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Worthülse oder Heilsbringer?
Neue Zürcher Zeitung

Europa sucht nach Baukultur für alle

2. November 2007 - Jürgen Tietz
Baukultur hat in Europa Konjunktur, allerdings mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während in Frankreich jüngst die «Cité de l'Architecture & du Patrimoine» eingeweiht wurde, besitzt die Baukultur in Finnland bereits Verfassungsrang. Etwas bescheidener als in Paris projektiert man in Zürich, wo der Schweizer Heimatschutz 2009 ein Zentrum für Baukultur in der Villa Patumbah eröffnen will. Derweil wurde in Deutschland jüngst eine Bundesstiftung Baukultur mit Sitz in Potsdam ins Leben gerufen. Auf ihrer Gründungsveranstaltung klang eine gute Portion Stolz an, dass der Begriff «Baukultur» auf dem Weg sei, eine ähnliche internationale Sprachkarriere zu machen wie das Wort «Kindergarten».

Wahrung des kulturellen Erbes

Doch während man beim Kindergarten selbst nach dem Pisa-Schock in Deutschland noch weiss, um was es sich handelt, ist dies bei der Baukultur keineswegs sicher, denn der Begriff droht zur Worthülse zu verkommen. Was also ist Baukultur? Wer sich darüber Aufschluss bei einem Besuch auf der Homepage der Bundesstiftung Baukultur (www.bundesstiftung-baukultur.de) erhofft, wird freilich enttäuscht. Ebenso staatstragend wie beliebig heisst es dort: «Baukultur verbindet den Willen der Gesellschaft zur Wahrung des kulturellen Erbes mit dem Gestaltungsanspruch an die gebaute Umwelt und der Bereitschaft zur Modernisierung und Veränderung.» Doch hat die Gesellschaft überhaupt einen Willen zur Wahrung ihres kulturellen Erbes? Dokumentieren öde Gewerbezentren einen «Gestaltungsanspruch an die gebaute Umwelt»? Oder ist Baukultur am Ende lediglich ein grosses Wünsch-dir-was, das vom schöner Wohnen für alle bis zur Demokratisierung und Öffnung der Planungsverfahren reicht?

Vielleicht haben ja «Kindergarten» und «Baukultur» mehr miteinander gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Denn anstelle politischer Lippenbekenntnisse und endloser Debatten über Organisationsformen kann Baukultur auch ein pragmatisches Antlitz besitzen. Das legt jedenfalls die bereits seit 1966 agierende Chicago Architecture Foundation (CAF) nahe, die sich – im Gegensatz zur Stiftung Baukultur – fast ausschliesslich aus privaten Quellen finanziert. Mit ihren Führungen, Vorträgen und Auszeichnungen bereitet sie den Boden, um die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Facetten der gebauten Umwelt insgesamt zu stärken – und damit eine baukulturelle Grundbildung zu ermöglichen. Und weil bekanntlich alle Bildung in den Schulen anfängt, hat die CAF jüngst ein vorzüglich aufbereitetes «Architecture Handbook» erarbeitet, das verwandte deutschsprachige Veröffentlichungen glatt in den Schatten stellt. Doch nicht nur die ansprechende Gestaltung des Buches überzeugt. Fast noch wichtiger ist, dass die CAF unter ihrer Präsidentin Lynn Osmond im Vorfeld der Veröffentlichung den Dialog mit den Schulen gesucht hat, damit über das Handbuch baukulturelle Inhalte selbst in den Mathematikunterricht einfliessen können. Baukultur als Bildungsarbeit. Ein Ansatz, den in Deutschland die Bundesarchitektenkammer mit ihrem Programm «Architektur macht Schule» vertritt. Doch oft sind die Hürden allzu hoch, um bis in die ohnehin vollgestopften Lehrpläne zu gelangen.

Baukunst als Publikumsmagnet

Andererseits stehen Architektur und Städtebau, Denkmalschutz und Ingenieurbaukunst in der Publikumsgunst derzeit ganz oben. Überall, wo es Neubauten und Ausstellungen zu bestaunen gibt, bilden sich lange Besucherschlangen – egal, ob vor der Dresdner Frauenkirche, dem Guggenheim-Museum von Frank Gehry in Bilbao, das gerade seinen zehnten Geburtstag feierte, vor der Le-Corbusier-Schau in Weil am Rhein oder der Zumthor-Ausstellung in Bregenz. Doch auch der immer beliebter werdende Architekturtourismus ist noch kein Garant für flächendeckende Baukultur. Dafür bedarf es neben dem Staunen über Häuser auch eines intensivierten und kritischen Dialogs über die Bauten, über Orte und Qualitäten, über Materialien und nicht zuletzt über den Umgang mit dem gebauten Erbe, das eben keine beliebig reproduzierbare Massenware ist. Doch solange neu-alte Schlösser aus dem Investorenhimmel fallen und Einfamilienhaushalden die Stadtränder anfressen, steht Europa noch ein langer Weg bis hin zur Baukultur für alle bevor. Vermutlich führt er über den Kindergarten.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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