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Der frische Wind der Geriatrie
Der Standard

Menschen im Alter bilden eine Bevölkerungsgruppe mit individuellen Bedürfnissen. Doch wie wohnt es sich jenseits der 75? Eine Ausstellung gibt Antwort.

14. August 2009 - Wojciech Czaja
Auf den ersten Blick der ganz normale Vorstadtwahnsinn. Die Straßen krümmen sich wie Schlangen übers Land, in den Vorgärten ist kein Grashalm länger als einen Inch, und über allem flattern patriotisch die immergleichen Stars and Stripes. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt Joe (65) mit Baseball-Käppi und Gartenschlauch in der Hand. „Ach ja, immer nur geradeaus. Am besten, Sie fahren den Damen im Golfcar hinterher.“

Sun City Center, Florida, ist eine Rentnerstadt. Wie auch in allen anderen Sun Cities in den USA - und davon gibt es schon weit mehr als ein Dutzend - sind die Aufnahmebedingungen überaus streng. Sesshaft machen darf sich nur, wer bereits oft genug Geburtstag gefeiert hat, wer sich zum geselligen Zusammenleben verpflichtet und wer die vielen Dos and Don'ts dieser künstlichen Enklave respektiert. Das Mindestalter beträgt 55 Jahre, verboten sind dafür Wäscheleinen, Zäune und laute Musik.

Doch wie es scheint, mangelt es nicht an Interessenten. Seit seinem Entstehungsjahr 1962 ist Sun City Center auf mittlerweile 20.000 Einwohner angewachsen. Und es wird größer und größer. Neben 160 Golf-löchern, 200 Vereinen vom Strickverband bis zur Drama-Group und einem stadteigenen Krankenhaus gibt es nicht zuletzt die Garantie, ungestört im greisen Rahmen altern und sterben zu dürfen - fernab von Großstadtlärm, Jugendkultur und Kriminalität.

„Eine Katastrophe“, sagt Alexander Neuhold. Er muss es ja wissen, ist er doch Leiter der Hausgemeinschaft Erdbergstraße, einer Einrichtung des Evangelischen Diakoniewerks, die sich auf die Pflege älterer, großteils bettlägeriger Menschen spezialisiert hat. „In Österreich und speziell in Wien gehen wir nun endlich dazu über, die Ghettoisierung nach Altersgruppen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Statt der üblichen 50, 60 oder gar 70 Betten innerhalb einer Station, wie dies früher üblich war, werden die Wohn- und Pflegegruppen zunehmend kleiner. Ganze 13 Männer und Frauen, allesamt in Einzelzimmern untergebracht, wohnen in einer der drei Wohngruppen mit Blick auf Donaukanal und Gasometer. Und auch das ist nach Auskunft des Experten schon viel zu viel, um einer individuellen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner ernsthaft nachgehen zu können. „Man kann die Gruppen nicht klein genug halten“, so Neuhold.

Integriert und selbstverwaltet

Wichtigster Punkt in der Wohnraumbeschaffung für ältere Menschen ist die Dezentralisierung, also die möglichst breite Streuung innerhalb der Stadt. Das ist das absolute Gegenteil des amerikanischen Sonnenstadtkonzepts. Statt der einstigen Massenabfertigung à la Lainz sollen den Senioren in Zukunft nämlich viele unterschiedliche Lebensformen zur Verfügung stehen. Je nach Wunsch und Bedarf reicht das Angebot von autonomen, selbstverwalteten Wohngruppen, über generationenübergreifende Wohnheime bis hin zu serviciertem Wohnen und zu dem, was man bisher als geriatrisches Zentrum bezeichnete.

Auffällig ist, dass man im Umgang mit den Alten neuerdings die Zunge hüten muss. „Der Begriff Geriatriezentrum wird heute nicht mehr so oft verwendet“, sagt etwa Franziska Leeb, die derzeit an einer Buchpublikation für den Wiener Krankenanstaltsverbund arbeitet (erscheint im Herbst 2009), „lieber spricht man in Fachkreisen von sogenannten Wohn- und Pflegeheimen.“ Und auch sonst: Statt Bettlägerigkeit ist von Pflegestufe 4 bis 7 die Rede, bei der Eingrenzung des Altersspektrums wiederum bevorzugt man statt der bisherigen Pensionisten die Bezeichnung 50 plus, Golden Age oder - auch das gibt es - Senior Citizen.

