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Profil

Studium an der TU-Wien (Dipl.Ing.) und an der ETH-Zürich (Dr.sc.techn.); unterrichtet am Institut für Gebäudelehre der TU-Wien; seit 1995 im Vorstand der österreichischen Gesellschaft für Architektur; seit 2000 Vorstand der Architekturstiftung Österreich. Publikationen unter anderem „Das Wahre, das Schöne und das Richtige - Adolf Loos und das Haus Müller in Prag“, Vieweg 1989 (Neuauflage 2001); „Stilverzicht - CAAD und Typologie als Werkzeuge einer autonomen Architektur“, Vieweg 1998; „Anton Schweighofer - A Quiet Radical“, Springer 2001; „Ringstraße ist überall - Texte über Architketur und Stadt 1992 - 2007“; seit 1992 Architekturkritiker für „Die Presse“ und „Architektur & Bauforum“. Studiendekan der Studienrichtungen Architektur und Building Science an der TU Wien von 2008 bis 2023; Vorsitzender des Beirats für Baukultur im Österreichischen Bundeskanzleramt seit 2015; Kommissär für den österreichischen Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig 2014.

Artikel

19. März 2011 Spectrum

Die Utopie im Reservat

Transparenz, Wettbewerb und eine ganzheitliche Stadtplanung hat Wiens Stadträtin Vassilakou angekündigt. Utopie oder Illusion? Ein Stadterweiterungsprojekt in Bozen zeigt, dass es möglich ist. In Wien regiert noch die Macht des Faktischen.

Als die neue Wiener Planungsstadträtin und Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou auf Einladung der Plattform für Architekturpolitik und Baukultur vor vier Wochen eine Grundsatzrede unter dem Titel „Zehn Thesen zur Stadtplanung“ hielt, war der Andrang im Architekturzentrum Wien gewaltig. Das Publikum wurde nicht enttäuscht. Vassilakou skizzierte vor den versammelten Architekten und Planern die Prinzipien einer zeitgemäßen Stadtplanung mit klaren Schwerpunkten und messbaren Zielen: Vorrang der inneren Verdichtung vor der Stadterweiterung; die Schaffung besser nutzbarer und attraktiverer öffentlicher Räume; die Umkehrung des Trends zur Stadtflucht unter jungen Familien; höhere Energieeffizienz, nicht nur als Sparmaßnahme mit Umweltschutzbonus, sondern als Strategie, langfristig die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren und damit Freiheit zu gewinnen. Auf der operativen Ebene bekannte sich Vassilakou zu Transparenz und Wettbewerb, Bürgerbeteiligung und zum kritischen Dialog mit der Fachöffentlichkeit. Die abschließende Aufforderung, Mut zur Utopie zu haben, war mehr als eine rhetorische Floskel: Schon davor war zwischen den Zeilen herauszuhören, dass sie – von der Verkehrsplanung bis zur Abschöpfung von Widmungsgewinnen – zu radikaleren Ideen bereit wäre, als sich im Moment politisch umsetzen lassen.

Das Fachpublikum reagierte begeistert. An den Thesen selbst lag das nicht: Vereinzelt hatte man sie in ähnlicher Form schon von ihrem Vorgänger hören können. Der Unterschied lag in der Art, in der diese einzelnen Punkte in einen Zusammenhang gebracht wurden. War das Ideal der Wiener Stadtplanung bisher die Patchwork-City, also gewissermaßen die Utopie im Reservat, von der Bike-City bis zur Frauen-Werk-Stadt, so klang bei Vassilakou das Ideal einer ganzheitlichen Stadtplanung an, bei der in großen räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen gedacht wird.

Dass die Zunft der Planer diese Ansage mit Begeisterung aufnimmt, ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin darf sie sich dadurch in ihrer Bedeutung gestärkt fühlen. Aber ist sie auch realistisch? Ist das, was wir heute unter „Stadt“ verstehen, überhaupt noch ganzheitlich planbar? Sind es nicht doch die Einzelprojekte, mit denen man im Stadtkörper Akupunktur betreiben muss, in der Hoffnung, dass sich dieser Körper, von solchen Nadelstichen gestärkt, auf geheimnisvolle Weise zum Besseren entwickelt? Und muss man sich beim Planen im großen Maßstab nicht damit abfinden, dass das Resultat zwangsläufig eher auf die Interessen der Investoren als auf jene der Stadtbewohner zugeschnitten ist?

Tatsächlich wäre es schwer, in Wien Beispiele einer solchen Stadtplanung zu finden. Die Großprojekte, vom Hauptbahnhof über den Westbahnhof bis zur Seestadt Aspern, sind von „Sachzwängen“ aller Art bestimmt, was sie nicht schlechter macht als viele andere Projekt auf der ganzen Welt. Aber für eine Stadt, die sich gern als die „lebenswerteste“ der Welt verkauft, ist das nicht wirklich zukunftsfähig.

Wie man in der internationalen Städtekonkurrenz auch ohne Kniefall vor den gängigen Maßstäben der Investorenarchitektur punkten kann, lässt sich an einem aktuellen Projekt für Bozen zeigen. Die Südtiroler Hauptstadt ist mit rund 100.000 Einwohnern zwar in der Dimension nicht mit Wien vergleichbar, das Projekt einer inneren Stadterweiterung im Umfeld des bestehenden Bahnhofs erreicht aber eine Dimension von 30 Hektar – für eine Stadt wie Bozen eine gewaltige Kraftanstrengung.

Als eine der pro Kopf reichsten Städte Italiens ist Bozen einem hohen Entwicklungsdruck ausgesetzt, dem auf der stadtplanerischen Seite bisher kein Konzept gegenüberstand. Die Idee, durch eine Reduktion und Verlegung von Gleisanlagen Entwicklungsfläche zu gewinnen, ist bereits einige Jahre alt, ein erstes Projekt war jedoch an Bürgerprotesten gescheitert.

Der städtebauliche Ideenwettbewerb, der Ende Februar entschieden wurde, sollte unter internationaler Beteiligung eine Vision hervorbringen, die auch die Stadtbewohner und nicht nur die Investoren begeistert. Die Jury unter dem Vorsitz von Dietmar Eberle und Christoph Ingenhoven, der als Architekt des Bahnhofs Stuttgart Erfahrung sowohl mit Visionen als auch mit Bürgerprotesten gemacht hat, wählte aus dem Kreis der Bewerber zehn aus, zu denen als prominenteste Daniel Liebeskind, Ben van Berkel, Cino Zucchi, Stefano Boeri, Cruz und Ortiz, Kees Christiaanse-KCAP und Boris Podrecca gehörten, jeweils in Kombination mit zahlreichen Partnern und Fachplanern.

Das Rennen gemacht hat das Projekt von Boris Podrecca und seinem Team, zu dem unter anderem das Schweizer Büro von Theo Hotz gehörte. Podrecca hat schon mehrere Projekte in Bozen bearbeitet, etwa das Hotel Greif oder die Neugestaltung des Kellereigeländes am Grieser Platz. Vielleicht ist ihm deshalb eine derart nahtlose Einbindung in das bestehende Stadtgefüge gelungen. Wie alle Projekte, die in die engere Wahl kamen, verschwenkt Podrecca die Bahntrasse um 45 Grad, um einen Großteil des Areals ohne Barriere an die Altstadt anbinden zu können. Sein Projekt belässt aber auch das alte Bahnhofsgebäude, einen respektablen, aber alles andere als spektakulären Bau aus den 1930er-Jahren, das weiterhin als einer der Zugänge zum Verkehrsterminal dienen darf. Dahinter überspannt allerdings ein 150 mal 50 Meter großes, mehrfach geknicktes Flugdach quer die Gleisanlagen und verbindet die Altstadt mit dem südöstlichen Teil der Stadterweiterung. Ein ähnliches Dach mit großen pneumatischen Kissen aus PTFE-Folie hat Podrecca vor Jahren als Überdachung des Wiener Pratersterns vorgeschlagen.

Die Qualität das Bozener Projekts liegt aber nicht an Detailformen, sondern an der präzisen, an jedem Punkt gut proportionierten Ausformung der Stadträume und ihrer Verbindung. Deutlich wird das vor allem im Vergleich mit den anderen eingereichten Projekten, die mit Ausnahme des Projekts von KCAP durchwegs auf große Figuren setzen. Bei Podrecca liegt das Hauptaugenmerk auf dem öffentlichen Raum, eine große Piazza im Bahnhofsbereich, ein grüner Hügel mit Punkthäusern für den kommerzielleren Teil im Süden, Baublöcke mit grünen Innenhöfen im gemischten Baugebiet, verbunden durch einen Grünzug, der sich bis zu den Weinbergen im Norden fortsetzt.

Man kann dieses Projekt als ein fast naives Bekenntnis zur europäischen Stadt lesen, von der Dietmar Eberle einmal gesagt hat, sie sei die größte Erfindung, die Europa überhaupt hervorgebracht hätte. Das ist eine gewagte These, denn gut funktionierende Großstädte mit Hunderttausenden Einwohnern gab es in China schon vor 2000 Jahren. Die Idee der Polis – als politische und zugleich stadträumliche Struktur – ist aber tatsächlich etwas Einzigartiges: Sie ist um den öffentlichen Raum herum errichtet, nicht um Burg oder Tempel und auch nicht um die Hochhäuser der Banken, Investoren und Bauträger.

Wie viel dieses Bekenntnis zur Stadt wert ist, wird die Umsetzung zeigen, sowohl bei Podreccas Plänen für Bozen als auch bei Vassilakous Thesen für Wien. Wenn Transparenz und Wettbewerb für die Grünen eine zentrale Rolle spielen, sind sie allerdings gerade dabei, ihren ersten Kredit zu verspielen. Die von den Grünen mitgetragene neue Wohnbauoffensive, bei der mit öffentlichem Geld ein Sektor von frei finanzierten Billigwohnungen geschaffen wird, überlässt die architektonische Qualität dem Gutdünken der Wohnbaugenossenschaften. Der Protest der Fachöffentlichkeit, die auch für diesen Sektor Qualitätswettbewerbe einfordert, ist massiv. Der erste Anlass für den versprochenen kritischen und konstruktiven Dialog wäre damit wohl gefunden.

18. Februar 2011 Spectrum

Radikal neu?

Interpretation versus Implantat: zwei neue Bauten, zwei unterschiedliche Ergänzungen zum Weltkulturerbe „Wien – Innere Stadt“.

Das Areal rund um die Börse am Schottenring gehört nicht zuletzt deshalb zu meinen Lieblingsvierteln, weil ihm alles Gemütliche fehlt. Wenn sich Wien irgendwo zur Weltstadt aufgeschwungen hat, dann hier: Die Straßen sind großzügig, die Häuser monumental, ihre Fassaden klar gegliedert und nicht zu üppig dekoriert - kraftvolles 19. Jahrhundert im Unterschied zum schillernden Gemisch aus Barock und Biedermeier, Ringstraße und Jugendstil, als das sich die Stadt ansonsten touristisch vermarktet.
Obwohl es nicht ins Klischee passt, gehört das Gebiet zur Kernzone des UNESCO Weltkulturerbes „Wien - Innere Stadt“ und steht daher unter besonderer Beobachtung. Dass hier in den letzten Jahren überhaupt Neubauten entstehen konnten, ist nur dann erstaunlich, wenn man sich unter einem Welterbe ein geschlossenes Ensemble von einheitlich hoher Qualität vorstellt. Das trifft für die Wiener Innenstadt - im Unterschied etwa zu den UNESCO-geschützten Altstädten von Salzburg und Graz - keineswegs zu. Kriegsschäden und deren Reparatur haben in der Wiener Innenstadt zahlreiche Implantate zweifelhafter Qualität hinterlassen, die nun durch Neubauten ersetzt werden.

Wie unterschiedlich man sich zum Weltkulturerbe positionieren kann, zeigen zwei jüngst fertiggestellte Projekte, die neue Zentrale der Volksbank in der Kolingasse, entworfen vom deutschen Architekten Carsten Roth, und das Wohn- und Geschäftshaus in der Werdertorgasse, das die Wiener Architektengruppe Rataplan für eine Tochter der Erste Bank geplant hat. Beide liegen im Kerngebiet des Weltkulturerbes, annähernd gleich weit von der Börse entfernt. In beiden Fällen galt es, geschützte Teile des Altbestands zu erhalten, wobei ein ähnlicher Weg eingeschlagen wurde, nämlich die Erhaltung des Bestands von der Fassade bis zur Mittelmauer. Im Vergleich zu der beliebten Praxis, nur Fassaden zu erhalten und dahinter mit niedrigeren Geschoßhöhen mehr Rendite zu erzielen, ist diese Lösung jedenfalls ein Fortschritt.

Hier enden aber die Gemeinsamkeiten. Im Umgang mit dem Kontext verfolgen sie zwei deutlich unterschiedliche Strategien. Während Carsten Roth sich vom Genius Loci inspirieren lässt und eine Neuinterpretation des gründerzeitlichen Blocks versucht, brechen Rataplan dessen Kontur auf und entwickeln ihr Projekt formal ohne tiefere Verbeugungen vor dem Bestand. Das hat offensichtliche Vorteile. Rataplan stand nur eine große Eckparzelle eines äußerst dicht verbauten Blocks zur Verfügung, bei dem sich bei normaler Verbauung ein dunkler Innenhof ergeben hätte. Durch eine Verschwenkung der Fassade hinter die Baulinie wurde dieser Hof gewissermaßen nach vorne an die Straße geholt, was einerseits Belichtung und Ausblick in den Wohnungen verbessert, andererseits dem öffentlichen Raum auf der Straße zu einem durchaus respektablen Vorplatz verhilft.

Ursprünglich waren für das Grundstück drei unabhängige Häuser geplant, zwei Bürohäuser und ein Wohnhaus. Rataplan konzipierten stattdessen ein horizontal gegliedertes Gebäude, das in den unteren Geschoßen Geschäfts- und Büroräume aufnimmt, wodurch die besser belichteten obersten vier Geschoße ausschließlich dem Wohnen zur Verfügung stehen. Drei Treppenhäuser versorgen diese vielfältigen Nutzungen und erlauben sowohl im Büro- als auch im Wohnbereich unterschiedliche Kombinationen und Grundrisszuschnitte.

