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Die Heimat zwischen den Zeilen
Der Standard

Die ureigentliche Aufgabe der Architektur ist das Schaffen von Wohn- und Lebensraum. Sieben neue Bücher rufen uns dies ins Gedächtnis.

24. Dezember 2009 - Wojciech Czaja
„Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen“, hatte der tschechische Philosoph Vilém Flusser einst gesagt. Zeitlos und krisenresistent purzelte in den letzten Monaten eine ganze Reihe an einschlägigen Büchern auf den Markt, die Flussers Wohnformel zahlreich unterstreichen. In den nun folgenden Wochen der Muße steht einer gründlichen Lektüre dieser Schätze nichts im Weg. Hier sind derer sieben.

Die wohl ungewöhnlichste Publikation, man glaubt es kaum, ist ausgerechnet ein Jahrbuch. Der 330 Seiten starke Bildband Von Menschen und Häusern. Architektur aus der Steiermark ist bei HDA Graz erschienen und nimmt die zwölf Preisträger des diesjährigen Steirischen Architekturpreises unter die Lupe - und zwar selbstkritisch und originell.

Apathische Architekturfotografie und Fachsimpelei im Architektenjargon sucht man vergeblich. Stattdessen gibt es witzige und bisweilen skurrile Fotos der mexikanischen Fotokünstlerin Livia Corona, die teils inszeniert, teils aus dem Alltag gegriffen sind: Kinder spielen Luftgitarre, Mütter waschen Büstenhalter, Väter nageln Bilder an die Wand. Dazwischen werden, wie in einem Filmdrehbuch, Gesprächsszenen von Anrainern und Hausbewohnern eingestreut. Die größte Qualität der Texte: Nichts wird beschönigt, jede noch so kritische Stimme kommt zu Wort.

„Das sind spinnerte Architekten“, äußert ein Passant kurz und bündig seinen Unmut über eines der preisgekrönten Häuser, während ein anderer ausholt: „So viel kann ich sagen: Architektonisch finde ich das Haus einfach schiach, es gehört da nicht her.“ Andernorts erklärt eine schrullige Anrainerin: „Ja, das komische braune Hause kenne ich. Es sieht schon eigenartig aus, irgendwie gar nicht wie ein Haus. Aber mir ist das egal, ist ja nicht mein Haus.“

Einen Blick in die privaten rot-weiß-roten Wohn- und Schlafgemächer gewährt auch das (bereits 2008 erschienene) Buch Gelebte Räume. Wie ArchitektInnen wohnen. Obwohl in diesem Fall die Planer mitsamt ihrer Domizile höchstselbst vor die Kamera treten, ist der Unterhaltungswert um nichts geringer. „Die Schizophrenie in diesem Beruf“, meint etwa der Wiener Architekt Rainer Kasik, „liegt darin, dass man für andere plant und fertigstellt, während der eigene Raum stets unfertig und improvisatorisch bleibt.“ Aus dem Chaos heraus spricht auch Gerd Zehetner: „Bei meiner täglichen Arbeit als Architekt muss es natürlich für alles einen Plan geben. Nur für unser Haus darf es keinen geben. Alles muss flexibel und herrlich unkompliziert bleiben.“

Wie prächtig hingegen die Früchte sorgfältiger Planung gedeihen, beweisen die beiden Bücher New Forms of Collective Housing in Europe und Neuer Wohnungsbau in den Niederlanden (erscheint im Februar). Da wie dort werden außergewöhnliche Projekte aus der Sparte des kollektiven Wohnbaus vorgestellt. „Eines ist dabei besonders interessant“, bringen die Autoren in ihrem Vorwort zu Papier, „Einwohner aus schwächeren sozialen Schichten neigen in der Regel dazu, sich eher in einem gleichen kulturellen und familiären Umfeld einzubetten als andere.“ Anders gesagt: „Wo gewohnt wird, gibt's Gewohnheiten.“

Dem innovativen Bauen und Wohnen tut dies jedenfalls keinen Abbruch. Frankreich etwa arbeitet seit mittlerweile zwei Jahrzehnten an einer neuen Zauberformel mit den beiden Unbekannten Flächenmaximierung und Kostenreduktion. Das Ergebnis ist ein Potpourri an überaus unorthodoxen Baumaterialien - von diversen Kunststoffen über Blech bis hin zu unverputztem Ziegelstein.

