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Geliebte Fälschung
Neue Zürcher Zeitung

Rekonstruktionen historischer Bauten in Deutschland

15. Januar 2008 - Jürgen Tietz
Eine Rekonstruktionswelle überrollt derzeit Deutschland; von Braunschweig und Dresden über Berlin und Potsdam bis nach Frankfurt und Heidelberg spült sie nicht nur denkmalpflegerisch wertvolle Ruinen oder Stadtparks hinweg, sondern auch die Bauten einer ungeliebten Moderne. An ihrer Stelle hinterlässt sie bald barock, bald klassizistisch anmutende Fassadentapeten, hinter denen sich Firmenrepräsentanzen oder Shopping-Malls breitmachen und sich in Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam sogar ein Parlament einrichten wird. Erlaubt ist, was gemütlich wirkt und am Markt durchsetzbar erscheint. Ob die geforderte Nutzung und das Raumprogramm hinter der Fassadenrekonstruktion Platz finden, kümmert das Publikum wenig, solang das gebaute Ergebnis so ausschaut, als stamme es aus der Zeit vor 1900. Der konservative Zeitgeist hat sich den Tarnanzug der «europäischen Stadt» umgelegt und sich damit in der deutschen Stadtplanung festgesetzt.

Geschichtsverlorene Historie

Die Macht der gegenwärtigen Rekonstruktionswut reisst auch jene Bastion hinweg, die einst von den Vätern der europäischen Denkmalpflege wie John Ruskin und Georg Dehio mit den Worten «Rekonstruktion ist Fälschung» festgeschrieben wurde. So geht inzwischen ein Riss mitten durch die Zunft der Denkmalschützer, und manch einer singt nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand sein Loblied auf die Rekonstruktion. Dabei könnte ein Blick auf die jüngst erstellten Leitsätze der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege lehrreich sein. Diese hält Rekonstruktionen grundsätzlich für bedenklich. «Sie verwischen den Unterschied zwischen Denkmal und historisch gestaltetem Objekt. Indem sie vorgeben, das Denkmal sei leicht wieder erneuerbar, höhlen sie das notwendige gesellschaftliche Engagement für die Erhaltung historischer Substanz aus.»

Doch der Glanz des Gewesenen scheint besonders für viele Deutsche einen sehnsuchtsvollen Zauber zu besitzen. Legt sich doch jede neue Rekonstruktion – und sei sie noch so schlecht gemacht – wie ein heilender Mantel des Vergessens über die Abgründe der eigenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Deren zerstörerische Spuren haben sich schliesslich bis heute ablesbar in Stadtgrundriss und Architektur eingegraben. Eine öffentliche Reflexion über das Geschichtsbild der Rekonstrukteure aber findet kaum statt oder wird mit leichter Hand hinweggewischt. Immer wieder hört man die Frage, ob man denn die Bauten für die Geschichte verantwortlich machen wolle. Architektur als Bedeutungsträger zu begreifen, wird da als überflüssige Intellektualisierung verstanden. Zwar ist die Geschichte der Rekonstruktion nicht neu, und ihre Anfänge reichen weit in die Baugeschichte zurück. Neu aber ist die Versessenheit, mit der nicht nur einzelne Bauherren, sondern ganze Stadt- und Landesparlamente sich unter der Vorgabe der Stadtreparatur mit den architektonischen Wiedergängern schmücken wollen. Und wenn die finanziellen Mittel nicht reichen, dann tragen prominente Softwareentwickler und Quizmaster medienwirksam ihr Scherflein dazu bei.

Regionaler Halt

Dabei müsste die Rekonstruktionswelle ein Alarmsignal sein. Drückt sich im angstvollen Festklammern an einer idealisierten Vergangenheit in Form von regionalen Bau-Ikonen doch mitunter gar Revisionismus aus. Mit der architektonischen Vergangenheitsbeschwörung soll dabei die Verlorenheit der Menschen in einer kalt wirkenden globalisierten Welt gemildert werden. Unter dem Dach der Rekonstruktion wird – wie bei der Dresdner Frauenkirche – Gemeinschaft gestiftet. Doch darüber hinaus erweist sich die Rekonstruktionseuphorie als Spätwirkung einer humorlos gewordenen europäischen Postmoderne, in der sich das tiefe Misstrauen gegenüber der Moderne und ihrer Architektur, ja der Zukunft insgesamt manifestiert. So tief ist dieses Misstrauen gegen Architektur und Architekten in Deutschland mancherorts geworden, dass beim Bauen erlaubt ist, was sonst in der Kunst als verboten gilt. Nirgendwo sonst nämlich wird die Fälschung so goutiert wie hier. Hingen in den Museen so hemmungslos banale Nachahmungen, wie sie sich beim Blick in die Kuppel der Dresdner Frauenkirche zeigen, alle Welt würde zu Recht aufschreien. In Dresden aber herrscht stattdessen heiliges Staunen. Original und Imitation gleichen sich im Zeitalter der virtuellen Verfügbarkeit der Architektur immer mehr an. Stadt und Stadtkopie werden austauschbar.

Und die deutschen Architekten? Sie entwerfen, sie bauen, und sie schweigen. Sie, die doch nach Vitruv eigentlich die Mutter aller Künste vertreten, machen sich gemein mit einer Zunft von Nachahmern und Fälschern, statt sich in ihrem Anspruch verletzt zu fühlen. Ein Skandal? Ach was, möchte man abwinken. Als Kunst hat die Architektur vielerorts ohnehin längst abgedankt. Zu oft ist sie nur Markt und Möglichkeit. Visionen bietet sie allzu selten. Dabei besitzt sie durchaus das Potenzial, mit einer klugen regional verankerten Baukunst den Druck einer nivellierenden Globalisierung zumindest zu kanalisieren. Doch stattdessen entstehen in den Innenstädten viele kleine Gestrigkeiten, die vorgeben, Geschichte wiederzubeleben, während sie doch nur die Substanz der Geschichte beiseiteschieben und die vielgelobte «europäische Stadt» fast nebenbei in einen banalen Themenpark verwandeln. So droht denn auch die neuste der geplanten Wiederherstellungen zu einem eigentlichen Themenpark zu werden: der Renaissancegarten des bis anhin von der schon vor hundert Jahren angedachten Rekonstruktion verschont gebliebenen Heidelberger Schlosses.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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