„Geheimnisvolles Zentrum“

Carsten Roth stand für die neue Zentrale der Volksbank ein ganzer Baublock zur Verfügung, der etwa zur Hälfte von einem Gründerzeitbau eingenommen war. Die übrigen Gebäude stammten aus der Nachkriegszeit und waren mit dem Altbau zu einem labyrinthischen Geflecht verwachsen, in dem die Volksbank schon bisher residierte. Den innerstädtischen Standort aufzugeben und einen repräsentativen Signalbau zu errichten hätte dem Selbstverständnis der Bank nicht entsprochen. Sie entschloss sich daher zu einer radikalen Sanierung und Erneuerung, bei der die Nachkriegsbauten abgerissen und vom historischen Bestand nur der Bereich zwischen Fassade und Mittelmauer erhalten blieb. Diese erhaltene Raumschichte gibt die Tiefe vor, in dem auch der Rest des Blockrands bebaut wird, wodurch ein großzügiger überdachter Innenhof entsteht, in den die Erschließung sowie Besprechungs- und Sanitärräume als Türme ausgelagert werden. Nur zur Schmalseite an der Kolingasse wird die Trakttiefe verdoppelt, um mehr Nutzfläche zu erhalten.

Typologisch ist diese Lösung effizient und auch räumlich attraktiv, da sie einen großen, von oben belichteten gemeinsamen Innenraum erlauben würde, der alle Bereiche eines Unternehmens zumindest visuell miteinander verbindet. Erstaunlicherweise hat Carsten Roth weitgehend auf diese Möglichkeit verzichtet und die Transparenz im Innenraum der fragwürdigen Idee eines „geheimnisvollen“ Zentrums, eines „Innenraums, der mit unbändiger Kraft nach oben strebt, keine Begrenzungen zulassen will und keine Auskunft gibt über seine Endlichkeit“, wie der Architekt in seinen Erläuterungen zum Projekt formuliert. Konkret bedeutet das, dass so gut wie alle potenziellen Durchblicke in diesen Innenraum durch blickdichte weiße Folien versperrt sind, hinter denen man zwar teilweise Besprechungs- und Pausenräume vermuten kann, aber niemanden sieht. Die Auftraggeber dürfte der Architekt mit dem Gedanken überzeugt haben, dass sie sich hier eine Skyline ins Haus holen können: „Während Banken in der ganzen Welt davon träumen, an der Skyline zu partizipieren, werden hier sechs Türme zu einer ganz eigenen Skyline im Inneren des gesamten Bankgebäudes umschlossen.“ Das aus solchen hohlen Phrasen eine entsprechende Architektur werden muss, ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin taugen die Folientürme als guter Malgrund für eine Riesenmalerei von Otto Zitko, die vom Künstler gerade aufgetragen wird und dem vermeintlich magischen Vertikalraum einen ironischen Kontrapunkt entgegensetzt.

Gescheitert auf hohem Niveau ist auch Carsten Roths Versuch, eine Gründerzeitfassade neu zu interpretieren. Das spielerische Eingehen auf horizontale und vertikale Linien und das Erzeugen von Tiefe durch zufälliges Vor- und Zurücksetzen von Ziergliedern kann an den logischen Aufbau einer guten Gründerzeitfassade niemals heranreichen. Da ist Rataplans Blechfassade allemal ehrlicher, oder gar das von der Kolingasse aus gut sichtbare Juridicum, Ernst Hiesmayrs Erinnerung an die Wiener, dass ihre Stadt auch radikal Neues durchaus verträgt.

22. Januar 2011 Spectrum

Adieu, Avantgarde

Ist die Zeit gekommen für die Entsorgung des Avantgarde-Begriffs? Oder braucht er nur eine neue Ausrichtung, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird?

Bruno Kreiskys 100. Geburtstag geht auch an der Kunstszene nicht unbemerkt vorüber. Vergangenen Sonntag lud das Wiener Burgtheater unter dem Titel „Avantgarde Ges.m.b.H.“ zu einer Revue von Podiumsdiskussionen, in denen Künstler, die sich in den 1970er-Jahren zur Avantgarde zählten, mit jüngeren Künstlern und Kulturwissenschaftlern über ihre Einschätzung des damaligen kulturellen Aufbruchs und über den Avantgardebegriff an sich diskutierten.

Der Titel bezog sich auf eine Episode der Kulturpolitik Ende der 1970er-Jahre. Hans Hollein und Adolf Frohner war es damals gelungen, Kreisky von der Idee einer Ausstellung neuer österreichischer Kunst in den USA zu überzeugen, um das Bild des Landes international aufzupolieren. Der Kanzler beauftragte den Wiener Galeristen John Sailer mit der Umsetzung, der daraufhin die „Avantgarde Ges.m.b.H.“ gründete, fünf internationale, renommierte Kuratoren einsetzte und von diesen je einen Künstler nominieren ließ. Hollein, der gewieftere Taktiker, war am Ende dabei, mit ihm Walter Pichler, Günter Brus, Hermann Nitsch, Peter Kubelka und Arnulf Rainer. Die Ausstellung „Rituals. An Austrian Phenomenon“ kam aber nie zustande. Nach heftigen Protesten von Kulturbeamten und Künstlern, die sich übergangen fühlten, blies Kreisky das Unternehmen ab.

Aus heutiger Sicht, erklärte John Sailer bei der Podiumsdiskussion, finde er sich in seiner Wahl insofern bestätigt, als Hollein, Pichler, Rainer und Brus als Mitglieder des Kunstsenats gewissermaßen staatstragende Künstler geworden seien – was freilich in erster Linie deren nachhaltiges Genie im Knüpfen von Seilschaften beweist. Peter Weibel, ebenfalls Gast im Burgtheater, brachte es in einer von Sailer nur zaghaft widersprochenen Replik auf den Punkt: Schon damals hätten sich die nominierten Künstler über den Umweg des Oberkurators Sailer ihre Kuratoren selbst ausgesucht.

Mit „Avantgarde“ nicht mehr zu bezeichnen als die jeweils aufstrebende Gruppe von jüngeren Künstlern, die sich gegen das Establishment auflehnt, um dann selbst an dessen Stelle zu verkalken, wird dem Begriff freilich nicht gerecht. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts verstanden sich immer als künstlerischer Teil gesellschaftlicher Bewegungen, als kriegerisches Ende der Kunst, das ohne Rücksicht auf Verluste einer Sache dient, deren Schwerpunkt außerhalb der Kunst liegt. Dass dazu auch totalitäre Avantgarden zählen, die – etwa im Italien des Faschismus oder in der frühen Sowjetunion – herausragende Kunst und Architektur hervorgebracht haben, ist kein Zufall. Machtkonzentrate sind das Grundnahrungsmittel der Avantgarde, wobei es fürs Erste gleich ist, ob sie einer demokratischen Massenbewegung oder einer Diktatur entspringen. – Die österreichische Avantgarde der Ära Kreisky ernährte sich in dieser Hinsicht von den Reserven der 1968er-Bewegung und fühlte sich berufen, die „verkrusteten, vereisten, betonierten Verhältnisse“ der österreichischen Nachkriegszeit aufzubrechen, wie Peter Weibel, Elsa Prochazka und Wolf D. Prix in ihren Beiträgen zu den Podiumsdiskussionen im Burgtheater dokumentierten.

Dass die jüngeren Diskutanten mit dem Avantgarde-Begriff nur wenig anfangen konnten, liegt nicht nur am Fehlen klarer Feindbilder, sondern vor allem an der dunklen Ahnung, als Künstler nur noch wirkungslose Scheinkämpfe führen zu können. Bei den Architekten unter den Avantgardisten ist das besonders evident. Man braucht nur im Katalog des legendären, von Peter Noever 1992 im Museum für angewandte Kunst unter dem Titel „Architektur am Ende?“ organisierten Symposiums nachlesen, was Frank Gehry im Vorwort den selbst ernannten Kämpfern im „nicht erklärten Krieg gegen die Architektur“ wie Zaha Hadid und Coop Himmelblau – damals noch ohne freigestelltes (l) firmierend – ins Stammbuch schreibt: „Ich kann mich daran erinnern, genauso gedacht zu haben wie sie, aber jetzt stellen sich die Dinge einfacher dar. Ich bin Architekt geworden, weil ich bauen wollte, und um bauen zu können, muss ich innerhalb des gesellschaftlichen Systems bauen.(...) Ich bin letzten Endes zuversichtlich, dass sie (die Teilnehmer am Symposium, CK) alle Aufträge erhalten und wunderbare Bauten errichten werden, und nicht herumsitzen und sich Gedanken über das Ende der Architektur machen müssen.“ Wie recht er mit dieser Prophezeiung hatte, erstaunt Gehry heute wahrscheinlich sogar selbst.

Für Avantgarde im klassischen Sinn ist in diesem Denken aber kein Platz. Die Massenbewegung, in deren Dienst es sich stellt, ist die Akkumulation von Kapital. Die jüngeren Bauten und Projekte von Hadid und Coop Himmelb(l)au verkörpern das dazu passende Ideal, die Synthese fließender Bewegung und solider Objekthaftigkeit: Der Dagobert-Duck'sche Geldspeicher hätte heute die Form eines verdrehten Doppelkegels. Dass sich diese Architektur totläuft, sobald der Markt gesättigt ist und seine Lust am Objekthaften verliert, ist offensichtlich.

Die kommende Architektengeneration steht vor der Aufgabe, beim Bauen nicht das Objekt, sondern den Prozess in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn sie Avantgarde sein möchte, wird sie sich mit der letzten verbliebenen Massenbewegung, der Ökologiebewegung, verbünden müssen, allerdings ohne die Weltprobleme durch Wärmedämmung, Lehmbauweise oder biotechnologische Zauberformeln lösen zu wollen. Dafür wird sie neue und oft widersprüchliche Qualitäten brauchen: Liebe zum Kurzfristigen und Geschick im Umgang mit dem Zufall ebenso wie einen langen Atem in der Verfolgung von Zielen, deren Erreichung vielleicht erst ihre Urenkel erleben dürfen. Sie wird die Geduld und Ausdauer von Gärtnern mit der Präzision von Raumfahrtingenieuren vereinen müssen. Ob diese Perspektive der skeptischen jungen Generation ausreicht, um sich der Sache Architektur mit der gleichen unbedingten Leidenschaft zu verschreiben wie die Generation der Coop Himmelb(l)aus, werden die nächsten Jahre zeigen.

24. Dezember 2010 Spectrum

Esse mit Ausblick

Die Zeiten, als Industriebauten nur noch als konturlose Blechcontainer auftauchten, sind vorbei. Eine neue Sichtbarkeit ist angesagt. Auf welchem Niveau, zeigt der aktuelle Staatspreis für Industrie und Gewerbearchitektur.

Als der große deutsche Architekt Karl Friedrich Schinkel 1826 England bereiste, zeigte er sich tief beeindruckt von den Veränderungen, denen Städte und Landschaften durch die Industrialisierung ausgesetzt waren: „Um 9 Uhr kommen wir mit der Extrapost in Dudley an und fahren nach dem Frühstück und Tee gleich zu den Eisenwerken. Grandioser Anblick von Tausenden von Obelisken, welche rauchen. Größtenteils Förderungsmaschinen, um Steinkohlen, Eisen und Kalk aus den Gruben zu bringen.“ Gebäude, „so lang als das Berliner Schloss und ebenso tief, ungeheure Baumasse von nur Werkmeistern ohne Architektur und fürs nackteste Bedürfnis aus rotem Backstein ausgeführt“, Beispiele jener über 400 Fabriken, die damals in kurzer Zeit in der Region errichtet wurden, ließen Schinkel erahnen, welche Folgen die Industrialisierung für die Architektur mit sich bringen würde. Die Ingenieurkunst des 19. Jahrhunderts setzte erste Impulse für eine neue Ästhetik der Zweckmäßigkeit, und die Klassische Moderne des frühen 20. fand schließlich in den industriellen Bauaufgaben ein reiches Experimentierfeld.

Aus den Baumassen für das „nackteste Bedürfnis“, die Schinkel so unheimlich erschienen waren, entwickelte sich die Vision einer neuen Architektur, in der die Sphären von Produktion, Konsum, Wohnen und Erholung zwar räumlich getrennt, aber ästhetisch verbunden sein sollten. Eine moderne Architektursprache für alle Lebensbereiche sollte helfen, eine für alle gemeinsame Welt herzustellen.

In der heutigen postindustriellen Gesellschaft sind die rauchenden Schlote – zumindest in Europa – weitgehend verschwunden. Aber auch die Vision der Moderne von einer verbindenden und verbindlichen Ästhetik hat sich spätestens in den 1970er-Jahren aufgelöst, als die negativen sozialen und ökologischen Folgen der Industrialisierung und der streng nach Funktionen getrennten Stadt nicht mehr länger zu leugnen waren.

Architektur gilt seit damals wieder als Disziplin für besondere Anlässe, für Museen und den gehobenen Wohnbau, und sie hat in diesem Marktsegment eine bisher unerreichte Vielfalt an gleichzeitig auftretenden Stilrichtungen hervorgebracht. In der Architekturdiskussion spielte der Industriebau bis zur Jahrtausendwende – mit Ausnahme einiger weniger britischer Beispiele aus dem „High-Tech“-Bereich – nur eine untergeordnete Rolle. Das lag nicht allein an den Architekten.

Fast hat es den Anschein, als ob die Industrie selbst unter dem Druck des Umweltschutzes nicht nur die rauchenden Schlote zum Verschwinden bringen wollte, sondern insgesamt unter die Tarnkappe einer neutralen, aus konturlosen Blechcontainern gebildeten Ästhetik außerhalb jedes architektonischen Anspruchs zu schlüpfen versuchte. – Diese Situation änderte sich Ende der 1990er-Jahre, als Unternehmen begannen, ihre Produktionsstätten aus der Perspektive des Marketings zu betrachten. Wenn sich die Produkte selbst immer ähnlicher werden, dann wird die „Story“, die den subjektiven Wert einer Marke für den Konsumenten steigern soll, immer wichtiger. Warum soll nicht auch eine Fabrik oder ein Forschungszentrum zu dieser Fantasie beitragen? Die „Gläserne Fabrik“ in Dresden von VW oder die BMW-Welt in München sind spektakuläre Ergebnisse dieses Kalküls, das dem Industriebau in der postindustriellen Gesellschaft zu einer neuen Sichtbarkeit verholfen hat.