Wie auch immer man die Bevölkerungsgruppe jenseits der straffen Haut und strammen Wadeln bezeichnet, die Damen und Herren werden jedenfalls mehr und mehr. Derzeit sind rund acht Prozent aller Wienerinnen und Wiener älter als 75, bis 2050 soll der Anteil auf zwölf Prozent steigen. Um sich auf die demografische Wende vorzubereiten, werden seit einigen Jahren laufend Architekturwettbewerbe ausgeschrieben. Einer nach dem anderen. Und das ist erst der Anfang.

Einen ersten umfassenden Überblick über die neuen Alterswohnprojekte, die entweder schon bezogen sind oder sich noch in Planung und Bau befinden, bietet das Architekturzentrum Wien. Seit gestern, Donnerstag, ist in der alten Halle die Ausstellung Ich wohne, bis ich 100 bin. Red Vienna, Grey Society zu sehen.

„Das Interessante an all diesen Projekten ist, dass es erstmals in der Geschichte des seniorenorientierten Themenwohnbaus keine wirklich durchgehende Linie gibt“, sagen die beiden Ausstellungskuratoren Heidi Pretterhofer und Dieter Spath vom Wiener Büro arquitectos. „Das mag zunächst einmal eigenartig klingen, doch im Grunde ist das der Beweis dafür, dass sich ältere Leute nicht über einen Kamm scheren lassen, sondern so individuell zu behandeln sind wie alle anderen auch.“

Sechs Monate lang brüteten die beiden Architekten über diversen Wohnbauvorhaben ihrer Kollegen. Unter ihre Fittiche kamen unter anderem die Bike-City („Wenn man mit einem Fahrrad in die Wohnung kommt, dann auch mit einem Rollstuhl oder Rollator.“), das Frauenwohnprojekt ro*sa Donaustadt sowie das sogenannte Neunerhaus in Favoriten, das obdachlosen Senioren ein Dach über dem Kopf bietet. Auch generationenübergreifende Wohnprojekte und Pflegeheime wurden untersucht.

Eine Gemeinsamkeit gibt es trotz aller Unterschiedlichkeit dann aber doch: „Neben den behördlichen Selbstverständlichkeiten wie Wendekreis und Türdurchgangsbreiten fällt bei vielen Projekten auf, dass die Erschließungsflächen ungewöhnlich groß dimensioniert sind“, erklären Pretterhofer und Spath, „viele Architekten neigen sogar dazu, die Gänge als Straßen und die Aufenthaltsbereiche als Piazza oder Dorfplatz zu bezeichnen.“

Warum tun sie das? „Bei größeren Wohn- und Pflegeheimen besteht die Gefahr, dass sie zu regelrechten Bettenmaschinen verkommen“, sagt etwa Helmut Wimmer, der in Wien-Leopoldstadt gerade ein neues Geriatriezentrum plant, Fertigstellung Frühjahr 2010. „Aus diesem Grund bedarf es einer Zonierung und Individualisierung. Aber auch auf der emotionalen Ebene muss man sich etwas einfallen lassen. Ein gewisses Augenzwinkern mitsamt Straßen- und Platzbezeichnungen ist sicher keine schlechte Idee.“

Das Alter darf ruhig bunt sein

Konkret: Das gesamte Gebäude wird thematisch in viele kleine Siedlungen zerlegt, wobei jeder dieser Gruppen ein eigenes Farbkonzept von Oskar Putz zugrunde liegt. Vor dem kreativen Impetus der Muse gibt es kein Entkommen: Bisweilen passiert es, dass der Boden hellblau ist und die Wände pink. Wimmer: „Dagegen kann man sich nicht wehren. Das ist der frische Wind der Geriatrie.“

So sieht er also aus, der kleine, aber feine Unterschied zwischen postmoderner Sonnenstadt und traditioneller Alpenrepublik. Während hierzulande alles Mögliche getan wird, um im Dialog zwischen Jung und Alt möglichst neutrale und möglichst integrative Lebensformen zu finden, zieht sich in Florida eine ganze Bevölkerungsgruppe kollektiv zurück. Unbemerkt vom städtischen Treiben sterben sie golfspielend, wollstrickend und humorlos dem Tod entgegen. Das kann unmöglich die Zukunft des Alterns sein.

[ Ich wohne, bis ich 100 bin. Red Vienna, Grey Society im Architekturzentrum Wien. Mit einer begehbaren Installation, die von Studenten der ETH Zürich gebaut wurde. Bis 5. Oktober 2009 ]

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