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Ethik ist die neue Ästhetik
Der Standard

In der Sierra Madre del Sur im mexikanischen Hochland fand das Architektursymposium „Sustainability vs. Aesthetics“ statt. Anleitung für eine „nachhaltige“ Zukunft.

7. November 2009 - Wojciech Czaja
Man trug weißes Leinen und Panamahut. Die Señores Arquitectos waren sich einig, längst nicht nur in Modefragen. Nachhaltigkeit, prusteten sie zwischen zwei paffenden Zigarrenstößen hervor, sei die widerlichste Wortkreation der letzten Jahre. „Was soll das schon heißen? Der Begriff klassifiziert und hebt zu einer Besonderheit hervor, was für jeden seriösen Architekten eigentlich selbstverständlich sein sollte.“

Und doch kamen sie letztes Wochenende aus aller Welt herbeigeflogen, um in der mexikanischen Sierra Madre del Sur, im hügeligen Niemandsland zwischen Oaxaca und pazifischer Meeresküste, über ebendiese größte Selbstverständlichkeit ihres zünftigen Schaffens lautstark zu debattieren: Carl Pruscha aus Wien, Raimund Abraham aus New York, Michael Rotondi aus Los Angeles, und schließlich der offizielle Gastgeber, Wolf Prix von der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Ort und Zeit der internationalen Konferenz Sustainability vs. Aesthetics waren nicht etwa frei gewählt, sondern galten einem kleinen, aber überaus feinen und allseits beglückenden Jubiläum: Fünf Jahre zuvor hatten hier, in der von Armut und Infrastrukturlosigkeit gezeichneten Ciudad de Ejutla de Crespo, Studenten der Meisterklasse Prix einen Pavillon aus Blech und Bambus in die Höhe gestemmt. Mit händischem Geschick, viel Hirn und nachhaltigem Gedankengut, wie sich später herausstellen sollte. Die 220 Quadratmeter große Dachkonstruktion (Baukosten 24.000 Euro) sollte nicht nur Schatten spenden, sondern war in erster Linie als Auffangtrich- ter für wertvolles Regenwasser gedacht.

Fünf Jahre später also. Umgeben von Kakteen und Agaven, steht das Ding immer noch wacker auf seinen Beinen, trotzt Wind und Wetter und sammelt Regenwasser nach Plan. In der Zwischenzeit bekam die Konstruktion aufgrund ihrer eigenständigen Form sogar einen Spitznamen verpasst: techo de tortilla, Tortilladach. „Derartige Spitznamen sind extrem wichtig“, sagt Wolf Prix, „denn sie sind der Beweis dafür, dass ein Bauwerk von der Bevölkerung angenommen und benützt wird.“

Ersteres mit Euphorie, Letzteres mit Erfolg. Rund um die fliegende Blechtortilla siedelte sich in den vergangenen Jahren das Instituto Tonantzin Tlalli (ITT) an, eine Zweigstelle der Non-Profit-Organisation Grupedsac für Weiterbildung und nachhaltige Entwicklung. Bauern und Selbstversorger aus ganz Mexiko kommen hierher, um in Workshops und Fortbildungsseminaren Herr über diverse neue ökologische Technologien zu werden. Angeboten werden 28 Kurse vom Wassermanagement über die Installation und Nutzung von Windkraft und Solarenergie bis hin zum Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen wie etwa Bambus, Lehm und Stroh.

Ein unglaublich wichtiger Motor

Rund 10.000 Menschen wurden im ITT in Ejutla de Crespo bisher ausgebildet. Die Kurskosten, die sich im Bereich von 2000 US-Dollar bewegen (rund 1350 Euro), werden bei Bedarf vorgeschossen und können in Form von Naturalien oder solarer Stromeinspeisung abgezahlt werden. In Härtefällen werden die Kosten von der Grupedsac (Jahresbudget eine Million US-Dollar, rund 675.000 Euro) auch ganz übernommen. „Ich würde nicht sagen, dass wir unseren Erfolg einzig und allein dem Projekt der Studenten von der Angewandten verdanken“, erklärt Margarita Barney de Cruz, Direktorin der Grupedsac, „doch die Finanzierung und der Bau dieses Dachs war ein unglaublich wichtiger Motor für uns.“

Einerseits könne man den Menschen im Maßstab eins zu eins vorzeigen, wie Regenwassernutzung funktioniert und was beim Bau von Auffangtrichter und Zisterne alles zu beachten ist. Und zweitens habe sich das Dach als regionales Symbol etabliert. Barney de Cruz: „Sie brauchen nur nach dem techo de tortilla zu fragen, und die Leute in der Umgebung wissen sofort, wovon Sie sprechen. Man wird Sie über Stock und Stein direkt zu uns weiterleiten.“