Diese neue Sichtbarkeit hat aber nicht nur mit Marketingüberlegungen zu tun. Unternehmen sind sich heute stärker der Verantwortung bewusst, die sie für die Gestaltung von Stadt und Landschaft und für die Lebensqualität ihrer Mitarbeiter tragen. Gute Planung im Industriebau bezieht Mitarbeiter und Nachbarn ein, sie berücksichtigt die Integration in den Stadt- oder Landschaftsraum und denkt an Betreuungseinrichtungen für die Kinder von Mitarbeitern.

Der alle drei Jahre vergebene Staatspreis für Industrie- und Gewerbearchitektur, der vom Ministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend zusammen mit der Architekturstiftung Österreich, der Architekten- und Ingenieurkammer, der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung ausgelobt wird, ist ein Gradmesser für den Entwicklungsstand dieses Sektors in Österreich. Zu den sieben nominierten Projekten gehören durchaus spektakuläre Beispiele, wobei Größe dafür keine Rolle spielt. Spektakulär ist auch das kleinste Projekt, die Schmiede Steindl in Osttirol von den Architekten Peter Jungmann und Markus Tschapeller in Innervillgraten. Sie ist ein Marketinginstrument im fast wörtlichen Sinn, ein überdimensionales schwarzes Alphorn inmitten traditioneller Bauernhöfe, gut belichtet von oben und überseitliche Bandfenster, durch die der Blick auf die Hänge gegenüber fällt: Eine Esse mit Ausblick hat nicht jeder Schmied.

Spektakulär in einem gänzlich anderen Maßstab ist das Verkaufs- und Finanzzentrum der Voestalpine Stahl GmbH in Linz, errichtet nach einem Entwurf von Dietmar Feichtinger, dem hier nach der Donauuniversität in Krems und dem Landeskrankenhaus Klagenfurt sein bisher eindrucksvollster Bau gelungen ist, Signalarchitektur mit Witz und sehr gelungenen Büroräumen im Inneren, diean großzügigen, begrünten Atrien liegen.

Die beiden Preisträgerprojekte des Staatspreises, Swarovski Optik in Absam und Sohm Holzbautechnik in Alberschwende im Bregenzer Wald, sind dagegen beinahe kontemplativ. Wolfgang Pöschl hat mit seinem Team für Swarovski ein bestehendes Werksareal schrittweise erneuert. Aus der Einfahrt wurde ein von Zubauten mit üppigen Gründächern gerahmter Hof, den zu überqueren jeden Tag Freude macht. Alle Büros wurden unter Einbeziehung der Mitarbeiter gestaltet, ein Kindergarten wurde eingerichtet und ein neuer Parcours für Werksführungen inszeniert, der dem Image des Unternehmens gerecht wird.

Den architektonisch komplexesten Beitrag hat Architekt Hermann Kaufmann mit der banalsten Bauaufgabe, einer Lagerhalle mit Bürotrakt für Sohm Holzbautechnik, geliefert. Statt der skulpturalen Geste setzt Kaufmann auf die Auflösung des Baukörpers in seine konstruktiven Bestandteile. Die Fassade zur Straße hin ist aus schmalen, beinahe lamellenartigen Tragelementen gebildet. Im Inneren tragen drei mächtige, diagonal in den Raum gestellte Holzsäulen einen Hauptträger, auf dem die Deckenelemente balancieren. In seiner starken Präsenz ohne starke Form ist dieses Projekt richtungsweisend. Man würde sich von manchem sogenannten „Kulturbau“ in Österreichs Gemeinden ein annähernd so hohes Niveau wünschen.

27. November 2010 Spectrum

Die Quadratur des Dreiecks

Wie ein Kunstgriff zur Raumkunst wird: Borealis hat in Linz ein neues „Innovation Headquarter“ bekommen – eine Großraumlösung mit einem radikalen Ansatz.

Obwohl zwischen ihnen oft nicht unterschieden wird, sind Erfindung und Innovation zwei sehr verschiedene Dinge. Eine kreative Idee ist die Voraussetzung für beide, aber Innovation ist der umfassendere Begriff, der alle weiteren Anstrengungen einschließt, durch die sich kreative Ideen erst in der Welt behaupten.

Innovation ist auch das eigentliche Thema in dem Gebäude, das die Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck in Linz für das Chemieunternehmen Borealis entworfen haben. Hier entwickeln rund 350 Mitarbeiter neue Produkte und Verfahren für die Kunststoffe, die etwa in der Automobilindustrie oder für Verpackungsmaterialien eingesetzt werden. Der Konzern beschäftigt rund 5200 Mitarbeiter, 1600 davon in Österreich und die überwiegende Zahl in acht weiteren Ländern mit Produktionsstandorten von Finnland über Abu Dhabi bis in die USA. Entsprechend international sind auch die Forschungsgruppen, die im neuen Gebäude in Linz zusammenarbeiten.

Als das Unternehmen Ende 2007 einen Wettbewerb für sein neues „Innovation Headquarter“ auslobte, war klar, dass dieses Gebäude optimale Voraussetzungen vor allem für die Zusammenarbeit von Forschern bieten sollte. Das Siegerprojekt von Henke und Schreieck verfolgt in dieser Hinsicht einen radikalen Ansatz: Anstelle der üblichen Zellen- oder Gruppenbüros bietet es eine Großraumlösung an, die alle Arbeitsebenen auch in der Vertikalen durch ein Atrium verbindet, das den Blickkontakt zwischen sämtlichen Business Units ermöglicht. Es gibt im gesamten Gebäude kein Einzelbüro mehr, selbst die Chefs haben ihre Schreibtische im Großraum.

Dass eine solche Lösung den Kontakt zwischen den Mitarbeitern fördert und damit zur Innovation als einer Teamleistung beiträgt, die über die individuelle zündende Idee hinausgeht, steht außer Frage. Trotzdem gab es unter den Mitarbeitern zu Beginn verständliche Skepsis. Würden die Vorteile des Großraums nicht durch die bekannten Nachteile aufgewogen: Fehlende Möglichkeit zur individuellen Gestaltung der eigenen Arbeitsumgebung und vor allem akustische Störungen, die ein konzentriertes Arbeiten unmöglich machen würden?

Die Umsetzung der zündenden Idee des „Forschungsturms“ mit umlaufenden Arbeitsplätzen und großem Atrium wurde für die Architekten daher selbst zu einer Innovationsaufgabe, bei der sie die späteren Nutzer, aber auch viele Fachplaner und Ausführende ins Boot holen mussten. Als Grundform wählten sie ein Dreieck mit abgerundeten Ecken, an denen nicht die Chefbüros, sondern jeweils ein mittelgroßer Besprechungsraum für bis zu zehn Personen und zwei abgetrennte Zonen für ungestörte Telefonate liegen, die von keinem Arbeitsplatz mehr als 30 Schritte entfernt sind.

Dass jedes Geschoß seinen eigenen Grundrisszuschnitt besitzt, verdankt es einem speziellen Kunstgriff: Statt die Öffnungen des Atriums einfach übereinander zu setzen, haben die Architekten sie in jedem Geschoß um 20 Grad verdreht. Diese Lösung ist so simpel und zugleich effektvoll, dass man sich wundert, warum sie nicht schon längst erfunden wurde. Die Halle des Guggenheim-Museums in New York werden Henke und Schreieck sicher vor Augen gehabt haben, auch wenn dort eine Rampe und keine horizontalen Ebenen das Atrium begrenzt. Aber selbst Frank Lloyd Wright hätte seine Freude an der räumlichen Dramatik gehabt, die sich im Borealis-Gebäude aus dieser simplen Drehung ergibt. Die Herausforderung steckt – wie bei jeder scheinbar einfachen Idee – im Detail: Erst die leichte Neigung der Brüstungen und die feine Abstimmung von Proportionen, Materialien und Farben macht aus dem Kunstgriff Raumkunst.

In Kombination mit versetzt angeordneten raumbildenden Elementen – Glasboxen für Besprechungen, Sanitärbereichen, Fluchttreppen und offenen Kaffe- und Besprechungszonen – entsteht so ein differenzierter Großraum, in dem man sich wohl und gut aufgehoben fühlt. Dass dieser Raum auch akustisch funktioniert, hat einiges an Überlegung bedurft. Akustikdecken konnten nicht eingesetzt werden, da die zur Kühlung nötige Bauteilaktivierung weder abgehängte Decken noch Akustikputze zuließ. Teppichböden sind daher in allen Obergeschoßen selbstverständlich, aber auch die meisten Möbel sind aus speziellen, mit feinen Bohrungen versehenen schallschluckenden Platten hergestellt. Und selbst die Espressomaschinen in den Kaffeezonen sind keine Standardprodukte, sondern spezielle Geräte mit Schalldämpfern.

Eine weitere Besonderheit ist das mehrlagige pneumatische Foliendach des Atriums, das eine extrem zarte Konstruktion erlaubt. Derartige Dächer sind heute zwar keine Sensation mehr, um witterungsgeschützte Bereiche zu erzeugen. Die Funktionsfähigkeit seines Gebäudes davon abhängig zu machen, dass die nur 0,3 Millimeter starke ETFE-Folie auch einem Hagelgewitter standhält, beweist großes Vertrauen in innovative Kunststofftechnik, wie es von diesem Bauherren wohl nicht anders zu erwarten ist.

Energietechnisch erreicht das Gebäude trotz kompakter Form mit seiner Glasfassade nur durchschnittliche Werte. Angesichts der Prozesswärme und -kühlung der umgebenden Anlagen, die das Bürogebäude mitnutzen kann, wäre das Erreichen eines höheren Standards eine wenig sinnvolle Übung gewesen. Dass trotz eindrucksvoller Gebäudetechnik im Untergeschoß Heizung und Kühlung nicht individuell für einzelne Arbeitsplätze oder zumindest eine größere Anzahl von Zonen pro Geschoß geregelt werden können, wird von den Nutzern als einziger Kritikpunkt angemerkt. In diese Richtung darf man sich in Zukunft noch einiges an Innovationen erhoffen. Mit dem neuen Typus für die Bauaufgabe des „Innovation Headquarters“, der Henke und Schreick mit diesem Projekt geglückt ist, sind dafür jedenfalls die besten Voraussetzungen geschaffen.

30. Oktober 2010 Spectrum

Orgien, Mysterien, nüchtern gerahmt

Kunst des Wiener Aktionismus: Die Sammlung Friedrichshof im Burgenland hat ihre Bestände neu arrangiert und sich von Adolf Krischanitz ein Minimalmuseum dafür errichten lassen.

Das Nordburgenland gilt unter Alpenbewohnern als Deprivationslandschaft, deren größter Reiz in ihrer völligen Reizlosigkeit besteht. Dass ausgerechnet hier, in Zurndorf, ein paar Autobahnminuten vom wild wuchernden Designer-Outlet in Parndorf entfernt, seit 30 Jahren eine der besten und ursprünglich auch umfangreichsten Sammlungen von Kunst des Wiener Aktionismus zu sehen ist, hat eine besondere Geschichte. Der Ursprung der Sammlung, die über 100 Arbeiten von Günter Brus, Hermann Nitsch, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler enthält, geht auf die Zeit zurück, als Zurndorf Sitz einer Kommune war, die sich um Otto Muehl gebildet hatte. Die Kommune war ein Experiment einer radikal-utopischen Lebensform, das sich an den amerikanischen Westcoast-Kommunen, aber auch an der Kibbuzim-Bewegung und an den großen Sozialexperimenten des 19. Jahrhunderts orientierte. Sie erwarb ab 1972 erste Gebäude auf dem Areal des Friedrichshofs, eines ehemaligen Landguts, und errichtete im Lauf der Jahre weitere Anlagen, unter anderem einen eher anspruchslosen Werkstättentrakt, in dem auch die Kunstsammlung untergebracht wurde.

Die Verurteilung Otto Muehls zu sieben Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs von Unmündigen 1991 hat die öffentliche Wahrnehmung der Kommune bis heute bestimmt. Der Ermittlungen gegen Muehl wurden bereits 1987 aufgenommen und hatten die autoritäre Struktur der Kommune bereits so weit aufgeweicht, dass sie sich schon 1989 in eine Genossenschaft umwandelte, in der die beträchtlichen, nicht zuletzt durch Brokertätigkeiten von Mitgliedern erwirtschafteten Vermögenswerte eingebracht wurden. Die Genossenschaft überlebte die offizielle Auflösung der Kommune 1990 und blieb auch Eigentümerin der Kunstsammlung, die ursprünglich weit umfangreicher war.

Im Lauf der Jahre wurden Teile verkauft, zuerst an die Sammlung Essl, dann an die Sammlung Leopold und schließlich ans Wiener Museum Moderner Kunst (MuMoK),wo sich heute die umfassendsten Bestände zum Wiener Aktionismus befinden.

Dass gerade heuer eine Neuaufstellung der Sammlung unternommen wurde, mag mit dem 20-jährigen Jubiläum der Auflösung der Kommune zu tun haben, deren ehemalige Mitglieder vorsichtig in Erinnerung rufen wollen, was die Kommune für sie bedeutete: ein Leben nach den Prinzipien von „gemeinsamem Eigentum, freier Sexualität ohne feste Paarbeziehungen, kollektivem Kinderaufwachsen und direkter Demokratie“.

Beim 20-Jahr-Fest am Friedrichshof waren 400 ehemalige Kommunarden anwesend, ein Zeichen dafür, dass die Zeit für eine differenzierte Aufarbeitung der Geschichte der Muehl-Kommune gekommen ist. Im offiziellen Pressetext zur Neuaufstellung der Kunstsammlung ist wohl nicht zufällig ein interdisziplinäres Forschungsprojekt angekündigt, das untersuchen soll, wie eine anarchistisch-libertinäre Gruppe in ein autoritäres System kippen konnte. Die Ansätze für eine Erklärung werden gleich mitgeliefert: Man hätte die Komplexität des Vorhabens unterschätzt, dem um eine Generation älteren Muehl zu viel Bewunderung geschenkt und damit zu dessen Selbstüberschätzung beigetragen. Explizit „distanziert sich die Sammlung Friedrichshof von den Verfehlungen Muehls, bedauert das entstandene Leid und ist bestrebt, die Opfer bei der Bewältigung des Geschehenen zu unterstützen.“ Zugleich wird aber auch der Gesinnungswandel Muehls anerkannt und dessen Bemühen um Versöhnung, das in einem jüngst veröffentlichten Entschuldigungsschreiben zum Ausdruck komme.

