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Sweet Home Alabama
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Material: alte Autoreifen, Filzfliesen, Strohballen; Entwurfs-und Bauprozess: kollektiv; Ziel: „Let's make things better“. Das „Rural Studio“, dessen Arbeiten in einer Wiener Ausstellung zu sehen sind.

15. März 2003 - Christian Kühn
Die „Wohnung für das Existenzminimum“ war eine jener Aufgaben, der sich zu Beginn des 20. Jahr hunderts die Avantgarde der Architekten verschrieben hatte. Für die Wohnungsnot in den großen Städten schien die einzig mögliche Antwort in der Industrialisierung und Standardisierung zu liegen, in der Verwandlung der Wohnung in ein massenhaft hergestelltes, billiges Industrieprodukt. Dass die quantitative Verbesserung der Wohnbedingungen nicht zwangsläufig zu einer besseren Welt führt, war nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch bald klar, und an Gegenbewegungen fehlte es nicht. „Die gerade Linie ist gottlos!“, postulierte Friedensreich Hundertwasser in seinem „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ aus dem Jahr 1958 und reihte sich damit in eine Ablehnungsfront ein, die von konservativen Kritikern wie Hans Sedlmayr bis zu marxistischen wie Ernst Bloch reichte.

Wenn das Architekturzentrum Wien in seiner aktuellen Ausstellung Häuser zeigt, die aus alten Autoreifen, Windschutzscheiben, Filzfliesen und verputzten Strohballen bestehen, rührt es eine Diskussion innerhalb der Architekturszene auf, die seit vielen Jahrzehnten virulent ist und immer wieder aufbricht. Anstelle von Meisterwerken der Baukunst, von einsamen Genies entworfen, sind im Architekturzentrum Gebäude zu sehen, die Gruppen von Architekturstudenten der Universität von Auburn gemeinsam geplant und errichtet haben. Seit 1992 gehört ein Aufenthalt in Hale County, einem der ärmsten Bezirke des „Cotton State“ Alabama im Süden der USA, zum Ausbildungsprogramm der Architekturfakultät im Rahmen der „Studios“, wie in den USA die Entwurfsübungen heißen. Das „Rural Studio“ sollte den Studierenden die Möglichkeit geben, statt am Bauhof der Fakultät auf einer echten Baustelle mit echten Bauherrn zu arbeiten. Bisher haben rund 400 Studierende im zweiten Studienjahr und über 100 Diplomanden das „Rural Studio“ absolviert. Indem er mit dem „Studio“ nach Hale County übersiedelte, verfolgte Samuel Mockbee, der vor zwei Jahren verstorbene erste Direktor dieses Programms, aber noch eine zweite Agenda: Er wollte seine Studenten aus dem Mittelschichtmilieu, aus dem die meisten von ihnen stammen und das in der Regel auch ihren architektonischen Horizont bestimmt, herausführen und sie mit einer anderen sozialen Realität konfrontieren.

Die Studierenden bekamen es dabei mit Bauherrn zu tun, die mit ihren Familien in undichten Hütten ohne Sanitäreinrichtungen wohnten und vorerst nichts anderes wollten als ein Haus, in dem sie die Möbel bei Regen nicht in eine trockene Ecke des Zimmers schieben mussten. 1994 war das erste Projekt fertig gestellt, ein Wohnhaus für ein altes Ehepaar, das zuvor mit seinen Enkelkindern in einer derartigen undichten Hütte gewohnt hatte. Die Wände des Neubaus bestehen aus Heuballen, die in PU-Folie gewickelt und mit Draht gesichert sind. Eine dicke Putzschicht gibt dieser Konstruktion eine beachtliche Vertrauenswürdigkeit. Das Haus bietet eine große Veranda unter der offenen Holzkonstruktion des Dachstuhls, der teilweise mit Blech, teilweise mit Kunststoffplatten gedeckt ist. Für die Kinder gibt es drei tonnenförmige Nischen, die an der Rückseite an das Haus angedockt sind. Finanziert wurde das Haus - wie alle Projekte des „Rural Studio“ - teilweise aus Spenden, teilweise aus Mitteln von Sozialprogrammen.

