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Auf der Suche nach der eigenen Geschichte
Neue Zürcher Zeitung

Tendenzen der zeitgenössischen Architektur in Libanon

Trotz den derzeitigen Machtkämpfen versucht man in Libanon wieder aufzubauen, was während der israelischen Angriffe zerstört wurde. Dabei stellt sich die Frage, welche Bedeutung Architektur und Städtebau im Zedernstaat haben. Eine unabhängige Szene setzt sich für eine Architektur ein, die ohne nationalistischen Beigeschmack als Instrument zur Revitalisierung der libanesischen Kultur und Gemeinschaft funktionieren könnte.

2. Februar 2007 - Carole Gürtler
Ungeachtet aller politischen Spannungen ist seit dem Ende der israelischen Angriffe in Libanon der Wiederaufbau ein zentrales Thema. Unter Architekten wird kontrovers diskutiert. Einige sehen die Möglichkeit, das Land durch eine gezielte Förderung des sozialen Wohnungsbaus zu stärken. Andere zweifeln daran, dass die geschwächte Regierung eine Architektur unterstützen wird, welche über die gebaute Realität hinaus die Bevölkerung zu einen vermag. Im Zuge des allgemeinen Optimismus, der vor dem israelischen Angriff und dem derzeitigen Machtkampf zwischen den politischen Gruppierungen herrschte, entwickelte sich eine unabhängige Architekturszene, die von einem wachsenden kulturellen Selbstbewusstsein zeugte und Werke von beachtlicher Qualität und Eigenständigkeit hervorbrachte. Gefördert wurde sie in erster Linie von privaten Auftraggebern. Von der sonst im Land vorherrschenden Tendenz, die Erinnerung an den Bürgerkrieg durch kosmetische Architektur oder kommerzielle Grossprojekte möglichst rasch vergessen zu machen, unterschied sie sich deutlich. Obschon in Beirut lokalisiert, wirkte sie bis weit in die Peripherie und zielte darauf ab, Geschichte in der Gegenwart zu reflektieren und ein regionales Idiom zu formulieren, das sich nicht allein über formale Kriterien definiert, sondern darüber hinaus von einem ebenso konzeptuellen wie pragmatischen Ansatz geleitet ist. Ihre Vertreter melden sich nun wieder zu Wort, sehen sie doch in der Architektur eine Möglichkeit, den Zustand der libanesischen Gesellschaft in ihrer ethnischen und konfessionellen Vielfalt abzubilden.

Orte mit Bedeutung schaffen

Einer der interessantesten Protagonisten der libanesischen Architektur ist Bernard Khoury. Sein Büro liegt unweit des Klubs «BO18», jenes Bauwerks, das Khoury auf einen Schlag bekannt machte. Der Klub befindet sich inmitten eines öffentlichen Parkplatzes und ist - einem Bunker nicht unähnlich - unterirdisch angelegt. Sein aus Eisenplatten und Plexiglas konstruiertes Dach lässt sich öffnen, so dass Musik aus dem Erdinnern zu dröhnen scheint. Khourys Bauten fallen auf. Sie sind ungewöhnlich und oft von einer betont aggressiven Formensprache, die jedoch auch romantische Züge besitzt. «Es geht darum, Orte mit Bedeutung zu schaffen», sagt Khoury, «denn Beirut ist weder niedlich noch schön.» Das Gebäude des Restaurants «Centrale» beispielsweise liess Khoury nur notdürftig sanieren, so dass die Narben aus dem Bürgerkrieg sichtbar bleiben, während im Innern Leder und Spiegel für eine luxuriöse Atmosphäre sorgen. Die Bar im Dachgeschoss besteht aus einer monumentalen Eisentonne, wobei sich das bald tunnelartige, bald an ein U-Boot erinnernde Konstrukt mittels eines Schiebemechanismus öffnen lässt und den Blick auf Beirut freigibt. Khoury, der bei Jean Nouvel arbeitete und ein zweites Büro in Paris eröffnen will, liebt die Provokation, und dennoch weisen die Bauten des Enfant terrible der zeitgenössischen libanesischen Architektur eine Sensibilität im Umgang mit der Geschichte des Ortes auf, die in der arabischen Welt ungewöhnlich ist.

Obwohl Khoury mit spektakulären Entwürfen für die Unterhaltungsindustrie bekannt geworden ist, weist sein Portfolio heute Villen, Wohnüberbauungen und kommerzielle Bauten auf. Bei seinem neusten Projekt handelt es sich um eine luxuriöse Residenz, die in einer Gartenlandschaft auf dem Kopf zu stehen scheint. Dadurch wird die Sicht aufs Meer besser, während sich die Lärmbelästigung durch die angrenzende Autobahn verringert. Einen zentrumsnahen Wohnturm hingegen, dessen Balkone sich ganz um das Gebäude herumziehen, will Khoury mit einem Netz aus Kletterpflanzen verhüllen, derweil ein Wäldchen aus Zypressen das Dach schützen soll. Und für das Zentrum von Beirut hat er schliesslich ein Luxushotel entworfen, das gängige Materialien und Bauformen negiert. Es ist ein eiförmiger, kristalliner Körper aus Glas und Metall, dessen Basis verschiedene Geschäfte aufnehmen soll. Den Kern des Gebäudes bildet eine atriumartige Lobby, die wie ein Garten gestaltet und mit Bars und Restaurants ausgerüstet ist. Der Bau ist auf mehreren Ebenen zu betreten und versteht sich als neuralgischer Punkt, eine Art Piazza unweit der Souks. Khoury hofft, mit dem Bau beginnen zu können, sobald sich die Lage beruhigt hat.