Kunst des Wiener Aktionismus zu sammeln war für die Kommune nahe liegend, nicht nur weil Muehl zu dessen Exponenten gehörte, sondern auch, weil die Kommune in Anspruch nehmen konnte, den künstlerischen Aktionismus in eine gesellschaftspolitische Praxis umgesetzt zu haben, während die individuellen Künstler zwar einiges an politischer Reaktion auslösten, aber letztlich Reibebäume im geschützten Garten der Kunstproduktion bleiben mussten. Als die Sammlung Friedrichshof ab 1980 durch den in der Kommune lebenden Künstler Theo Altenberg aufgebaut wurde, war der Aktionismus selbst bereits Teil der Kunstgeschichte, wenn auch ein außerhalb Österreichs – bis auf Arbeiten Günter Brus‘ – wenig bekannter.

Nach der Auflösung der Kommune wurde der Ausstellungsmacher Hubert Klocker mit der Betreuung der Sammlung beauftragt, die in den 1990er-Jahren vor allem durch Leihgaben für Ausstellungen in Los Angeles, Tokyo und Paris zur besseren internationalen Positionierung des Wiener Aktionismus beitrug.

Die Neugestaltung der Sammlungsräume erfolgte durch Adolf Krischanitz, der schon in den 1980er-Jahren für eine Dependance der Kommune auf den Kanarischen Inseln ein Haus entworfen hatte. Krischanitz hat den Räumen ein neues Entree vorgesetzt – einen Glaszubau mit zwei X-förmigen Stützen aus massiven Holzbalken –, die Räume für die Sammlung beruhigt und mit einem Einbau für Projektionen ausgestattet. Ergänzt werden diese Räume durch einen Bereich für temporäre Installationen mit einem Längsraum als Übergang zur Dauerausstellung. Ohne großen Aufwand ist so ein hochwertiger Kunstraum entstanden, eine „kleine Monumentalität“, wie sich Krischanitz ausdrückt, die sehr selbstbewusst im alles andere als monumentalen Bestand ihren Platz findet.

Ihre erste Bewährungsprobe besteht die Raumfolge gerade mit einer Ausstellung von Paul McCarthys Videoinstallation „Carribean Pirates“, die bis Ende März 2011 in der Wechselausstellung zu sehen sein wird. In Mehrfachprojektionen zeigt Mc Carthy ein wildes Satyrspiel mit aktuellen Bezügen, das an ein Nitsch'sches Orgien-Mysterien-Theater erinnert, bei dem die Macher der US-Fernsehserie Southpark die Regie übernommen haben. Die großen Durchbrüche, mit denen Krischanitz Wechselausstellung und Sammlung verbunden hat, offenbaren so die heimliche Absicht, Letztere ein wenig zu durchlüften: Im Kontrast mit Mc Carthys absurdem Spektakel kommt der tief verspannte katholische Ernst, der den Werken des Wiener Aktionismus anhaftet, drastisch zum Vorschein.

16. Oktober 2010 Spectrum

Der Schwank von Schwaz

Die Proteste gegen den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs sind in aller Munde. Freilich: Im Vergleich zu dem, was sich rund um das Stadtgalerien-Projekt im Tiroler Schwaz ereignet, ist das Stuttgarter Bahnhofsvorhaben ein Muster an Transparenz.

In österreichischen Gemeinden ist der Bürgermeister die erste Instanz in allen Bau- und Planungsangelegenheiten. Das ist grundsätzlich zu begrüßen: Je näher bei den Bürgern Entscheidungen über die Qualität ihres Lebensraums fallen, desto besser. Das gilt zwar nicht für Fragen der Raumordnung, wo Österreich durchaus übergeordnete Planungsinstanzen mit Machtbefugnissen bräuchte. Aber die Verantwortung für Architektur und Stadtgestaltung ist auf lokaler Ebene richtig angesiedelt und kommt gut ohne eine übergeordnete, etwa auf Landesebene organisierte Schönheitspolizei aus. Von oben verordnete Schönheit passt nicht zu einer Demokratie: Hier muss über Qualität so lange diskutiert werden, bis eine tragfähige Mehrheit gefunden ist.

Wie schwierig das ist, kann man derzeit in Stuttgart verfolgen, wo eine Bürgerbewegung aus Denkmal- und Umweltschützern das vier Milliarden Euro teure Projekt des neuen Bahnhofs stoppen möchte. An Transparenz hat es in Stuttgart allerdings nie gefehlt: Seit 1998 war das Neubauprojekt im alten Bahnhof ausgestellt, und es gibt gute Argumente für die Auflassung des Kopfbahnhofes, der – unter Beibehaltung des Großteils der denkmalgeschützten Bahnhofshallen – mit neuen, quer zum Bestand verlaufenden Gleisanlagen unterfahren werden soll. Die Ursache des spät und eher plötzlich aus einem diffusen Unbehagen auskristallisierten Bürgerprotests dürfte hier in einem Misstrauen gegen alle Lösungen zu finden sein, die man früher stolz als „großen Wurf“ bezeichnet hätte. Hier prallen Welten aufeinander: Ingenieure und Politiker, die Berge versetzen möchten, und Bürger, die dieser Haltung misstrauen und am Bestand nichts ändern wollen.

Eine auf den ersten Blick ähnliche Situation ist derzeit – wenn auch in ganz anderem Maßstab – in der Kleinstadt Schwaz in Tirol zu beobachten. Auch hier haben tatkräftige Männer einen großen Wurf vor: Der langjährige Bürgermeister Hans Lintner und der einflussreiche ortsansässige Unternehmer Günther Berghofer träumen von einem innerstädtischen Einkaufszentrum, den Stadtgalerien. Das Grundstück dafür liegt am Rand der Altstadt, direkt am Inn, auf dem Gelände der ehemaligen Tabakfabrik, eines denkmalwürdigen Industriebaus, der 2007 praktisch über Nacht abgerissen wurde.

Wie es sich für tatkräftige Männer gehört, mussten sich der Bürgermeister und der Financier erst zusammenraufen: Geplant war zuerst ein multifunktionales Zentrum mit Wohnungen, Büros, Hotel und einem Stadtsaal als Ergänzung zur Shoppingmall. Hotel und Wohnungen mussten fast vollständig Geschäften weichen, und der Stadtsaal wurde schließlich – nicht gerade bürgernah – ins zweite Obergeschoß verdrängt, wo er den Umsatz nicht stört. Wie schlecht dieses Projekt tatsächlich ist, wissen die meisten Bürger von Schwaz erst seit vergangenem Dienstag, an dem eine offizielle Vorstellung stattfand. Einer „ergebnisoffenen“ Diskussion hat diese Veranstaltung nicht gedient: Tatsächlich wurden die Bauarbeiten bereits vor zwei Wochen mit dem Aushub des Kellergeschoßes begonnen, wobei die fast vollständige Fällung der imposanten Kastanienallee, die das Grundstück am Inn begleitet, den Auftakt bildete.

Natürlich sind alle Pläne vom Bürgermeister als erster Bauinstanz bewilligt. Selbst der von den Grünen gestellte Umweltreferent steht hinter dem Projekt, Alleefällung inklusive. Dass die Pläne nie an die Öffentlichkeit gelangten, liegt daran, dass sich die angrenzenden Grundstücke im Gemeindeeigentum befinden und daher nur wenige Anrainer außer der Gemeinde selbst Parteienstellung im Bewilligungsverfahren hatten. Einer Umweltverträglichkeitsprüfung entzog sich die Gemeinde elegant, indem sie auf die an sich sinnvolle und ursprünglich geplante Verbindung der neuen Tiefgarage mit einer bestehenden verzichtete, womit die Anzahl der Stellplätze unter der kritischen Größe blieb.

Schon 2007 hatte es einen geladenen Architekturwettbewerb für das ursprüngliche Raumprogramm gegeben, den die Architekten Henke und Schreieck gewannen. Man muss das damalige Wettbewerbsergebnis mit dem aktuellen Stand vergleichen, um zu erkennen, welche Chance hier verschenkt wird: Aus einer gegliederten Bebauung mit viel Luftraum und Terrassen ist ein ungeschlachter Fremdkörper geworden, der rücksichtslos alle Reserven aus dem Grundstück quetscht. Der Vorplatz, von dem aus Außentreppen zum Stadtsaal führen, liegt beschattet an der Nordseite, während Henke und Schreick für den Platz eine südwestseitige, zum Inn hin offene Terrasse vorgesehen hatten. Von der offenen Passage im Inneren sind nur ein paar Lichtschächte geblieben, und dass die Alleebäume im damaligen Wettbewerb nicht angetastet werden durften, versteht sich fast von selbst.

Als Henke und Schreick im Herbst 2008 ausgebootet wurden, um einem Wiener Spezialisten für Shoppingmalls Platz zu machen, konnte man den Beitrag, der hier im „Spectrum“ das Geschehen kommentierte, noch unter den Titel „Wenn Stümper Städte planen“ stellen. Stümperei trifft den Sachverhalt heute nicht mehr. Die politischen Akteure bewegen sich hart am Rande des Amtsmissbrauchs. Sie sollten zur Einschätzung der Lage nicht nur nach Stuttgart blicken: Im Vergleich zu den Schwazer Stadtgalerien ist das dortige Bahnhofsprojekt ein Musterbeispiel an Transparenz.

Viel eher entspricht die Schwazer Provinzkomödie mit tragischem Ausgang den Vorgängen um den Wiener Riesenradplatz, wo aus einer ähnlich überheblichen Haltung heraus alle Warnungen von Fachleuten und die Kritik von Bürgern ignoriert wurden. Hier wie dort gab es Versuche, durch unsauber abgewickelte Wettbewerbsverfahren die eigentlichen Absichten zu verschleiern. In Wien war das Projekt letztlich mitverantwortlich dafür, dass die Wiener vergangenen Sonntag der SPÖ nicht mehr die alleinige Verantwortung für ihre Stadt übertragen wollten. Auf die Pointe des Schwanks von Schwaz darf man gespannt sein.

4. September 2010 Spectrum

Steine im Glashaus

Ein großes Haus des Lernens: Die neue Krankenpflegeschule im Kaiser-Franz-Josef-Spital von Andreas Lichtblau und Susanna Wagner beweist, dass Offenheit und Sicherheit kein Widerspruch sein müssen.

Das Kaiser-Franz-Josef-Spital im zehnten Wiener Gemeindebezirk, das seit einigen Jahren unter dem Namen „Sozialmedizinisches Zentrum Wien Süd“ firmiert, ist ein klassisches Pavillonkrankenhaus, ein Anlage mit großem Park und zahlreichen frei stehenden Gebäuden. Dieser Typus des Krankenhauses ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die auf einem Irrtum beruht: In der Annahme, dass Erreger vor allem über die Luft übertragen würden, rückte man die Abteilungen der Krankenhäuser auseinander, um eine möglichst große Durchlüftung zu erreichen, und nahm dafür den praktischen Nachteil langer Wege im Freien in Kauf.

Dass Ignaz Semmelweis schon in den 1840er-Jahren nachweisen konnte, dass Krankheiten im wörtlichen Sinn auf Händen von einer Abteilung in die nächste getragen wurden, blieb lange heftig umstritten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass hygienische Maßnahmen wie Desinfektion und Sterilisation ausreichen, um die Übertragung von Keimen zu verhindern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwand der Typus des Pavillonkrankenhauses zugunsten kompakter Lösungen, zuerst in England und etwas später auch im deutschen Sprachraum.

Wie viele Irrtümer in der Architektur hatte auch dieser einen positiven Seiteneffekt: Es gibt kaum Krankenhäuser mit großzügigeren Grünräumen und Bezügen nach außen als die alten Pavillonspitäler, obwohl man den Außenräumen anmerkt, dass sie nie als schöne Gärten, sondern als hygienisches Abstandsgrün gedacht waren. Das Kaiser-Franz-Josef-Spital ist da keine Ausnahme, auch wenn die Pavillons im Lauf der Jahre auf Kosten des Grünraums immer wieder erweitert wurden. Eine wesentliche Ergänzung der letzten Jahre war das geriatrische Zentrum nach Plänen von Anton Schweighofer, der für den Komplex auch eine neue Eingangslösung entwickelte.

Nun hat das Krankenhaus eine neue Erweiterung erfahren, diesmal für junge Menschen: Die Architekten Andreas Lichtblau und Susanna Wagner haben an der anderen Seite des Geländes eine Krankenpflegeschule entworfen, in der auf rund 6200?Quadratmetern künftig 600 Schülerinnen und Schüler eine dreijährige Ausbildung absolvieren werden. Das Gebäude liegt am Rand des Geländes an einer der meistbefahrenen Straßen Wiens, der Triester Straße. Der lange und schmale Bauplatz bedeutete, dass zu dieser Straße hin eine Front von rund 120 Metern vorzusehen war. Die naheliegende Lösung wäre, die Fassade an dieser Seite möglichst zu schließen. Allerdings ist diese Fassade zugleich die südöstliche Front des Gebäudes, und so wäre auch über den Großteil des Tages das direkte Sonnenlicht aus der Schule ausgesperrt geblieben.

Die Architekten entwickelten daher eine Lösung, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil versucht. Die Fassade zur Triester Straße ist eine durchgehende Glasfassade, eine der größten Wiens, 120 Meter lang und aufgrund des abfallenden Geländes zwischen zwölf und 16 Meter hoch. Sie wird aus knapp 200 Scheiben im liegenden Format von 1,8 mal 4,3 Metern gebildet, schwere Schallschutzgläser, die vom Straßenlärm nur noch ein fast unhörbares Rauschen in den Innenraum dringen lassen.

Hinter dieser Fassade liegt eine dreieinhalb Meter tiefe Raumschicht, die man sich als großes Regal mit eingehängten, unregelmäßig verteilt Boxen vorstellen kann, wie Edelsteine in einen Setzkasten platziert. Darin befinden sich Sanitärbereiche, kleine Gruppenräume für selbstorganisiertes Lernen sowie Pausenräume für Schüler und Lehrer. Bis auf die Sanitärräume sind diese Boxen nach oben und teilweise seitlich offen, was viel Durchblicken zwischen den Bereichen zulässt.