Für Andrew Freear, den heutigen Direktor des „Rural Studio“, vereint bereits dieses erste Haus die zentralen Qualitäten: Neu-interpretation lokaler Traditionen, kollektiver Entwurfs- und Bauprozess, Verwendung von Recycling-Materialien. Die Wände eines anderen Wohnhauses bestehen etwa aus alten Nadelfilzfliesen, bei einer Kapelle kamen Autoreifen zum Einsatz, deren Kontur noch unter einer Betonschicht zu erkennen ist, bei einem Gemeindezentrum ist ein Teil des großen Flugdachs mit alten Chevrolet-Windschutzscheiben gedeckt, die wie Glasschuppen auf der Holzkonstruktion sitzen. In den letzten Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt des „Rural Studio“ vom Wohnbau auf Spielplätze und kleinere öffentliche Bauten, wie etwa einen Jugendclub und ein Beratungszentrum. Ökonomisch betrachtet, sind alle diese Projekte Architektur für das „Existenzminimum“, räumlich und formal gehen sie aber über die Mittelschichtästhetik, von der staatliche Wohlfahrtsprogramme in der Regel geprägt sind, weit hinaus.

Bei den meisten der Projekte ist auf den ersten Blick klar, dass es sich nicht um anonyme Architektur handelt, also nicht um Beispiele einer „Architektur ohne Architekten“, deren Qualitäten Bernhard Rudofsky in den 1950er Jahren in seinem berühmten Buch in Erinnerung rufen wollte, um die ästhetische Armut des Bauwirtschaftsfunktionalismus bloßzustellen. Es handelt sich um Architektenentwürfe, in denen sich Spuren der internationalen Entwicklung der letzten 20 Jahre mit einer spezifisch amerikanischen Tradition verbinden, die von Frank Lloyd Wright über Bruce Goff bis zu den Selbstbauhäusern der Hippies aus den 1970er Jahren reicht. Aus einer ähnlichen, spezifisch amerikanischen Tradition begründet sich auch die Selbstverständlichkeit, mit der im „Rural Studio“ soziale Probleme in einer „Let's-make-things-better“- Haltung adressiert werden, ohne die strukturellen Hintergründe besonders zu reflektieren: Dass im reichsten Land der Welt Menschen unter Verhältnissen leben müssen, die man sonst nur in einem Slum antrifft, erscheint dabei nicht als Skandal, sondern als individuelles Schicksal, aus dem man eben das Beste zu machen hätte. Aus europäischer Perspektive ist man mit dem Vorwurf der Sozialkosmetik, die nichts an den Ursachen zu ändern vermag, rasch zur Stelle. Das streitet Andrew Freear gar nicht ab, trotzdem handle es sich um mehr als Kosmetik, nicht zuletzt, weil man nicht abschätzen könne, welche Folgen die Erfahrungen der Studierenden in Hale County auf deren zukünftige Praxis haben würden. Dass alle Wiener Architekturschulen zugesagt haben, in den nächsten Monaten mit eigenen Projekten am Begleitprogramm zur Ausstellung mitzuwirken, wird Gelegenheit zum Vergleich der Ansätze geben.

Mit der Ausstellung über das „Rural Studio“ ist das Architekturzentrum seiner „glanzlosen“ Linie treu geblieben. Das ist sicher ein Risiko. Die nächste publikumswirksame Ausstellung über zeitgenössische Architektur ist ab Ende April ausgerechnet im Kunsthistorischen Museum zu sehen: Eine Retrospektive über Santiago Calatrava wird mehr als genug Gelegenheit geben, dem Starkult zu frönen. Um so dringender ist zum Besuch des AzW zu raten, nicht nur für diese, sondern auch für die nächste Ausstellung, die ab Juni Arbeiten von Anna Lacaton und Jean Philippe Vassal unter dem bezeichnenden Titel „Jenseits der Form“ zeigen wird. So einfach und offen kann Architektur sein, so alltäglich und bereichernd. Sicher: Alles ist Architektur. Aber jenseits des Starkults ist sie es noch ein bisschen mehr.


[Die Ausstellung „Just build it!“ im Architekturzentrum Wien (VII., Museumsplatz 1) ist noch bis 2. Juni zu sehen (täglich 10 bis 19 Uhr, Mittwoch 10 bis 21 Uhr). Information unter Tel. 522 31 15-23. ]

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