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Roosevelts Erektionen
Der Standard

Warum hat noch niemand die Geschichte der TV-Türme geschrieben? Gesagt, getan: Das politische Machtspiel der Nationen ist nun zwischen zwei weit voneinander entfernten Buchdeckeln nachzulesen.

3. Oktober 2009 - Wojciech Czaja
„Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“, hatte Lenin vor der staatlichen Plankommission Gosplan gemeint. Das war 1920. Achtzig Jahre später wird die wohl berühmteste Formel Moskaus dem Land zum Verhängnis. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, das neue Russland längst den Reizen des Turbokapitalismus anheimgefallen, da kommt es am 27. August 2000 um 15.20 Uhr Ortszeit im Fernsehturm Ostankino zu einem Kurzschluss. Der Sendeverstärker hat der Überlastung nicht standgehalten.

In wenigen Minuten breiten sich die Flammen aus und zerstören in weiterer Folge die gesamte Kanzel. Als wäre das nicht genug, stürzt auch noch der Lift mitsamt Techniker 340 Meter in die Tiefe. Auf ihn fallen Gegengewichte und stählerne Aufzugseile mit einer Gesamtlänge von drei Kilometern. Die schreckliche Ungleichung nach 26-stündigem Feuer: vier Tote und ein Land ohne Rundfunkwellen.

„Einerseits ist das eine Katastrophe, andererseits eine Ironie der Historie“, sagt der deutsche Architekturtheoretiker und Buchautor Friedrich von Borries. „Dreißig Jahre lang hat der Ostankino-Fernsehturm dem kommunistischen Regime seinen Dienst erwiesen. Und plötzlich, mit der Ausbreitung des kapitalistischen Lebensstils, steht der Funkturm in Flammen. Und das nicht nur einmal, sondern ganze vier Mal in den letzten zehn Jahren.“

Mittlerweile ist das Bauwerk gesperrt. Durch die vermehrten Brände haben die meisten der insgesamt 180 vorgespannten Stahlseile im Innern der Betonröhre ihre Zugkraft verloren. Der Turm droht einzustürzen, eine Sanierung ist aufgrund der komplexen Bauweise kaum möglich.

„Fernsehtürme sind eine faszinierende Bautypologie“, sagt von Borries, „ausgestattet mit Rundfunkantenne und der Kür eines sich drehenden Panoramarestaurants, sind sie nicht nur die höchsten Bauwerke einer Stadt, sondern auch Ausdrucksmittel politischer und wirtschaftlicher Macht. In der Baugeschichte des 20. Jahrhunderts wird ihnen dennoch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.“

Mit seinen beiden Partnern Matthias Böttger und Florian Heilmeyer kratzte von Borries daher das gemeinsame Wissen zusammen, peppte es mit einigen weiteren Forschungsreisen auf und presste das Kompendium schließlich in ein vorzüglich aufbereitetes Buch, das den summigen Titel Fernsehtürme. 8.559 Meter Politik und Architektur trägt.

„Wir haben weltweit rund 25 Türme auf ihren geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext hin untersucht“, blickt von Borries zurück, „und haben dabei herausgefunden, dass die Aussendung elektromagnetischer Wellen aus möglichst großer Höhe nicht immer im Vordergrund steht.“ Es sei bemerkenswert, mit welcher Kontinuität Fernsehtürme immer wieder in den Einflussbereich internationaler Querelen rücken. Fast scheint es, als würden sie nicht nur als physikalische Sender fungieren, sondern auch als metaphorische.

Die Tücke der Türme

Zu erzählen gibt es genug. Beispielsweise jenes folgenschwere Missgeschick, durch das die Übersetzer der US-amerikanischen Regierung beinahe ein internationales Debakel ausgelöst hätten. Nachdem Kermit Roosevelt Junior, CIA-Offizier und Enkel von US-Präsident Theodor Roosevelt, 1956 in eine Schmiergeldaffäre zwischen Ägypten und den USA verwickelt gewesen war, bekam der fünf Jahre später, mit ebendiesen Schmiergeldern fertiggestellte Cairo Tower prompt einen Spitznamen verpasst.

Die Ägypter sprachen fortan nur noch vom waqf Roosevelt, sozusagen vom Fundament des netten und spendablen Herrn aus Übersee. Die Pein an der Sache: Die arabische Schreibweise wurde von den Übersetzern, anstatt in waqf, in waqef transkribiert. Der unscheinbare Vokal verwandelte das Fundament kurzerhand in Roosevelts Erektion. Die internationale Beziehung zwischen Washington und Kairo wurde dadurch nicht besser.