Hinter diesem verglasten Regal liegen als weitere lang gestreckte Raumschichten ein Erschließungsgang und dann die eigentlichen Klassenräume, die sich funktionell von normalen Schulklassen nicht unterscheiden, außer, dass in einigen von ihnen auch Krankenbetten für den praktischen Unterricht Platz finden müssen. Die Architekten haben dem Rechnung getragen, indem sie aus dem langen Baukörper einzelne Abschnitte wie Schubladen in den Innenbereich des Krankenhauses herausziehen. Während die Schule zur Triester Straße hin glatt und hermetisch wirkt, ist sie daher auf der anderen Seite plastisch gegliedert und nimmt mit den angrenzenden Pavillons einen freundschaftlichen Dialog auf.

Überhaupt ist der geschickte Umgang mit dem Kontext eine besondere Qualität des Projekts. Das abfallende Gelände haben die Architekten noch weiter modelliert und teilweise abgegraben, wodurch auch ein großer Hörsaal im Untergeschoß noch Tageslicht erhält. Die Niveausprünge des Geländes wirken bis in die Eingangshalle hinein, deren Boden als leichte Buckelfläche die unterschiedlichen Ebenen im Erdgeschoß verbindet, was punktuell höhere Aufmerksamkeit beim Gehen erfordert. Auf den Boden zu achten fällt einem angesichts dieser Eingangshalle allerdings nicht leicht. Sie ist lichtdurchflutet und erlaubt schon von außen einen Blick quer durch das Gebäude hindurch, der dann im Inneren in die Längsrichtung umgelenkt wird: ein 100 Meter langer Passagenraum, in dem die Schule als zusammenhängende Einheit erlebt werden kann.

Dass diese Einheit erlebbar bleibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Kaum ein anderer Bereich des Bauens ist von den Anforderungen des Brandschutzes derzeit so geprägt wie der Schulbau. Hier ist es in Zusammenarbeit mit den Behörden gelungen, eine Lösung zu finden, die Offenes mit Sicherheit verbindet. Im Brandfall fallen die Türen zu den drei Erschließungstreppen zu, automatisch ausfahrende Schiebewände mit eingebauten Fluchttüren trennen den Passagenraum in drei Abschnitte, und die mechanische Belüftung des Gebäudes wird so gesteuert, dass der Brandrauch auf den Gängen selbst im schlimmsten Fall eine zwei Meter hohe Luftschicht zum Flüchten übrig lässt. Die Computersimulation dieses Brandverhaltens hat sich - zur großen Erleichterung aller Beteiligten - bei einem Rauchversuch im ausgeführten Objekt bestätigt.

Dass diese Schule das Potenzial hat, ein gutes Haus des Lernens zu sein, liegt auf der Hand. Der Erfolg hängt letztlich von den Nutzern ab, die eine gewisse Toleranz brauchen werden, um die teilweise heiklen Oberflächen und nicht leicht zu reinigenden horizontalen Flächen der Boxen in den Regalen mit Gelassenheit zu betrachten. So weiß wie heute wird diese Schule in ein paar Jahren sicher nicht mehr sein. Ob Gebrauchsspuren in einem schönen Raum besser sind als sauber geputzte Tristesse, ist freilich eine Frage, auf die jede Institution selbst eine Antwort finden muss.

7. August 2010 Spectrum

Auf nach Tirol!

Innsbruck: inzwischen eine der interessantesten Architekturregionen Europas. Ein Stadtspaziergang abseits des „Goldenen Dachls“.

Dass Tirol einmal zu einer der architektonisch interessantesten Regionen Europas gehören würde, hätte vor zehn Jahren niemand gedacht. Erste Anzeichen, dass hier etwas Besonderes im Entstehen war, zeigten sich im Herbst 2002, als in Innsbruck praktisch zeitgleich die von Dominique Perrault in Zusammenarbeit mit ATP geplante Rathauspassage und die Bergisel-Schanze von Zaha Hadid eröffnet wurden. Die Innsbrucker überstanden diese Stararchitekten-Doppelattacke anstandslos und zeigten sich parteiübergreifend so begeistert, dass sie sich von Hadid gleich um viele Millionen Euro mit einem weiteren Wahrzeichen beglücken ließen, den Stationen der Hungerburgbahn, die 2007 eröffnet wurden.

Dem Phänomen der aktuellen Tiroler Architektur wird diese verkürzte Darstellung freilich nicht gerecht. Das Bemerkenswerte an der Entwicklung sind nämlich nicht die einzelnen Highlights, die sich gut auf die Titelseiten der Zeitungen bringen lassen, sondern die Dichte an Qualität, wie sie heute etwa in Innsbruck zu erleben ist. Erst wenn ambitionierte Einzelprojekte auf Rufweite miteinander ins Gespräch kommen, entsteht ein attraktiver Stadtraum, der mehr ist als die Summe seiner Teile.

Um diesen Stadtraum erfassen zu können, macht man sich am besten zu Fuß auf den Weg. Meine Routenempfehlung beginnt im Zentrum beim Stadtforum der Bank für Tirol und Vorarlberg von Heinz Tesar, einem Eckgebäude an der Gilmstraße, und endet auf der anderen Seite des Inns beim Q West an der Höttinger Au, einem noch in Bau befindlichen neuen Stadtteilzentrum mit Geschäften und Büros in den Untergeschoßen und einem Gymnasium auf dem Dach, entworfen von den Architekten Helmut Reitter und Eck & Reiter. Die sehenswerten Bauten, die sich an dieser Strecke von rund zwei Kilometer Länge finden, zeichnen sich nicht zuletzt durch öffentlich zugängliche Innenräume von besonderer Qualität aus.

Beginnen wir mit Heinz Tesars BTV-Stadtforum, dessen viergeschoßige, nach oben voneinem geblähten Betonsegel abgeschlosseneEingangshalle eine fast sakrale Atmosphäre besitzt. Schräg gegenüber in der Erlerstraße liegt der Eingang zum Kaufhaus Tyrol, das David Chipperfield im Auftrag des Projektentwicklers René Benko entworfen hat.

Dass es sich lohnt, um den besten Entwurfzu kämpfen, bestätigt sich hier eindrucksvoll. Die Aufteilung der Funktionen wird bei den umstrittenen Vorprojekten nicht anders gewesen sein, Chipperfield hat daraus Architektur gemacht, eine logische und räumlicheEinheit, die sich meilenweit über das allgemeine Niveau bei dieser Aufgabe erhebt. Museumsatmosphäre ist dabei zum Glück keineentstanden: Das Tyrol ist der perfekte „ThirdPlace“ fürs entspannte Shoppen. Bei einer Rolltreppenfahrt durch die zentrale Halle kannman die raffinierte Wegführung und Staffelung der Räume nach oben bewundern.

Der Haupteingang des Tyrol führt auf die Maria-Theresien-Straße, auf der gerade die Neugestaltung der Fußgängerzone nach Plänen der Architektengruppe awg – ein Akronym für „Alles wird gut“ – abgeschlossenwurde. Auf das W-Profil der Straße hatten die Architekten keinen Einfluss, auch nicht auf die Unsitte, den Straßenraum mittig mit Schanigärten zu verstellen. Immerhin gibt es sehenswerte Bronzekandelaber und eine brauchbare Stadtmöblierung.

Überquert man die Straße, gelangt man nach ein paar Schritten zum nächsten überdachen Raum, der Perraultschen Rathauspassage. Vom Tyrol verdorben, wird man die Mall hier etwas weniger beeindruckend finden als bei früheren Besuchen, aber der Turm des Rathauses mit den von Peter Kogler gestalteten Glasflächen kann immer noch überzeugen, wie überhaupt die Funktionsmischung von kommerziellen und kommunalen Flächen, die hier auch außerhalb der Amtsstunden für Leben sorgt.

Nimmt man von hier aus den linken Ausgang Richtung Anichstraße, erreicht man nach einigen Minuten einen Ort, den man in dieser Reihe eher nicht vermuten würde, das Medizinzentrum in der Anichstraße, entworfen von Michael Loudon und Josef Habeler. Bereits 2001 eröffnet, steht es den oben den genannten Projekten architektonisch nicht nach, angesichts der Aufgabe, 40.000 Quadratmeter Krankenhausfläche in die Stadt zu implantieren, eine besondere Leistung. Auchhier bestechen die Innenräume, von der Eingangshalle mit ihrem gedämpften, über zwei Höfe einfallenden Licht bis zu den Stationsgängen mit Blick auf die Berge.

Das Medizinzentrum ist gewissermaßen der Fels, an dem der Strom der Anichstraße Richtung Inn zur Universitätsbrücke gelenkt wird. Hier befindet sich linker Hand die gerade eröffnete neue Universitäts- und Landesbibliothek der Architekten Eck & Reiter, gemeinsam mit Dieter Rossmann. (Genau: Das sind dieselben Eck&Reiter wie oben, diesmal in anderer Kombination. Die Fähigkeit zu projektweise wechselnden Partnerschaften scheint eine der Qualitäten der jüngeren Tiroler Architektengeneration zu sein). Aus einem Abstandsgrün wurde hier eine raffinierte, schwellenlose Verbindung von Universität und Stadt geschaffen.

Überquert man die Brücke, trifft man linker Hand auf ein Wohnhaus der Architekten Manzl, Ritsch und Sandner, der letztes Jahr fertiggestellt wurde. Es enthält vor allem Kleinwohnungen, die in der Regel als Geldanlage erworben und vermietet werden. Dass für diese triviale Aufgabe ein so beachtliches Projekt entstehen konnte, verdankt sich dem Architekturwettbewerb, zu dem der Bauherr sich verpflichten musste, um die nötigen Änderungen am Bebauungsplan zu erhalten. Auch hier besteht eine besondere Qualität in einem öffentlich zugänglichen Binnenraum, dem mit Holzlatten verkleideten Innenhof.

Wer durch diesen Hof auf die andere Seite schlüpft, erreicht nach wenigen Gehminuten das Bischof-Paulus-Studentenheim von Johannes Wiesflecker, zwei schwebende Schatzkisten, die das Thema der Verbindung von halböffentlichen und privaten Flächen ein wenig verspielt ausloten. Ab Herbst wird man diesen Spaziergang mit einem Besuch im Q West abschließen und erforschen können, wie gut sich die Kombination von Schule und Shopping bewährt.

Ganz gleich, wie das Ergebnis ausfällt: Den Innsbruckern ist es gelungen, ihre Stadt zum Projekt zu machen und eine architektonische Kultur zu entwickeln, die vorbildlich ist. Bürgermeister und Beamte von Eisenstadt westwärts: Auf nach Tirol.

10. Juli 2010 Spectrum

Kultur des Sprudelns

Das Schloss Belvedere und seine Gärten gehörten schon immer zu den schönsten Orten Wiens. Seit die Brunnen des Prinzen Eugen saniert und wieder in Betrieb sind, lohnt sich ein Besuch doppelt.

Letztlich gehorcht alles in der Architektur den Gesetzen der Schwerkraft. Häuser stehen, weil sie ihre Lasten über Balken und Säulen ins Fundament abtragen. Die Fachgebiete, die sich mit diesem Thema befassen, heißen im Bauwesen bezeichnenderweise Statik und Festigkeitslehre: Architektur soll sich nicht bewegen und daher aus möglichst festen Baustoffen bestehen.

Es gibt allerdings eine leichtlebigere Schwester der Baukunst, die zwar auch den Gesetzen der Schwerkraft gehorcht, allerdings nicht jenen von Statik und Festigkeitslehre. Als „schöne Wasserleitungskunst“ ist sie etwa von Arthur Schopenhauer auf eine Stufe mit der Baukunst gestellt worden. So wie deren „Werke die Ideen der starren Materie entfalten“, würde jene durch „schäumend und brausend über Felsen stürzende Wasserfälle, still zerstäubende Katarakte, als hohe Wassersäulen emporstrebende Springbrunnen und klar spiegelnde Seen die Ideen der flüssigen schweren Materie offenbaren“.

Das Ansehen der „schönen Wasserleitungskunst“ war freilich schon zu Schopenhauers Zeiten eher gering. Sein 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Ingenieure, die Brunnen bestenfalls als dekorativen Abschluss zu nützlicheren Werken der Wasserleitungskunst betrachteten. Springbrunnen und andere Wasserspiele gelten bis heute als Spielerei, mit der sich ernst zu nehmende Architekten besser nicht befassen. Die tanzenden Fontänen vor dem Hotel Bellagio in Las Vegas haben es zwar zu einer schönen Nebenrolle in Steven Soderberghs Film „Ocean's Eleven“ gebracht, aber wer möchte schon als Baukünstler mit solchem Kitsch in Verbindung gebracht werden?

Weniger Berührungsangst hat in dieser Hinsicht die bildende Kunst. In Olafur Eliassons Arbeiten finden sich viele Beispiele für einen Umgang mit flüssigen und auch gasförmigen Materien, die als Wasserschleier und Nebelvorhänge raumbildend sind. Die Künstlergruppe Gelitin schuf 2000 für die Gemeinde Staatz einen „Schlürfbrunnen“, der die Gesetze der „schönen Wasserleitungskunst“ umkehrte und Wasser nicht nach oben schäumen ließ, sondern laut schmatzend über eine trichterförmige Vertiefung im Boden zurück in die Erde saugte. Ebenfalls von Gelitin stammt auch der letzte Brunnen, der in Österreich für Furore sorgte: 2003 entstand er in Salzburg als temporäre Installation auf dem Max-Reinhardt-Platz unter dem Namen „Arc de Triomphe“, eine kleine, in einen Plastilinriesen eingebaute Fontäne, die aus dessen Mitte zurück in die Mundöffnung spritzte. Die deutlich sichtbare Erregung der Skulptur löste eine ebensolche öffentliche aus und hätte die damalige Direktorin des Museums der Moderne Salzburg beinahe ihr Amt gekostet.

