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Gebauter Kanon
Neue Zürcher Zeitung

Zwei Übersichtswerke zur abendländischen Baukunst

18. November 2006 - Jürgen Tietz
Bis in die Gegenwart hinein spiegelt die Architektur die Kraft der abendländischen Geschichte wider. Und während sich der Takt der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen zunehmend aus dem Einflusskreis des alten Europa hinüber nach Asien und Indien verlagert, bleiben die Bauten von der Antike bis zum Barock spürbare Zeugnisse vergangener Grösse. Ist es da Zufall, dass sich unter den aktuellen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt mit Klaus Jan Philipps «Reclam-Buch der Architektur» sowie mit Francesca Prinas und Elena Demartinis «Atlas Architektur» gleich zwei Bücher der Architekturgeschichte annehmen? Während in Literatur und Musik längst die Kanonbildung vorangeschritten ist und sogar dünnblütige abendliche Fernsehshows «Unsere Besten» bestimmen wollen, eilt die Architektur hinterher. Dabei ist die Baukunst ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit wegen hervorragend dazu geeignet, uns vor Augen zu führen, was überdauern kann, während um uns herum die Fundamente unseres abendländischen Selbstverständnisses brüchiger werden.

Dabei müssen beide Bücher, denen jeweils Handbuchcharakter zukommt, mit einem grundsätzlichen Problem fertigwerden: der schier unüberschaubaren Vielfalt der abendländischen Baukunst. Denn nicht nur ihre zeitlichen, sondern auch ihre regionalen Ausprägungen gilt es zu berücksichtigen, ebenso wie künstlerische Handschriften. Hinzu kommt, dass die Fachbegriffe der Architektur, von den Säulenordnungen bis zum Aufbau einer gotischen Kathedrale, kaum allen Lesern gegenwärtig sind. Somit ist Grundlagenarbeit gefordert. Da hilft es, dass beide Bücher übersichtlich nach Epochen gegliedert sind. Hier besitzt Klaus Jan Philipps Buch einen umfassenderen Blickwinkel, steigt er doch bereits in der Antike ein, während Prina und Demartini nach einem kurzen Vorspann erst im 10. Jahrhundert beginnen.

Dann aber entfalten sie ein Feuerwerk an Abbildungen bedeutender Bauten. Der grosse Vorteil ihres Buches ist die Vielzahl von Objekten, die sie nicht nur in der Beschreibung, sondern auch im Bild vorstellen. Das trägt erheblich zur Anschaulichkeit bei. Dabei werden mal einzelne Bauwerke in den Mittelpunkt gerückt, mal spezielle Bauaufgaben oder Architekten, zumeist aber ganze Regionen. Langsam über die Epochen wachsend, entfaltet sich so der Horizont der Baukunst bis in die Gegenwart. Zugleich gelingt es den Autorinnen, ihrem Buch eine besondere Note zu verleihen, indem sie weniger vertraute Aspekte mit einfliessen lassen, etwa das barocke Sizilien oder den Kolonialbarock des 18. Jahrhunderts. Architektenbiografien, ein kleines Glossar sowie ein Register schliessen den Band ab. Ein Atlas der Baukunst, wie der Titel nahelegt, ist das Buch jedoch nicht, verzichtet es doch auf Karten zur Verortung der vorgestellten Bauten. Und leider gibt es auch keine Literaturliste, die für ein Handbuch unabdingbar ist.

Nach ganz ähnlichem Prinzip ist auch das Buch von Klaus Jan Philipp aufgebaut. Und es liegt in der Natur eines architektonischen Kanons, dass eine grosse Zahl von Bauten in beiden Büchern Erwähnung findet. Vergleichbar ist auch das farbliche Ordnungssystem, das einen schnellen Zugriff auf die Epochen ermöglicht. Einleitungstexten zu den Zeitabschnitten folgen bei Philipp Beiträge über bedeutende Zentren, die wichtigsten Bauaufgaben, Architekten und Gebäude. Der grosse Vorteil seines Buches ist, dass er tatsächlich bei den Anfängen des europäischen Architekturwollens einsetzt und damit die grosse Geschichte der abendländischen Baukunst in ihrer Vollständigkeit präsentiert.

Ganz bewusst ist dennoch ein Drittel des Buches der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert vorbehalten. Anstelle eines Glossars sind einzelne Themen wie Säulenordnungen oder die Struktur der gotischen Kathedralen in die jeweiligen Kapitel eingefügt. Doch leider verfügt das Reclam-Buch über weit weniger Abbildungen, werden zahlreiche Objekte zwar beschrieben oder zum Vergleich herangezogen, aber nicht abgebildet, worunter die Anschaulichkeit gelegentlich leidet. Gleichwohl bereiten beide Bücher für die Leser einen beeindruckenden Fundus an architekturhistorischem Wissen auf, in den einzutauchen bedeutet, sich auf faszinierende Weise mit den Wurzeln und Zeugnissen der abendländischen Baukultur vertraut zu machen.

[ Klaus Jan Philipp: Das Reclam-Buch der Architektur. Reclam- Verlag, Stuttgart 2006. 463 S., Fr. 69.40. - Francesca Prina und Elena Demartini: Atlas Architektur. Geschichte der Architektur. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 432 S., Fr. 52.-. ]

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