Dialog mit dem Ort

Nicht weniger kritisch als Khoury, jedoch konformer hinsichtlich der Formensprache geht Nabil Gholam vor. Der in Frankreich und in den USA ausgebildete Gholam war in Spanien bei Riccardo Bofill tätig. Heute besitzt er Büros in Beirut, Istanbul und Barcelona. Gholam strebt ebenso wie Khoury nach einer zeitgemässen, den libanesischen Bedingungen angemessenen Architektur. Doch im Gegensatz zu Khourys Arbeiten, die mitunter fast surreale Züge annehmen, zeichnen sich seine Bauten durch Eleganz, Klarheit und ökologische Konzepte aus. Immer wieder integriert er Sonnenkollektoren. Breite Terrassen oder hölzerne Fensterläden dienen als Sonnen-, Glasflächen als Windschutz. Dass die Schutzelemente dabei auch eine ästhetische Funktion wahrnehmen, steht ausser Frage. Libanesische Architektur definiert sich laut Gholam «durch ihren Bezug zu Wind, Sonne und Raum sowie durch die Einfachheit des Volumens».

Der traditionelle libanesische Kubus dient dem knapp 40-jährigen Architekten dabei ebenso als Anregung wie der westliche Trend zu Transparenz. Die Konstante in seinem Werk aber ist das Zwiegespräch mit dem Genius Loci. So wehrte er sich beim Bau einer Privatresidenz in den Bergen gegen die Absicht des Bauherrn, das teilweise kriegszerstörte Landhaus abzureissen. Während des Bürgerkriegs waren in diesem Haus Menschen gefangen gehalten, gefoltert und getötet worden. Der Bauherr glaubte, die Vergangenheit durch die Zerstörung der alten Gemäuer tilgen zu können. Doch Gholam plädierte dafür, die noch existierenden Gebäudeteile mit dem umliegenden Baumbestand in einen Neubau zu integrieren und so den Ort des Grauens in einen Hort der Poesie zu verwandeln. - Gholam ist Geschäftsmann und Träumer zugleich. Er weiss mit schwierigen Bauherren und Realitäten umzugehen, nähert sich intuitiv der Problematik und sucht im Dialog seine Überzeugung zu vertreten. Das und sein Stil, der wesentliche Elemente traditioneller libanesischer Architektur aufnimmt, ohne in den Retrokitsch abzugleiten, machen ihn momentan zu einem der erfolgreichsten Architekten Beiruts.

Lokale Bautradition

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Simone Kosremelli. Die grosse alte Dame der Beiruter Architektenszene - sie war eine der Ersten mit einem eigenen Büro nach dem Bürgerkrieg - versucht Identität durch bauliche Präsenz zu schaffen, indem sie sich an der lokalen Bautradition orientiert und von topographischen Bedingungen und regionalistischen Sensibilitäten leiten lässt. Ihre Liebe gehört dem Stein, ihre Leidenschaft der Wiedererweckung handwerklichen Könnens. Ihre Bauten basieren auf dem Kubus, auf der für die Region typischen Dreifensterfront und der aussen liegenden Treppe. Der Reiz ihrer Bauten liegt in der Variation der Öffnungen und des Volumens. Der Architektur Mario Bottas fühlt sie sich nahe, wenn sie auch zurückhaltender und pragmatischer agiert. Kosremelli ist nicht auf vordergründige Effekte aus. Das Gebäude eines Privatklubs im Ostteil Beiruts stiess wegen seines ungemein diskreten Äusseren zunächst auf Ablehnung. Ein im Bürgerkrieg zerstörtes Bankgebäude im Zentrum der Hauptstadt renovierte Kosremelli derart subtil, dass ihre Handschrift nicht sichtbar ist, wohl aber die libanesische Steinmetzkunst. «Es ist wichtig», betont Kosremelli, «seine Wurzeln nicht zu verleugnen.» Gerade für ein Land wie Libanon, das auf eine turbulente Geschichte zurückblickt, ist ihrer Meinung nach eine Architektur, die eine identitätsstiftende Wirkung ausübt, ohne nationalistisch sein zu wollen, essenziell. Es braucht aber auch den politischen und wirtschaftlichen Rahmen, um solche Ideen in die Realität umsetzen zu können.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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