Ganz anderer Natur hingegen ist die Experimentierlaune in Spanien, Holland und Dänemark, wo Investoren und Bauträger aufgrund der Wohnungsknappheit dazu tendieren, den Massenwohnbau immer stärker zu verdichten. In den Niederlanden beispielsweise, wo allein in den letzten sieben Jahren 600.000 Wohnungen errichtet wurden, wird dieses Spiel mit besonders großem Engagement betrieben. 60 penibel präsentierte Wohnbauprojekte liefern im Buch den nötigen Beweis.

Dass die Wurzeln des Massenwohnbaus allerdings weit länger zurückliegen als gedacht, beweist Robert Liebscher in seinem Büchlein Wohnen für alle. Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus. Sorgfältig und, Respekt, in völliger Abstinenz von Nostalgie und Ostalgie widmet sich der Stadthistoriker darin der Präfabrikation von Wohnraum und startet seine Recherche im frühen 19. Jahrhundert. Erläutert werden nicht nur die unterschiedlichen Bauweisen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Bauhaus-Utopie, Bauwirtschaft und DDR-Politik.

Mit politischen Hintergründen ist auch die Suhrkamp-Publikation Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel gespickt. Sie kehrt die längst vergessene Geschichte der deutschen Bauunternehmerfamilie Hirsch hervor. Ursprünglich auf die Herstellung von Rohware spezialisiert, fertigte der Familienbetrieb in den frühen 30er-Jahren Fertigteilhäuser aus Kupfer.

„Das Kupferhaus glänzt schon von Weitem. Es ist nicht ungefährlich sich ihm bei starkem Sonnenschein zu nähern“, spottete die Frankfurter Zeitung im Mai 1931. „Die vorurteilslose Architektur, nach der eine solche metallische Unterkunft verlangt, wäre unbedingt durch ein mit Zinkblech belegtes Gärtchen zu ergänzen, in dem Bleibäume blühen müssten, die niemals verwelken.“

Trotz medialer Kritik wurden die Kupferhütten vom Publikum wohlwollend angenommen und schließlich bis nach Palästina exportiert. Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer rekonstruieren in ihrem Buch die kuriose Reise der blechernen Häuser - Wissensdurst stillend und lesenswert.

Wer von allem Wohnen noch immer nicht genug hat, dem sei Jürgen Hasses wissenschaftliches Elaborat Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft ans Herz gelegt. Minutiös und detailverliebt, wiewohl in etwas schwer verdaulicher Sprache, geht er dem Begriff Wohnen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Grund.

Die Sichtweise des Frankfurter Stadtforschers ist bisweilen mutig und überraschend. Nicht einmal vor Gefängnisarchitektur, klösterlicher Askese und Obdachlosigkeit schreckt er dabei zurück. Sein Fazit: Gewohnt wird überall - und wenn es auf der Parkbank ist.

Andreas und Ilka Ruby (Hg.), „Von Menschen und Häusern. Architektur aus der Steiermark“. € 39,90 / 332 S. Verlag Haus der Architektur, Graz 2009

János Kalmár, Barbara Sternthal, „Gelebte Räume. Wie ArchitektInnen wohnen“. € 29,90 / 160 S. Residenz Verlag, 2008

Arc en Rêve Centre d'Architecture Bordeaux, „New Forms of Collective Housing in Europe“. € 74,79 / 296 S. Birkhäuser Verlag, 2009

Leonhard Schenk, Rob v. Gool, „Neuer Wohnungsbau in den Niederlanden. Konzepte, Typologien. Projekte“. € 69,95 / 192 S., Random House, 2010

Robert Liebscher, „Wohnen für alle. Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus“. € 12,90 / 176 S. Vergangenheitsverlag, 2009

Friedrich von Borries, Jens-Uwe Fischer, „Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel“. € 12,40 / 208 S. Edition Suhrkamp, 2009

Jürgen Hasse, „Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft“. € 24,80 / 256 S. Transcript Verlag, 2009

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