Doch welche Rolle spielen Fernsehtürme heute noch? „Im Kalten Krieg war der Wettstreit der Nationen auf die Großmächte konzentriert“, erklärt Friedrich von Borries, „mittlerweile ist das jahrzehntelange Höhenmetergerangel in Europa und Nordamerika weitestgehend beendet.“ Den Bedarf nach Antennenmasten decken in den meisten Großstädten bereits Hochhäuser ab. Im Gegenzug hat sich der Kampf um den Längsten und Höchsten auf die Staaten im Nahen, Mittleren und Fernen Osten verlagert.

Die beiden Austragungsorte im aktuellen Kopf-an-Kopf-Rennen sind die südchinesische Industriestadt Guangzhou und die Monstermetropole Tokio. Da wie dort sind Fernsehtürme in Bau, die den bisherigen Platzhirsch, den CN Tower in Toronto (553 Meter), vom Podest drängen sollen. Offizielle Höhenangabe: „Circa 610 Meter.“ Der Rest ist Geheimnis.

Ungewöhnlich ist in beiden Fällen die Architektur. Der Sky Tree in Tokio, eine Gitterkonstruktion aus Stahl, ist ein Entwurf von Tadao Ando. Ungern gibt man zu, dass dieser sich bereits zurückgezogen und vom Projekt weitestgehend distanziert hat. In Guangzhou wiederum möchte man den weltweit ersten Fernsehturm mit betont weiblicher Figur vollenden. „Während die meisten Türme eindeutig männliche Attribute hervorkehren“, sagt Mark Hemel vom Amsterdamer Büro Information Based Architecture, „wollten wir einen Turm entwerfen, der stattdessen elegant, graziös und eng tailliert ist. Ganz so wie eine sexy Frau.“

Friedrich Borries, Kenner der Materie, kann das nur bestätigen: „Seit den Anfängen der Fünfzigerjahre ist der Bau von Funktürmen sowohl auf der Bauherrenseite als auch auf der Seite der Planer ausschließlich Männern vorbehalten. Das viele Testosteron wirkt sich auf die Form der Gebäude aus. Der typische Fernsehturm mit Aussichtsplattform sieht aus wie ein Penis mit Eichel obendrauf.“ Der geschmeidige Hüftschwung des Guangzhou Towers sei eine willkommene Abwechslung.

Das Spiel mit den Superlativen hat längst schon eine neue Dimension erreicht. Statt mit militantem Protzen beeindrucken die Fernsehtürme des 21. Jahrhunderts mit Spaßfaktor und Nervenkitzel. Auf dem Guangzhou Tower beispielsweise wird es neben dem obligatorischen Drehrestaurant einen Open-Air-Skywalk geben. Außerdem werden Besucher die Möglichkeit haben, sich in 450 Meter Höhe auf einer rundumlaufenden Reling in einer der 16 gläsernen Kugeln herumdrehen zu lassen.

Die Event-Society geht noch einen Schritt weiter. Im trügerischen Las Vegas war man der Meinung, dass der Stadt zur absoluten Perfektion nur noch eines fehle: ein Fernsehturm. Prompt wurde eine Attrappe aus der Taufe gehoben. In der Kanzel des Stratosphere Towers gibt es Kasino und Rollercoaster. Wo andere Türme von Sendeantennen gekrönt werden, prangt ein sogenannter Big Shot, auf dem die Besucher die letzten 50 Höhenmeter mit vierfacher Erdbeschleunigung in den Himmel katapultiert werden.

Die Buchautoren sind sich einig: „Politischer Kampf, das war gestern. Die neuen Fernsehtürme sind dafür ein Machtinstrument für wirtschaftliche Power, Entertainment und Cash, Cash, Cash.“

Fernsehtürme. 8.559 Meter Politik und Architektur. Von Friedrich von Borries, Matthias Böttger und Florian Heilmeyer. € 28,00 / 288 Seiten. Jovis-Verlag, Berlin 2009

Die gleichnamige Ausstellung ist noch bis 14. März 2010 zu sehen. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main. www.dam-online.de

Die Fertigstellung des Tokio Sky Tree ist für 2012 geplant. Der Entwurf des 610 Meter hohen Fernsehturms stammt von Tadao Ando. Konkurrenz kommt aus Guangzhou, China. Foto: Nikken Sekkei Ltd.

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