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Jenseits des Alltags
Neue Zürcher Zeitung

Auf der Suche nach dem sakralen Raum

23. Januar 2003 - Jürgen Tietz
Kaum hat man das Portal einer Kirche durchschritten, wird die Aufmerksamkeit geschärft, als strebten alle Sinne zu Gott. Doch was ist es eigentlich, wodurch wir eine Kirche als einen besonderen Raum erfahren, ihn als einen heiligen Ort wahrnehmen? Schliesslich haben Kirchen im Lauf der 2000-jährigen Geschichte des Christentums höchst unterschiedliche Erscheinungsweisen angenommen: vom Goldglanz des Frühchristentums über die Schwere der Romanik und vom Hochaufstrebenden der Gotik bis hin zur Theatralik des Barocks. Eine farbenprächtige Augenreise durch diese Welt des Kirchenbaus von den byzantinischen Ursprüngen bis zur Moderne bietet das Buch «Heilige Räume» von Achim Bednorz und Ehrenfried Kluckert.

Gerade auch in den reduzierten Kirchenräumen der Moderne bleibt dieses Besondere der Sakralarchitektur spürbar, wird die Erfahrung des Nichtalltäglichen in eine gebaute Form übergeführt, die sehr unterschiedliche Facetten besitzt. Sie reicht von Le Corbusiers expressiver Kapelle in Ronchamp über Carlo Scarpas Friedhofkapelle San Vito d'Altivole bis zum wunderbar klaren Kloster in Vaals von Dom Hans van der Laans. Nachzulesen ist diese Entwicklung der europäischen Kirchenbaukunst der Jahre zwischen 1950 und 2000 jetzt in einem gewichtigen Buch, das Wolfgang Jean Stock herausgegeben hat. Beginnend mit Fritz Metzgers Kirche St. Felix und Regula in Zürich von 1950, leitet der Autor den Leser durch ein halbes Jahrhundert katholischen und protestantischen Kirchenbaus. Natürlich bedeutet dies zwangsläufig eine Konzentration auf ausgewählte Leitbauten. Und fast zwangsläufig liegt der Schwerpunkt bei dieser Auswahl auf Deutschland, wo durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg ein besonderer Bedarf an neuen Kirchen entstanden war. Wie selbstverständlich nahm in Deutschland - aber nicht nur dort - der Kirchenbau nach 1945 eine herausragende Position ein, wurden Überlegungen zur Liturgie und zur Anordnung der Gemeinde im Raum, die später in das Zweite Vatikanische Konzil einflossen, bereits in der Architektur vorweggenommen. Die Entwicklung der Sakralarchitektur nach 1945 ist in Deutschland eng mit Namen wie Rudolf Schwarz oder Emil Steffan verbunden. Aber auch der fast vergessene Olaf Andreas Gulbransson verdient erwähnt zu werden.


Entrücktes Leuchten

Noch heute ruft die kraftvolle Modernität und mutige Radikalität mancher Sakralbauten der fünfziger und sechziger Jahre ein tiefes Staunen hervor. Etwa bei St. Pius in Meggen von Franz Füeg. Trotz der klaren Stahlskelettkonstruktion des Baues wird hier etwas von jenem Mysterium spürbar, das die Besonderheit eines Sakralbaus auszeichnet: Durch die durchscheinenden Marmorplatten der Fassadenverkleidung dringt Licht in den Innenraum und schafft so jene «Ruhe und Besinnung», die schon die Wettbewerbsjury an dem Entwurf lobte. Jenes entrückende Leuchten ist es auch, das Egon Eiermanns Berliner Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche ausmacht. Intensives blaues Licht fällt durch die Beton-Glaswände in den achteckigen Kirchenraum, ergänzt durch gelbe und rote «Farbflecken».

Die vorgestellten Kirchenbauten werden durch einzelne, über das Buch verteilte Essays ergänzt, in denen liturgische Aspekte des Kirchenbaus (Albert Gerhardts) ebenso beleuchtet werden wie die Entwicklung des Sakralbaus in der Schweiz (Fabrizio Brentini), in Österreich (Friedrich Achleitner), Belgien und den Niederlanden (Marc Dubois), Finnland (Riitta Nikula) sowie in einzelnen deutschen Regionen wie dem katholischen Rheinland (Wolfgang Pehnt). Dadurch gelingt es dem Buch, einen umfassenden und fundierten Überblick über eine der faszinierendsten Bauaufgaben der letzten fünfzig Jahre zu geben. Zugleich bieten die Essays den Autoren die Gelegenheit, die Sakralbauten der Jahre nach 1950 an die Reformgedanken im Kirchenbau aus den zwanziger und dreissiger Jahren anzubinden, ohne die die Bauten der Nachkriegszeit nicht vorstellbar wären. Umsonst sucht man dagegen nach Hinweisen zur freilich konservativ geprägten Sakralarchitektur der letzten Jahre in Osteuropa, etwa in Polen. Dennoch bietet das Buch von Stock einen höchst lesenswerten Überblick über die (west-) europäische Sakralarchitektur der Nachkriegszeit, die auch die bewusste Entsakralisierung der Kirchengebäude in den späten sechziger und siebziger Jahren nicht ausblendet.


Kirche und Museum

Auf die Suche nach der Sakralität begibt sich auch die neuste Ausgabe der Zeitschrift «Kunst und Kirche». Dabei erweist sich bereits ihr Titelbild als eine wohlerwogene Provokation, mit der die gängigen Klischees einer weihevollen Sakralität in Frage gestellt werden: Es zeigt die Betonkapelle des «Hauses der Stille» von Peter Kulka (NZZ 28. 1. 02), die nur durch ein schmales Edelstahlkreuz als Sakralraum gekennzeichnet wird. «Sind katholische Kirchen heilige Räume?», fragt der Theologe Thomas Sternberg in seinem Beitrag «Unalltägliche Orte» und hält fest: «Kirchen sollten für Gottesdienst und Gebet reservierte, unalltägliche Räume sein, die Menschen zu sich selbst, zu anderen und darin auch zu Gott finden lassen.» Gleichwohl erkennt er die Gefahr, dass die Sakralität von Gotteshäusern durch eine inszenierte «Scheinsakralität» in der Alltagswelt verloren geht. Vor allem Museen bedienen sich in einer zunehmend profanierten Welt gerne einer als sakral empfundenen Architektursprache (Beitrag Kerstin Englert). Derart mit Zitaten aus der Kirchenbaukunst geschmückt, atmen Museen als Kathedralen der Kunst längst überalltägliche Atmosphäre. Das Museum ist aber auch der Ort, wo der Austausch zwischen Kunst und Kirche am engsten ist; werden dort doch einerseits Kunstwerke zu Kultgegenständen, anderseits aber Kultgegenstände in Schauobjekte umgewandelt und durch eine effektvolle Lichtregie quasisakral inszeniert. So verschleifen sich die Grenzen zwischen profaner und sakraler Architektur. Doch auch wenn die eindeutige Definition eines Sakralraums an Grenzen gelangt, so sind es Sakrament, Gebet und Gemeinschaft, die den Kirchenraum über den Alltag herausheben und ihn zu einem besonderen Ort machen.


[Achim Bednorz und Ehrenfried Kluckert: Heilige Räume. Dumont-Verlag, Köln 2002. 382 S., Fr. 155.-. - Europäischer Kirchenbau 1950-2000. Hrsg. Wolfgang Jean Stock. Prestel- Verlag, München 2002. 320 S., Fr. 98.-. - «Kunst und Kirche» 3/2002 («Sakralität»).Verlag das Beispiel, Darmstadt. Fr. 21.50.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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