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Bildungsfundamente der Baukultur
Neue Zürcher Zeitung

Zwei Jugend-Bücher von Gert Kähler

8. Mai 2003 - Jürgen Tietz
«Die ständige Erziehung der Sinne», so schrieb Lewis Mumford in seiner legendären Abhandlung «Die Stadt», die zu Beginn der sechziger Jahre erstmals auf Deutsch erschien, «ist die elementare Grundlage aller höheren Formen der Bildung. Gibt es sie im alltäglichen Leben, so kann sich das Gemeinwesen die Mühe sparen, Kurse in Kunstverständnis abzuhalten. Gibt es sie aber nicht, dann sind derartige Bemühungen weitgehend banal und eitel, handeln sie doch hauptsächlich von modischen Redensarten, nicht jedoch von der zugrunde liegenden Wirklichkeit. Wo eine solche Umwelt fehlt, verkümmert auch die Tätigkeit der Vernunft; Wortgewandtheit und wissenschaftliche Präzision können die sinnliche Unterernährung nicht ausgleichen. Wenn das, wie Maria Montessori vor langer Zeit erkannt hat, ein Schlüssel zu den Anfängen der Kindererziehung ist, so gilt es auch für spätere Altersstufen: Denn die Stadt übt eine
stetigere Wirkung aus als die eigentliche Schule.»


Nachhilfeunterricht

Was aber, wenn der bildungsbürgerliche Super- GAU eingetreten ist? Was, wenn «die ständige Erziehung der Sinne» durch die Städte abhanden zu kommen droht? Dann gibt es wohl doch keine Alternative dazu, als die Notbremse zu ziehen und «Kurse in Kunstverständnis» abzuhalten - seien sie nun eitel oder nicht. Baukulturellen Nachhilfeunterricht in Buchform für Schule und Jugendzimmer erteilt jetzt der Hamburger Architekturhistoriker Gert Kähler, Autor des «Statusberichts» der «Initiative Baukultur». Sein in der Rotfuchs-Reihe «science & fun» bei Rowohlt veröffentlichtes Jugendbuch nennt sich «Scifun- City. Planen, bauen und leben im Grossstadtdschungel».

Es zeigt die unterschiedlichen Funktionen und Rahmenbedingungen auf, aus denen sich Städte zusammensetzen, und gibt Einblicke in die «Kulturtechnik» Stadtleben - von der Stadtverwaltung über die Müllentsorgung bis hin zur Trennung von privatem und öffentlichem Raum. Aber auch in den Planungsablauf im Vorfeld einer Baumassnahme bekommen die Leser Einblick. Das letzte Drittel des Buches ist schliesslich der Geschichte des Phänomens Stadt gewidmet. Die Lektüre des flott aufgemachten Buchs empfiehlt sich als Einstieg in ein Thema, mit dem die meisten Kinder aus der eigenen Lebensumwelt vertraut sein dürften, über dessen Bedeutung und Ursachen sie sich aber selten Gedanken machen: die Stadt. Störend allerdings ist der gelegentlich allzu sehr ins kumpelhaft altväterliche abgleitende Sprachduktus des Buches.

Bei der zweiten Veröffentlichung Kählers handelt es sich um ein Schulbuch, das unter dem Titel «Wie gewohnt?» die Themen Wohnen, Stadt und Architektur für Jugendliche der Sekundarstufe aufbereitet. Zwar gibt es Überschneidungen mit dem Rotfuchs-Buch, etwa wenn es um die Geschichte der Stadt geht, doch da sich das Schulbuch an ältere Jugendliche wendet, erfordern allein schon die unterschiedlichen Zielgruppen beider Publikationen auch eine unterschiedliche Aufbereitung der Informationen. Kählers Schulbuch behandelt Themen, die von den Schülern im Unterricht unmittelbar nachvollziehbar sind, wie die Analyse von Wohnungsgrundrissen und deren Auswirkungen auf das familiäre Zusammenleben, aber auch auf die Gesellschaft. Es konfrontiert seine Leser aber auch mit qualitätvoller zeitgenössischer Architektur und arbeitet die Bedeutung von Wirtschaftlichkeit, Bautechnik und Ökologie beim Hausbau hervor. Damit leistet es verdienstvolle Grundlagenarbeit. Denn nur so kann die Wahrnehmung der gebauten Umwelt geschärft werden, ohne die das Bemühen scheitern muss, die Baukultur langfristig im Volk zu verankern.


Architektur-Kanon?

Wie aber wäre es - würde man Kählers Ansatz weiterdenken -, wenn man neben der verdienstvollen Vermittlung von Stadtfunktionen und architektonischen Grundbegriffen in den Lehrplänen zusätzlich einen Architekturkanon verankern würde, durch den die Kenntnis der Architekturentwicklung von Schinkel bis Mies van der Rohe gleichberechtigt neben dem Literaturkanon von Goethe bis Brecht stünde? Doch so nah uns unsere gebaute Umwelt ist, der wir Tag für Tag begegnen, so fern scheint uns die regelmässige Beschäftigung mit ihr noch immer zu sein. Und so wird es wohl ein mühsamer und steiniger Weg werden, ehe die Bedeutung der Baukultur auch allgemein erkannt wird. Bis dahin helfen Kählers Publikationen, baukulturelle Bildungsfundamente zu legen. Nur schade, dass Kählers Schulbuch «Wie gewohnt?» letztlich ein Schulbuch geblieben ist und die engen Gestaltungsfesseln nicht zu durchbrechen vermag. Wie schön wäre es doch, wenn die Jugendlichen durch die Lektüre des Buches nicht nur ihr Wissen um Stadt und Architektur vermehren, sondern auch eine ganz eigene, ganz sinnliche Buch-Erfahrung machen könnten - jenseits jenes Gestaltungseinerleis, das sie durch ihre Mathematik- und Biologiebücher nur zu gut kennen. Die Erziehung der Sinne besitzt schliesslich viele Facetten.


[Gert Kähler: Scifun-City. Planen, bauen und leben im Grossstadtdschungel. Rowohlt-Taschenbuchverlag, Reinbek 2002. 144 S., Fr. 22.60. - Gert Kähler: Wie gewohnt? Ein Buch um das Wohnen für die Sekundarstufe II. Ernst-Klett-Schulbuchverlag, Leipzig 2002. 120 S., Fr. 24.80.]

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