mies-Forschung. Schliesslich handelt es sich bei dem Projekt um die erste grosse Niederlage des jungen Architekten: Dem Entwurf von Peter Behrens, bei dem Mies zu dieser Zeit noch beschäftigt war, liess Mies auf Wunsch der Bauherren einen eigenen Entwurf folgen, in Konkurrenz zu dem grossen niederländischen Architekten Hendrik Petrus Berlage.

Dessen Beitrag gewann letztlich die Zustimmung der Bauherrschaft, wurde aber gleichwohl nie verwirklicht. Stemshorn zeigt anhand einer Grundrissanalyse, dass Mies sich intensiv mit Schinkels Rekonstruktionsversuch der Plinius- Villa auseinandergesetzt haben dürfte. Mit Folgen, die weit über die erste bürgerlich-klassizistische Werkphase Mies van der Rohes hinausgingen. Noch in den zwanziger Jahren, als Mies sich mit dem Landhaus in Eisenbeton und später dem Haus Wolf in Guben einer freieren Grundrissbildung zuwandte, verlor er die Idee der Plinius-Villa nicht aus dem Gedächtnis. Gut 100 Jahre zuvor hatte Schinkel bereits bei Schloss Charlottenhof und im Hofgärtnerhaus - beide in Potsdam - mit den weit in die Landschaft ausgreifenden Pergolen und den malerisch gestaffelten Baukörpern ganz ähnliche Motive ausgearbeitet.

Weit weniger konkret stellt sich Mies' Bezug zu Schinkel bei seinen späteren amerikanischen Bauten dar, die eher einem allgemeinen, abstrakten Klassizismus verpflichtet scheinen. In Grundrissgestaltung und Fassadenrhythmus bleiben sie gleichwohl offen für die Interpretation einer Schinkel-Rezeption - was auch für die Berliner Nationalgalerie gilt. Erstaunlich jedoch ist, dass sich Stemshorn ausgerechnet dem einzigen Schinkel-Bau nicht zuwendet, für den Mies van der Rohe eine Umbauplanung vorgelegt hat: der Neuen Wache Unter den Linden in Berlin. Schinkel hatte das Gebäude 1816/18 als Wachlokal für König Friedrich Wilhelm III. errichtet. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Abdankung Kaiser Wilhelms II. um ihre Funktion gebracht, sollte die Wache zur Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Weltkrieges umgestaltet werden. Die preussische Regierung schrieb deshalb 1930 einen Wettbewerb aus, an dem neben dem späteren Gewinner Heinrich Tessenow auch Hans Poelzig, Peter Behrens und Mies van der Rohe teilnahmen.

Die Entwicklung von Mies' Entwurf ist anhand zahlreicher Zeichnungen gut dokumentiert: In der letzten Version schlug er vor, die Wände des Innenraums mit querrechteckigen Platten aus grünlichem Marmor zu verkleiden und einen rückwärtigen Durchgang in das angrenzende Kastanienwäldchen zu schaffen. Herzstück der Anlage sollte ein flacher Gedenkstein sein, der neben einem Reichsadler die Aufschrift «Den Toten» tragen sollte. Von der Mies-Forschung bisher unbemerkt, liefert dieser Raumentwurf einen deutlichen Hinweis auf Mies van der Rohes intensive Auseinandersetzung mit Schloss Charlottenhof in Potsdam. So nimmt sein Entwurf Bezug auf das Vestibül von Charlottenhof. Die Übereinstimmungen beginnen bei der annähernd rechteckigen Grundrissform des Raumes und setzen sich in der blaugrünen Wanddekoration fort. Im sparsamen Preussen Schinkels war sie freilich nur gemalt. Aber auch die rückwärtige, bronzefarbene Türe findet sich in Charlottenhof. Dort führt sie nicht wie bei der Wache ins Kastanienwäldchen, sondern in die Wohnung des Kastellans. An zentraler Stelle des Fussbodens des Charlottenhofer Vestibüls befand sich ein quadratischer Brunnen. Seiner Position hätte im Raumgefüge der Wache der quadratische Gedenkstein entsprochen. Mit Mies' Umgestaltung der Neuen Wache wäre kein neuer Schinkel entstanden; wohl aber ein Bau im Sinne Schinkels. Die Preisrichter erkannten Mies jedoch lediglich einen zweiten Rang zu. Damit verstrich die einzige Gelegenheit, Mies und Schinkel in der unmittelbaren Zusammenschau zu erleben. Was bleibt, ist ein ungeschriebenes Kapitel der Architekturgeschichte.


[Max Stemshorn: Schinkel und Mies. Das Vorbild Schinkels im Werk Mies van der Rohes. Verlag Ernst Wasmuth, Tübingen 2002. 112 S., Fr. 65.50.]

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