Während das Projekt in Ejutla de Crespo den Härtetest längst überstanden hat, werden andernorts erst die Samen gesät - so zum Beispiel in Chimalhuacán. Die Satellitenstadt im Osten der mexikanischen Hauptstadt leidet seit Ewigkeiten darunter, dass sich hier eine der größten Mülldeponien des Landes befindet: Tlatel Xochitenco. Als ob das nicht genug wäre, ist die 600.000 Einwohner zählende Stadt zu allem Überdruss auch noch von offenen Abwasserkanälen umzingelt. Chimalhuacán ist in seiner Ausbreitung begrenzt, denn die zähflüssige Schattenseite der benachbarten Millionenmetropole Mexiko-Stadt ist eine olfaktorische und psychologische Wachstumsbremse.

„Wir können die Probleme nicht wegtilgen, denn das liegt im Einflussbereich der Politik“, erklärt Rozana Montiel von der Architekturfakultät der Universidad Iberoamericana in Mexiko-Stadt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Arturo Ortiz gewann sie vor zwei Jahren einen Wettbewerb zur Revitalisierung und Neuorganisation der stinkenden Horrorstadt. „Aber wir können anbieten, die Probleme mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu reduzieren und den Einwohnern einen Hauch Lebensqualität zurückzugeben, zum Beispiel indem wir versuchen, öffentliche Plätze und Grünflächen zu schaffen.“

Kuratiert von Allard van Hoorn, wurden in der ersten Projektstufe 24 mexikanische Künstler eingeladen, die sich mit dem städtischen Grünraum auf ihre Weise auseinandersetzen sollten. Der Fokus richtete sich auf kurzfristig umsetzbare und temporäre Arbeiten. Betsabee Romero beispielsweise platzierte einen ausrangierten Schulbus vor den Mistplatz und packte ihn in ein dichtes Blätterkleid aus diversen tropischen Pflanzen. Aus der Heckscheibe ließ sie sogar einen stattlichen Baum heraussprießen.

Der grüne Blumentopf aus Müll und Schrott ist ein Vorgeschmack auf die zweite Projektphase. Nachdem bekannt wurde, dass die Deponie geschlossen wird, soll Chimalhuacán endlich seinen langersehnten Park bekommen. Das völlig kontaminierte Areal Tlatel Xochitenco soll versiegelt, anschließend mit Erde aufgeschüttet und schließlich begrünt werden. Geht alles nach Plan, könnte der Park in weniger als zehn Jahren fertiggestellt sein. „Ich bin optimistisch“, sagt Architektin Rozana Montiel. „Doch ob so ein Projekt wirklich nachhaltig ist oder nicht, lässt sich heute noch nicht sagen. Das hängt von vielen unbekannten Variablen ab und wird sich erst in ein, zwei Jahrzehnten weisen.“

Es gibt Mezcal, hochprozentigen Agavenschnaps, und Heuschrecken aus der Pfanne. Die kulinarische Kombination wirkt enthemmend. „Architektur ist eine gewalttätige Kunst, sie zerstört die Welt und nimmt der Natur nichts als Raum weg“, sagt der 1964 in die USA emigrierte österreichische Architekt Raimund Abraham (Österreichisches Kulturforum New York, 2002). „Das ist alles andere als nachhaltig. Dessen müssen wir uns prinzipiell einmal gewahr werden. Erst dann können wir anfangen, über mögliche Korrekturversuche zu diskutieren.“

Wieder einmal herrscht Einigkeit im Zigarrenclub: Social Design, Political Design und ClimateDesign - das grauenvolle N-Wort wird ab nun tunlichst vermieden - sind nach Auskunft der paffenden Herren unausweichlich. Schließlich könne diese Form der intelligenten Architektur zur Schadensmilderung beitragen. Und das sei bitter nötig.

Ob sie dabei auch etwaigen ästhetischen Ansprüchen gerecht wird, ist im Augenblick der Weltzerstörung offenbar zweitrangig. Am Ende der in Mexiko abgehaltenen Konferenz Sustainability vs. Aesthetics meldet sich Mauricio Rocha, mexikanischer Architekt, mit einem nachahmenswerten Zukunftsprogramm zu Wort. Kurz und prägnant: „Ethik ist die Ästhetik der Nachhaltigkeit.“ Da ist es also wieder, das grauenvolle Wort. Es wird uns noch viele Jahre begleiten.

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