Die großen Zeiten der „schönen Wasserleitungskunst“ liegen jedenfalls schon einige Jahrhunderte zurück. Im Barock war sie integraler Teil der künstlerischen Großunternehmungen, mit denen sich die Könige und Fürsten Europas in ihren Schlossanlagen gegenseitig zu übertreffen suchten. Das Wiener Belvedere, nach Plänen von Johann Lukas von Hildebrandt zu Beginn des 18. Jahrhunderts für den Prinzen Eugen von Savoyen erbaut, gehört zu den großartigsten Beiträgen in diesem Wettbewerb, der nicht zwischen Nationen, sondern letztlich zwischen architekturverrückten Einzelpersonen ausgetragen wurde. Exakt zeitgleich mit dem Belvedere entstand etwa in St. Petersburg die Sommerresidenz Peters des Großen mit gigantischen Wasserkaskaden, Grotten und einem 400 Meter langen Stichkanal zum Meer, auf dem sich Besucher in Barken dem Schloss näherten. – Das Belvedere in Wien ist in den Ausmaßen bescheidener, in der feinen Abstimmung zwischen Gebäuden, Gärten, Skulpturen und Wasserkunst aber unübertroffen.

Ursprünglich sollte das Untere Belvedere, zwischen 1714 und 1716 errichtet, das Hauptgebäude der Anlage werden, während das Obere Belvedere nur als Abschlusspavillon des Gartens gedacht war. Die ab 1717 bis 1723 ausgeführte Lösung für das Obere Belvedere kehrte die Verhältnisse um und machte auch eine Umplanung des Gartens erforderlich, der zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon mit einer Grotte im Zentrum ausgestattet war. Prinz Eugen lieh sich von einem befreundeten Regenten, dem Kurfürsten Max Emanuel von Bayern, den Gartenarchitekten Dominique Girard aus, deram Nymphenburger Schlosspark als maître fontainier wirkte, zwischen 1717 und 1722 mehrmals in Wien war und mit Lukas von Hildebrandt an den Entwürfen arbeitete.

Auch wer das Belvedere schon seit Jahren kennt, wird überrascht sein, wenn er heute den Park zu den Betriebszeiten der Brunnenanlagen (10–12 und 14–17 Uhr) betritt. Die Fontänen des Kaskadenbrunnens sind tatsächlich Architektur aus Wasser, schaumige Säulen und Bögen, die aus dem nassen „Fundament“ der Wasserflächen in der Kaskade und aus den Skulpturen hervorsprudeln. Gartenhistoriker interpretieren diese Kaskade als den Übergangspunkt, an dem das dionysische Thema des Parks kulminiert und sich mit dem apollinischen Thema im oberen Bereich verschränkt. Dieser Themenwechsel ist auch in der Bepflanzung markiert, die mit üppigen begrünten und beschatteten Bereichen vor dem unteren Belvedere beginnt und unmittelbar vor dem Schloss in einer streng ornamentierten Kieslandschaft endet.

Dass dieser Park heute wieder weitgehend erlebbar ist wie zur Zeit seiner Entstehung, ist ein Glücksfall. Die Grundlage für die Rekonstruktion der Gartenanlagen bildete ein Parkpflegewerk, das 1991 von den Landschaftsarchitekten Maria Auböck und János Kárász im Auftrag der Bundesgärten erstellt wurde. Die Brunnen selbst ressortieren zur Burghauptmannschaft der Hofburg und damit zum Wirtschaftsministerium, das die seit 2005 laufende Sanierung finanziert, deren Nettobaukosten sich auf stolze 7,7 Millionen Euro belaufen. Betreut hat die Sanierung dasBüro von Architekt Manfred Wehdorn, dem es gelungen ist, auch viel von der ursprünglichen Bautechnik zu rekonstruieren. Die Wasserspiele selbst werden heute allerdings über Pumpen betrieben. Zu Prinz Eugens Zeiten kam der Wasserdruck aus dem großenBecken an der anderen Seite des Schlosses, das derzeit noch restauriert wird.

Die Besucherströme, die sich täglich erwartungsvoll vor dem Einschalten der Brunnen im Park einfinden, beweisen jedenfalls das ungebrochene Interesse des Publikums an der „schönen Wasserleitungskunst“ und damit auch am zwecklos Schönen. Spielraumdafür würde man sich auch an anderen Orten wünschen. Und die Bauherren, Künstler und Architekten, die ihn zu nutzen wissen.

12. Juni 2010 Spectrum

Autonomie und Inbrunst

Vom Anspruch, Erfinder der Architektur zu sein: über eine Konferenz „in Abwesenheit von Raimund Abraham“ und eine Ausstellung auf der Suche nach neuen Grenzen.

Im März dieses Jahres ist der Architekt Raimund Abraham im Alter von 76 Jahren in Los Angeles bei einem Autounfall ums Leben gekommen, auf dem Heimweg von einem Vortrag, den er als Gastprofessor am Southern California Institute of Architecture gehalten hatte. Man habe, so erklärte dessen Direktor Eric Owen Moss, mit Abraham einen„unersetzlichen, einzigartigen und kraftvollen Fürsprecher der Architektur“ verloren. Sein gebautes Werk ist vergleichsweise schmal: ein Stadthaus in Berlin, ein Teil einerkompakten Reihenhaussiedlung in Wien-Inzersdorf, eine Bankfiliale in seiner Heimatstadt Lienz in Osttirol. Sein bekanntester Bau ist das Österreichische Kulturinstitut in New York, das der Architekturkritiker Kenneth Frampton bei der Eröffnung 2001 als das „signifikanteste Beispiel moderner Architektur“ bezeichnete, das in New York „seit dem Seagram Building und dem Guggenheim Museum errichtet wurde“.

An diesem Wochenende veranstalten das Museum für angewandte Kunst und die Universität für angewandte Kunst eine Architekturkonferenz „in Abwesenheit von Raimund Abraham“, die in ihrem Anspruch mit einer Seligsprechung des verstorbenen Architekten zu vergleichen ist. Eröffnet wird die Konferenz mit einem Einleitungsreferat von Thom Mayne, in Österreich bekannt als Architekt der Hypo-Alpe-Adria-Zentrale in Klagenfurt. Danach erinnern sich Absolventen der „Angewandten“ in einem Podiumsgespräch an Begegnungen mit Raimund Abraham und seinen Einfluss auf ihr Denken und ihre Praxis. Die eigentliche Zeremonie findet im zweiten Teil der Veranstaltung satt. Kenneth Frampton hält eine Laudatio, Bundeskanzler Werner Faymann ist mit einem „Plädoyer für zeitgenössische Architektur“ angekündigt, und danach folgt eine Gesprächsrunde mit Vito Acconci, Peter Eisenman, Thom Mayne, Eric Owen Moss, Peter Noever, Wolf D. Prix, Lebbeus Woods sowie den Filmemachern Peter Kubelka und Jonas Mekas.

Dieses Großaufgebot an Prominenz ist nicht allein mit dem Werk Abrahams erklärbar, auch nicht mit seiner langjährigen Lehrtätigkeit am Pratt Institute und an der Cooper Union in New York. Abraham verkörperte in idealer Weise ein Architektenbild, wie es Wolf D. Prix in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des goldenen Ehrenzeichens der Stadt Wien 2005 charakterisiert hat: Abraham gehöre „zur Urgesteinsgeneration der Wiener Verweigerer“ und war „getragen vom Anspruch, Erfinder der Architektur zu sein, und ausgestattet mit dem moralischen Bewusstsein, der Beste zu sein. (?) Seine Architekturen waren Feste, manchmal brutal, manchmal hart, schwer oder einfach nur da wie die Quellenheiligtümer in Sardinien oder die schroffen Tempel in Mexiko. Abrahams Architekturen sind der Raum als Ziel.“ Dass Abraham wenig gebaut hat, liege an seiner kompromisslosen, nur diesem Ziel verpflichteten Haltung, die ihn zwangsläufig in Konflikt mit der „Bequemlichkeit der Bauherren“ gebracht hätte, deren „Ansicht von Architektur niemals Aussicht, sondern nur Einsicht in Rechnungsbücher ist.“

Dieses heroische Architektenbild ist in den 1960er-Jahren als Gegenposition zum vorherrschenden Bauwirtschaftsfunktionalismus entstanden: Architektur als absolute Form- und Raumkunst, niemandem verpflichtet außer sich selbst. Es ist kein Zufall, dass Prix Tempel und Heiligtümer als Referenzen anführt. Abraham hätte wohl noch die „Elementare Architektur“ des alpinen Raums ergänzt, deren Formen für ihn genauso absolut waren wie jene von Bergen oder Pflanzen und der er 1963 ein eigenes Buch gewidmet hat.

Wie relevant diese Vorstellung von der Architektur als autonomer Disziplin heute noch ist, wird bei dem Architekturkongress wohl kaum zur Debatte stehen, zu sehr ist das Podium mit Vertretern der Disziplin besetzt, die diese Vorstellung mit derselben Inbrunst verteidigen wie der Vatikan die unbefleckte Empfängnis. Geändert hat sich seit den 1960er-Jahren allerdings der Rahmen, in dem diese Vorstellung vertreten wird: Nach dem langen Marsch durch die Institutionen ist sie heute der akademische Standpunkt geworden, der mit entsprechendem Selbstbewusstsein vertreten wird. Zaha Hadids Antwort auf den Vorwurf eines Journalisten, dass man es „auf Ihrem Sofa Iceberg keine zehn Minuten aushält“, ist bekannt: „Da müssen Sie noch an Ihrer Sitztechnik feilen.“ Zur Aura der Autonomie gehört auch die Tendenz, Budgetüberschreitungen zur selbstverständlichen Begleiterscheinung jedes architektonischen Geniestreichs zu erklären und entsprechende Kritik gnadenlos als erbsenzählerisches Banausentum zu diffamieren.

Beide Strategien haben eine gewisse Berechtigung: Würde Architektur ausschließlich die aktuellen Bequemlichkeiten bedienen und nicht auch zu Haltungsänderungen auffordern, bliebe jede Entwicklung aus. Und der Schaden, der durch zu knappe Budgets, niedrige Qualität und Gleichgültigkeit gegenüber der Gestaltung unserer Umwelt entsteht, ist sicher um vieles größer als jener durch Budgetüberschreitungen aufgrund überspannter Ambitionen. Offen ist, von welcher Seite man diese Fragen nachhaltiger beeinflussen kann: durch Aufklärung der Bauherren und Nutzer oder durch Institutionalisierung eines architektonischen Hohepriestertums.

Wie verletzlich die letztere Strategie ist, lässt sich an einer Ausstellung ablesen, die derzeit im Zumtobel Lichtforum zu sehen ist. Kuratiert von Florian Medicus, zeigen 28 jüngere Architektenteams, Absolventen von Architekturschulen in Österreich und der Slowakei, zum überwiegenden Teil mit einem Bezug zur Angewandten, was sie als „New Frontiers“ wahrnehmen. Viele der Aussteller können wahrscheinlich besser zeichnen als Raimund Abraham und sind geschickter als Wolf D. Prix im computergestützten Generieren von Formen. Ohne den akademischen Schutzmantel wird hier aber deutlich, wie schmal der Grat zwischen gelungener Provokation und offensichtlicher Peinlichkeit, zwischen Tiefsinn und geistiger Hochstapelei ist. Der Frage, wogegen, wofür und vor allem für wen die meisten dieser Arbeiten geschaffen wurden, bleibt weitgehend unklar. In der Kunstszene würde vieles als „Schmunzelkunst“ untergehen (ein Begriff, den Hermann Czech schon vor 40 Jahren aus ähnlichem Anlass bei seinem Aufruf, Architektur als Hintergrund wirken zu lassen, geprägt hat). Trotzdem scheint in diesen Arbeiten ein Potenzial jenseits der gut einstudierten Provokationen der Väter und Überväter durch. Um dieses Potenzial herauszufordern, bräuchte es freilich etwas Unzeitgemäßes: ein Publikum, dem es wieder darauf ankommt, was gesagt beziehungsweise entworfen und gebaut wird und nicht nur von wem und wo.

8. Mai 2010 Spectrum

Eine Fahne für Österreich

Als unschlagbare Touristenfalle und nicht gerade klischeefrei präsentiert sich Österreich auf der Weltausstellung in Shanghai. Dafür mit einem hoch komplexen Pavillon, in jeder Hinsicht einprägsam.

Eines der berühmtesten Gedichte von Ernst Jandl ist der mit dem Titel „Eine Fahne für Österreich“ überschriebene Dreizeiler „rot / ich weiß / rot“. Jandl hätte sicher mehr über das Land zu sagen gehabt, aber der Dreizeiler hat ihm offenbar genügt. Das in die Landesfarben hineingeseufzte „Eh-schon-wissen“ sagt ja tatsächlich mehr über die zähflüssige Substanz der österreichischen Seele aus als viele wortreiche Analysen.

Die Präsentation eines Landes bei einer Weltausstellung ist im Idealfall genauso simpel und zugleich abgründig wie dieses Gedicht. Mehr als eine einfache Aussage hat imallgemeinen Rauschen einer solchen Veranstaltung nicht Platz, und trotzdem muss sie genug Tiefgang haben, um den Besuchern nachhaltig in Erinnerung zu bleiben.

Was Österreich auf der am 1. Mai eröffneten Weltausstellung in Shanghai mit seinem Pavillon zustande gebracht hat, kommt diesem Ideal ziemlich nahe. Zwar triefen die gezeigten Inhalte so von Klischees, dass es beinahe weh tut: „Feel the Harmony“, lautet das Motto, und wer auf der Website einen virtuellen Rundgang unternimmt, begegnet einer Sennerin im Designerdirndl und Mozart vor einer Seenlandschaft mit Bergkulisse. Auch im realen Pavillon verlässt sich das Ausstellungskonzept vor allem auf Projektionen undSoundscapes, die sich kräftig aus dem Fundus der Tourismuswerbung bedienen.

Eingebettet sind diese Inhalte allerdings in ein in jeder Hinsicht einprägsames Objekt, das trotz seiner organischen Konturen mit dem Kürzel „Blob“ nur unzureichend beschrieben ist. Tatsächlich liegt dem von der Gruppe SPAN konzipierten und zusammen mit dem Architekten Arkan Zeytinoglou umgesetzten Pavillon eine komplexe, am Computer entwickelte Geometrie zugrunde, die nicht durch „Aufblasen“ und Anschneiden einer Grundform entstanden ist, sondern durch bruchlose Verformung. Der wissenschaftliche Hintergrund dafür ist die Topologie, ein Teilgebiet der Mathematik, unter dessen Blickwinkel scheinbar unterschiedliche Körper als verwandt identifiziert werden, weil sich ihre Formen kontinuierlich ineinander überführen lassen. Der Entwurfsprozess für den Pavillon in Shanghai lässt sich mit einem Trick vergleichen, bei dem zuerst eine Seifenblase in Schachtelform in die Luft gezaubert wird und danach Löcher in diese Schachtel geblasen werden, die in ihrem Inneren zu Hohlräumen verschmelzen.

Sandra Manninger und Matias del Campo, die 2003 das SPAN-Team gegründet haben, befassen sich seit vielen Jahren mit der Benutzung solcher Verfahren für die Herstellung architektonischer Formen. Die mathematischen Modelle und die Computerprogramme dafür haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Man muss sie freilich auch benutzen können. Beim Österreich-Pavillon ist SPAN dabei ein bemerkenswerter Qualitätssprung gelungen, gewissermaßen von Luigi Colani zu Friedrich Kiesler, dessen „Endless House“ immer noch die Sehnsuchtsfigur aller Architekten darstellt, die von der Auflösung von Wänden und Decken in eine kontinuierliche Raumhülle träumen.

Das Ergebnis ist nicht nur ein schönes Objekt, sondern vor allem eine gelungene Verbindung von Raum, Form und Bewegung.Denn der Weg, den die Besucher durch den Pavillon nehmen, hat – gewissermaßen als Leitlinie für die Verformung der Schachtel – die Raumhülle geformt. Er führt zuerst über eine lange Rampe auf das Niveau von 1,5 Metern und von dort in einer S-Schleife wieder abwärts ins zentrale Auditorium. Hierkommt ein zweiter Aspekt des Entwurfs zumTragen: Ursprünglich hatten die Architekten ihr Projekt unter dem Titel „Topology of Sound“ zum Wettbewerb eingereicht und dieGeometrie des Hauptsaals als Verräumlichung von Schallwellen konzipiert. So folgenDecke und Boden des Raums, in dem sich bis zu 300 Menschen aufhalten können, einerleichten, wellenförmigen Bewegung. Hier werden die Besucher mit einem Mix aus Klassik, Pop und elektronischer Musik beschallt und mit Projektionen zu den Themen Berge, Wald, Wasser und Stadt süchtig nach den Schönheiten Österreichs gemacht.

Nach Verlassen des Saals verzweigt sich der Weg, entweder ins Freie oder ins Obergeschoß, wo sich ein Restaurant mit Innenhof befindet, der sich zu einem begehrten Ruhepol in der Hektik der EXPO entwickeln wird. Auch im Restaurant folgt die Geometrie dem Prinzip kontinuierlicher Übergänge. Säulen gibt es nicht, und wo sie statisch notwendig wären, stützt sich einfach die Decke in einer eleganten Bewegung auf dem Boden ab.

Zumindest scheint es so, denn im Inneren der so entstehenden Stalaktiten befinden sichnach wie vor Stahlsäulen, wie überhaupt die kontinuierliche Geometrie nur eine Hülle um ein konventionelles Tragwerk darstellt. Obwohl auch für die Herstellung dieser Hülle computergesteuerte Produktionsverfahrenzum Einsatz kommen, bleibt zwischen der digitalen Welt des Entwurfs und jener der Produktion eine Lücke, die sich vielleicht in Zukunft durch neue Materialien und Bautechniken schließen wird. Beeindruckend istdie von der chinesischen Tochterfirma der Alpine-Mayereder errichtete Konstruktion allemal. Die Geometrie wurde in mehreren Ausbaustufen approximiert: zuerst grob über das Stahltragwerk der Primärkonstruktion, dann mit Stahllamellen, die von rechnergesteuerten Maschinen gebogen wurden, und schließlich mit einer Haut aus gelochten Faserzementplatten, die ebenfalls rechnergesteuert zugeschnitten und über die Lamellen gebogen wurden. Die glänzende Außenschicht besteht aus sechseckigen Keramikplättchen, deren Farbgebung den Baukörper in einem rot-weiß-roten Muster akzentuiert: eine Fahne für Österreich, vielleicht nicht so minimalistisch wie Ernst Jandls Gedicht, aber ähnlich einprägsam.

Im Nationenvergleich behauptet sich der österreichische Pavillon gut. Der deutsche sieht ein wenig aus, als hätte man Coop Himmelb(l)au einen Praktikanten abgeworben und dessen Entwurf mit Waren aller Art vollgestopft. Mehr Mut zur Ironie als Österreich – und mehr Nähe zum Thema der EXPO, „Better City, better Life“ – beweisen die Niederländer mit ihrer „Happy Street“, einer in der Luft schwebenden Achterschleife mit Miniaturhäusern aller Stilrichtungen. Auch Dänemark zeigt mehr Witz, indem es das Original der „Kleinen Meerjungfrau“ in einer Raumschleife von Radfahrern umkreisen lässt und die Chinesen so an ihr früheres ökologisches Hauptverkehrsmittel erinnern will.

Als Touristenfalle ist Österreichs Pavillon aber unschlagbar. Und wir dürfen uns damit trösten, dass „Sinne im Gleichklang“ – so der übersetzte Titel unseres Beitrags – als Kennzeichnung Österreichs nur eine höhere Form der Ironie darstellt.

17. April 2010 Spectrum

Lernen im fliegenden Teppich

Ein Gebäude wie eine Dünenlandschaft, ein Innenraum, der nicht durch Wände gegliedert ist: das Rolex Learning Center in Lausanne. Eine Meisterleistung, in der die Benutzer zu Wanderern und Entdeckern werden.

Als Kazuo Sejima, die Direktorin der heurigen Architekturbiennale in Venedig, im Jänner das Thema dieser architektonischen Großveranstaltung bekannt gab, war die Architekturszene einigermaßen verdutzt. „People meet in architecture“ – ist das nicht das banalste Motto, unter dem die Biennale je gestanden hat? Jedenfalls besaßen frühere Biennalen eindeutig mehr Zug ins Utopische: Aaron Betskys „Out there – Architecture beyond building“ 2008, Kurt W. Forsters „Metamorph“ 2004, Deyan Sudjic' „Next“ 2002, Hans Holleins „Sensing the Future – The Architect as Seismograph“ 1996. Immer ging es um die Zukunft, um die Überform, um den nächsten Trend.

Und jetzt plötzlich dieser Aussagesatz: „People meet in architecture.“ Auch die Erklärung, die Sejima in ihrem Pressestatement zu ihrem Konzept liefert, klingt nicht gerade weltbewegend: „Die Idee ist, Menschen zu helfen, eine Beziehung zur Architektur aufzubauen, der Architektur zu helfen, sich auf Menschen zu beziehen, und Menschen zu helfen, Beziehungen untereinander aufzubauen.“

Sejima ist die erste Frau als Direktorin der Biennale und – nach einer Reihe von Theoretikern und Kritikern – wieder eine praktizierende Architektin. Dass sie mit ihrem Thema eine gezielte Herausforderung der männlichen Seismografen und Trendsetter beabsichtigt, darf man mit einigem Recht vermuten, hat sie doch alle früheren Direktoren der Biennale eingeladen, für je einen „Architektursamstag“ zur Verfügung zu stehen. Bei Vorträgen und Diskussionen werden die Herren dabei gewissermaßen selbst zu Ausstellungsstücken.

Dass man eine solche Einladung von Kazuo Sejima nicht ausschlagen kann, ist spätestens seit Ende März klar, als sie gemeinsam mit ihrem Partner Ryue Nishizawa, mit dem sie seit 1995 ein gemeinsames Büro unter dem Namen Sanaa (Sejima and Nishizawa and Associates) betreibt, den Pritzker-Preis zugesprochen bekam, quasi den Nobelpreis für Architektur. Die Jury begründete ihre Entscheidung unter anderem damit, Sejima und Nishizawa seien „cerebral architects“, also Architekten mit Hirn. Das ist auf den ersten Blick etwas überraschend, gibt es doch von den beiden Architekten so gut wie keine theoretischen Äußerungen. Dennoch widerlegen Sanaa die verbreitete Meinung, gute Architektur sei eine Sache des Bauchgefühls. Ihre Projekte sind – wiederum ein Zitat aus der Jurybegründung – „das Ergebnis strenger Recherche und starker, klar ausformulierter Konzepte“. Dass diese Konzepte nicht als Text entwickelt werden, sondern in Dutzenden von Modellstudien und Varianten, macht sie nicht weniger „cerebral“, sie folgen aber ihrer eigenen, jeweils aufs Projekt zugeschnittenen Logik.

In ihrer bisherigen Entwicklung hat Sejimaeinige erstaunliche Wendungen genommen. Noch Anfang der 1990er-Jahre konstatierte ihr Mentor Toyo Ito angesichts eines ihrer Projekte, des Frauenwohnheims in Kumamoto, ihre Architektur sei „ein Diagramm des Lebensstils unserer modernen Zeiten“. Das Wohnheim inszeniert die Widersprüche dieses Lebensstils: Japanische Dichte und der Mangel an individuellem Freiraum im Grundriss des Wohngeschoßes werden in Kontrast gesetzt zu einem luftigen „Überbau“, großzügig in der Vertikalen und differenziert im Raumzuschnitt. In späteren Projekten, etwa ihrem 1994 entworfenen Wohnbau in Gifu, dem Projekt, mit dem Sejima internationale Bekanntheit erlangte, verschwinden alle Polaritäten in einer Großform, deren Feingliederung jedoch durch die raffinierte Zusammenschaltung identischer Grundelemente eine enorme Bandbreite an Wohnformen anbietet.

Heute lässt sich die Architektur von Sejimaund Nishizawa nicht mehr als Diagramm vonLebensstilen interpretieren. Sie ist zu einem Medium geworden, das vieles offen lässt unddamit zu Experimenten herausfordert, an deren Ende vielleicht geänderte Lebensstile stehen. Ein exemplarisches Projekt in dieser Hinsicht ist das Anfang des Jahres eröffnete Rolex Learning Center der École Polytechnique im Schweizerischen Lausanne, für das Sanaa 2004 den Wettbewerb gewannen. Sie setzten sich dabei gegen Rem Koolhaas, ZahaHadid und Herzog & De Meuron durch, derenBeiträge ausnahmslos als Wahrzeichen konzipiert waren, als weithin sichtbare Großskulpturen mit komplexen Innenwelten für das geforderte Raumprogramm: eine Bibliothek mit Arbeitsplätzen für knapp 900 Studierende, ein Auditorium für 600 Personen, Café und Restaurant, Seminarräume, eine Buchhandlung und ein Forschungszentrum für neue Medien in der Lehre.

Statt in die Vertikale zu gehen, haben Sanaa alle diese Funktionen auf einer einzigen Fläche untergebracht, die das gesamt Grundstück überdeckt, ein Rechteck im Ausmaß von 166 mal 122 Metern, so groß wie drei Fußballfelder, durchbrochen von runden Lichthöfen. Allerdings ist diese Fläche nicht eben, sondern wie eine leicht gewellte Hügellandschaft angelegt, wodurch der Eindruck eines fliegenden Teppichs entsteht, in und unter dem sich die Nutzer des Gebäudes frei bewegen können. Wo der Teppich vom Boden abhebt, entstehen Durchgänge zu den Lichthöfen, von denen aus das Gebäude betreten wird.

Der Innenraum wird nicht durch Wände gegliedert, sondern durch die Topografie mit ihren Hoch- und Tiefpunkten. Selbst das Auditorium ist ein Teil dieser Dünenlandschaft, kann allerdings mit einer mobilen Trennwand geschlossen werden. Technisch ist das Bauwerk eine Meisterleistung, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, was es alles nicht gibt: keine Rasterdecke mit Leuchtstoffröhren, keine Brandschutzwände, keine Sprinkleranlage. Die Benutzer werden in diesem Bau zu Wanderern und Entdeckern. Wo der Hügel zu steil wird, gibt es Aufstiegshilfen, die alle Bereiche auch barrierefrei erschließen.

Der Eindruck dieser offenen Lernlandschaft wirkt wie ein Kommentar zu Sejimas Biennale-Thema „People meet in architecture“. Dieser Raum ist ein Katalysator für Beziehungen, ohne sie zu erzwingen. Er schafft eine gemeinsame Welt, die aber nichtvereinheitlicht, sondern zur Differenzierung geradezu einlädt. Vielleicht muss man Sejimas Satz nur ein wenig anders lesen, damit er an Sprengkraft gewinnt: „Wo Menschen sich begegnen, dort ist Architektur“ Man wird bei der Biennale diskutieren können, ob man mit dieser Definition weiter kommt als mit der Anbetung der spektakulären Form. Wenn sich diese Definition durchsetzt, ist Sanaa mit dem Rolex Learning Center jedenfalls ein Meilenstein in der Architektur der 21. Jahrhunderts gelungen.

20. März 2010 Spectrum

Wien spielt

Eine Stadtbahn-Überbauung, eine Gürtelspange und eine Holzbrücke: Die Stadt Wien begibt sich am Gürtel in eine Spektakelwelt, in der sie nicht wirklich zu Hause ist. Ein Projekt von Studierenden der Universität für angewandte Kunst versucht, andere Wege zu gehen.

Echte Großstädte brauchen keine Spektakel, sie sind selbst eines. Zumindest gab es Zeiten, in denen niemand auf die Idee gekommen wäre, durch „Installationen im öffentlichen Raum“ ein bisschen Leben in den grauen Stadtalltag zu bringen. Der 1927 entstandene Film „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ feierte in einer Abfolge von schnell wechselnden Einstellungen den pulsierenden Rhythmus des Stadtlebens, die Menschenströme und die Technik, die dieses Leben erst ermöglicht. An die Stadt als Großereignis wird man derzeit auch gleich zu Beginn einer Ausstellung im Wiener Theatermuseum erinnert, die Gustav Mahler gewidmet ist: „Mahlers Wien“ heißt eine Montage aus Fotos und Filmsequenzen aus den Jahren, die der Komponist in Wien verbracht hat, und sie zeigt eine Stadt im Aufbruch, die sich ihre Vorstädte einverleibt, das Wiental überbaut und mit der Stadtbahn als größtem zusammenhängenden Bauwerk der Stadt eine völlig neue funktionale Geografie für die erwartete Bevölkerungszahl von über zwei Millionen Bewohnern schafft.

Die Zeiten haben sich geändert. Während es früher als Zeichen der Provinz galt, sich in Szene setzen zu müssen, hat das installierte Spektakel inzwischen sogar Metropolen wie New York erreicht. 2008 inszenierte Olafur Eliasson dort die „New York City Waterfalls“, nachts beleuchtete Wasserfälle, die an mehreren Stellen, unter anderem unter der Brooklyn Bridge, in den East River stürzten. Wie es sich für ein richtiges Spektakel gehört, verschlang es die Summe von 15,5 Millionen Dollar und war nach ein paar Monaten Erinnerung, allerdings eine nachhaltige.

Auch kleine Großstädte wie Wien können da nicht nachstehen, und so wurden diese Woche von Planungsstadtrat Rudi Schicker einige neue Überlegungen für den Wiener Gürtel präsentiert, die – so die Presseaussendung – „ab 2012 realisiert werden könnten“. Dass hier im anlaufenden Wiener Wahlkampf eine bestimmte Zielgruppe versorgt wird, so wie anderen Zielgruppen Ordnung und Hausmeister im Gemeindebau versprochen werden, gehört zum politischen Geschäft. Trotzdem sind die Projekte symptomatisch für den geänderten Umgang mit dem Stadtraum.

Die Rückeroberung des Gürtels für die Wiener Bevölkerung, die Mitte der 1990er-Jahre mit einer Zielgebietsförderung der EU einsetzte, geht nun in ihre nächste Phase. Begonnen hatte sie mit einer „parasitären“ Nutzung der Stadtbahn, in deren Bögen eineneue, lebendige Lokalszene entstand. Die Architektin Silja Tillner war für das Leitprojekt verantwortlich und entwickelte unter anderem eine standardisierte Lösung für die Verglasung der Bögen. Die nächsten Meilensteine waren die Wiener Hauptbücherei, die als Überbauung der Stadtbahntrasse im Bereich des Urban-Loritz-Platzes ein mächtiges Signal setzte, und die Überdachung dieses Platzes mit Membrandächern.

Nun soll spektakelmäßig aufgerüstet werden. Drei Projekte sind derzeit in Vorbereitung. Eine Fuß- und Radwegbrücke aus Brettschichtholz am Margaretengürtel von Knippers Helbig KHing GmbH, die Überbauung der Stadtbahntrasse hinter der Hauptbücherei mit einer Spiellandschaft von Vito Acconci mit Tillner/Willinger und sogenannte Gürtelspangen in den Bereichen Thaliastraße und Währinger Straße, für die unter anderem von der Architektengruppe Heri und Salli ein Entwurf für den Bereich vor der Volksoper vorliegt. Auffällig ist bei allen drei Projekten die dekorative Erscheinung. So wirkt etwa die Gürtelspange neben Otto Wagners Brückenbauwerk, als hätte sich deren florales Dekor auf einen LSD-Trip begeben, aus dem es leider kein Erwachen gibt. Vito Acconcis Stadtbahnüberbauung scheintauf den ersten Blick ähnlichen Ursprungs zu sein, könnte aber zu einem fantastischen Raumerlebnis werden, eine Skaterbahn, die in Stahlnetzen über der U-Bahn schwebt und sicher begeisterte Nutzer finden wird. Man merkt, dass Acconci aus der Konzeptkunst kommt und als Dichter begonnen hat. Seine Produkte widersetzen sich erfolgreich dem einfachen Konsum, selbst wenn sie formal oft am höheren Kitsch anstreifen.

Die Zeiten, in denen Stadtplanung dann am besten war, wenn sie unsichtbar blieb und einfach dafür sorgte, dass der Verkehr fließt, Einkaufsstraßen nicht veröden, die Mietpreise leistbar bleiben und soziale Spannungen so weit wie möglich vermieden werden, sind offenbar vorbei. Man merkt derim Grunde an dieser klassischen Auffassung von Planung orientierten Wiener Stadtpolitik an, dass sie in der Spektakelwelt – soweit sie nicht temporäre Ereignisse wie Donauinselfeste und Eisträume betrifft – nicht wirklich zu Hause ist. Zu konzept- und zusammenhanglos stehen die Projekte nebeneinander, und keines davon ist so zwingend, dass es auf Biegen und Brechen gegen die nächste Sparrunde verteidigt würde.

Vielleicht würde es helfen, sich von weniger spektakulären Formen der Stadtgestaltung inspirieren zu lassen. Studierende der Universität für angewandte Kunst stellen derzeit ihre Arbeiten über den „15. Bezirk als Spielplatz“ im NadaLokal in der Reindorfgasse 8 aus. Hintergrund der Projekte, die von der Professorin für Architekturtheorie an der Angewandten, Liane Lefaivre, und von Niels Jonkhans betreut wurden, ist Lefaivres Forschungsarbeit über die zumindest 720 Spielplätze, die der Architekt Aldo van Eyck – einer der bedeutendsten niederländische Architekt seiner Zeit – in Amsterdam seit den 1950er-Jahren geplant hat. Nachdem die ersten dieser Plätze auf leer stehenden Bauparzellen und Verkehrsinseln errichtet worden waren, begannen die Bewohner überall solche Plätze zu fordern, und die Stadtplanung beauftragte Van Eyck über Jahrzehnte mit diesen kleinen Installationen, die nie standardisiert, sondern immer wieder neu für die jeweilige Situation entworfen wurden. Lefaivre, die zum Thema auch mehrere Bücher veröffentlicht hat, charakterisiert diese Spielplätze als polyzentrisch, partizipatorisch und eingewoben in den jeweiligen lokalen Kontext. Vielleicht wäre ein Denken in diesen Kategorien eine Alternative zu den punktuellen Kraftanstrengungen, deren Resultate in einen ansonsten weitgehend unkultivierten urbanen Raum hineinwuchern.

20. Februar 2010 Spectrum

Bauen nach Gebrüdern Grimm

Was hat ein Wiener Wohnbau mit den Bremer Stadtmusikanten zu tun? Für ihr Projekt in der Tokiostraße haben Bettina Götz und Richard Manahl, kurz Artec, Gruppen von vier unterschiedlichen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden. Vorbildlich.

In meiner Rangliste grausiger Begriffe der architektonischen Fachsprache steht der „Geschoßwohnbau“ weit oben, nur noch übertroffen von der „Nasszelle“. Er bezeichnet nicht den mehrgeschoßigen Wohnbau überhaupt, sondern jenen, in dem identische Geschoße so lange gestapelt werden, bis unter dem Strich ein satter Gewinn übrig bleibt.

Der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Geschoß“ wird man damit freilich nicht gerecht. Denn ursprünglich bezeichnet der Begriff nicht die horizontale Ebene, auf der wir wohnen, sondern das Auf- oder Hochschießen einer Konstruktion, weshalb das „Schießen“ ja auch dem Getreide oder dem Spargel erlaubt ist. (Der Begriff „Erdgeschoß“ ist daher ein Widerspruch in sich und sollte besser – wie schon Friedrich Torberg wusste – der Bezeichnung von Fliegerbomben vorbehalten bleiben).

Der neue Wohnbau, den Artec-Architekten in der Nähe der U1-Station Kagran entworfen haben, verdankt seinen Spitznamen – „Bremer Stadtmusikanten“ – dem gelungenen Versuch, den mehrgeschoßigen Wohnbau aus einer vertikalen Bewegung heraus zu entwickeln. So wie sich im Grimmschen Märchen Esel, Hund, Katze und Gockelhahn zu einem „Ungeheuer“ übereinanderstellen, um Räuber zu erschrecken, sind hier Gruppen von vier sehr unterschiedlichen, jeweils zweigeschoßigen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden, das durch eine Vielzahl von Terrassen, Höfen und öffentlichen Passagen aufgelockert ist. Ergänzt werden diese Maisonetten durch einen Trakt mit eingeschoßigen Wohnungen, denen jeweils eine zweigeschoßige Loggia vorgesetzt ist, ein Zaubertrick, der durch abwechselndes Versetzen der Loggien um eine Fensterachse gelingt. Da diese Loggien fünf Meter hoch sind, können sie tief und damit gut nutzbar ausgebildet werden, ohne dass sie die dahinterliegenden Räume verschatten.

Artec verstärkt die eigenwillige, vom geschoßweisen diagonalen Versatz bestimmte Geometrie dieser Straßenfront durch ein zusätzliches skulpturales Element: Kantrohre aus verzinktem Stahl, die – schräg über die Fassade geführt – ein einprägsames Bild ergeben und zum Markenzeichen des Projekts werden dürften. Metallgitter als Balkongeländer bilden eine weitere Schicht, zu der im Lauf der Zeit die Begrünung kommen wird. Die zurückhaltende Farbgestaltung nach außen – warmgraue Putzfassaden und Sichtbeton – muss überhaupt in Erwartung üppigen Grüns beurteilt werden: Vorbild in dieser Hinsicht ist für Artec die Terrassenhaussiedlung der „Werkgruppe Graz“ aus dem Jahr 1978, die wildere und lebendigere steirische Antwort auf den Wohnpark Alt-Erlaa.

Auch Artec erzielt bei seinem Wohnbau in der Tokiostraße eine bemerkenswert hohe Dichte, die allerdings durch eine besondere „Lufthaltigkeit“ kompensiert wird. Zwei großzügige, von oben belichtete Hallen dienen, gewissermaßen als überdachte Straßen, der Erschließung der Wohnungen. Dieser Typus ist zwar nicht neu, wie Artec diese Räume konzipiert, ist allerdings eine Sensation im eigentlichen Wortsinn, die auf Fotos kaum wiederzugeben ist. Diese Hallen sind tatsächlich nutzbar, mit breiten Wegen und Abstellflächen vor den Wohnungen. Das Farbkonzept setzt „leise“ Farben in der Halle in Kontrast zu einem kräftigen Signalrot in den Treppenhäusern, die als halböffentliche Bewegungsräume nicht zur Halle, sondern zum Straßenraum orientiert sind.

Was dieses Projekt zu einem der wichtigsten Beiträge zum Wohnbau der vergangenen Jahre macht, ist überhaupt die subtile Abstufung vom Öffentlichen zum Privaten. Ein guter Teil des überbauten Grundstücks wird der Öffentlichkeit zurückgegeben: als doppelt tiefe Arkade zur Tokiostraße und in Form eines Innenhofs, der parallel zur Straße einen Durchgang durchs Grundstück erlaubt. Das erklärt, warum die Höfe und Terrassen der Wohnungen, die hierher orientiert sind, mit halbhohen Betonwänden vom Hofraum getrennt sind. Die Begrünung dieser privaten Freiflächen wird später nicht nur den Bewohnern, sondern auch den Passanten zugutekommen.

Die inneren Hallen sind auf Straßenniveau nur mit Streckmettalgittern vom öffentlichen Raum getrennt. Diese „Erdgeschoßzone“ bleibt damit offen für zukünftige Entwicklungen: Vielleicht siedelt sich hier irgendwann ein kleiner Wochenmarkt an, oder die Bewohner kommen auf die Idee, hier ihre Hausfeste zu veranstalten. Dieser Raumtypus ist ein echter Aneignungsraum, der nur darauf wartet, von neuen Inszenierungen des Alltags in Besitz genommen zu werden. Der Genossenschaft „Neues Leben“ darf man dazu gratulieren, mit diesem Projekt ihrem Namen gerecht zu werden. Swimmingpool und eine begrünte Dachterrasse, die den Bewohnern der genau 100 Wohnungen zusätzlich zur Verfügung stehen, beweisen, dass architektonische Qualität einen solchen zusätzlichen Luxus nicht ausschließt.

Das Wiener System der Wohnbauförderung hat sich hier wieder einmal als Großlabor für Innovation erwiesen. Dieser Bau ist kein plötzlicher Geniestreich. Er baut auf früheren Erkenntnissen auf, dem eigenen Wohnbau von Artec in der Laxenburger Straße, der Hofgartel-Siedlung von Geiswinkler & Geiswinkler und vielen anderen gelungenen Versuchen, die Qualität des Einfamilienhauses im „Geschoßwohnbau“ zu erzielen. Jetzt müsste man diese Erkenntnisse endlich in den Städtebau und seine Webmuster einfließen lassen. Dass die Stadt als lebendiges Kunstwerk auch heute noch möglich ist, findet sich in der Tokiostraße jedenfalls eindrucksvoll bestätigt.

23. Januar 2010 Spectrum

Das Asyl im Nirgendwo

Warum die geplante Erstaufnahmestelle im burgenländischen Eberau miserable Architektur werden musste.

Auf die Architektur, erklären die verantwortlichen Beamten und ihre Planer unisono, kommt es bei diesem Projekt wohl am wenigsten an. Wer die Diskussion der letzten Wochen verfolgt hat, ist versucht, ihnen recht zu geben. Wie sich hier Landes- und Bundespolitiker, Bürgermeister und Beamte monatelang, die Landtagswahlen vor Augen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegenseitig zu überlisten versucht haben, spottet jeder Beschreibung. Als sich Anfang 2009 Gerüchte über Pläne des Innenministeriums verdichteten, eine – laut Koalitionspakt „im Süden Österreichs“ zu errichtende – zusätzliche Erstaufnahmestelle für Asylwerber ins südliche Burgenland zu legen, brach am rechten politischen Rand stille Freude aus. Korrekt vorbereitet, geplant und abgewickelt, würde ein solches Projekt 2010 ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gelangen. Das Thema Asyl zeitgerecht in die Vorwahlzeit geliefert zu bekommen war aus rechter Perspektive ein Geschenk.

Da weder von der SPÖ noch von der ÖVP, die im Burgenland gemeinsam die Landesregierung bilden, eine offizielle Unterstützung für das Projekt zu erhalten war, begann das Ministerium, auf der Ebene der Gemeinden Werbung zu machen und ohne Einbindung der Landesregierung nach einem Standort zu suchen. Als das auf Landesebene bekannt wurde, reagierte die SPÖ im Herbst 2009 mit einem Antrag auf Änderung des burgenländischen Raumordnungsgesetzes, um für die Errichtung von Erstaufnahmestellen eine Sonderwidmung durch das Land zur Voraussetzung zu machen. Am 28. Oktober 2009 beschloss der von der SPÖ mit absoluter Mehrheit dominierte Landtag diese Änderung. Die achtwöchige Frist bis zu deren Inkrafttreten nutzte das Innenministerium seinerseits für eine geheime Kommandoaktion. Es fand im Bürgermeister von Eberau einen Partner, der bereit war, innerhalb dieses Zeitfensters eine Baubewilligung für die gewünschte Nutzung zu erteilen. Ein privater Mittelsmann, der als Grundstückskäufer und Bauwerber in das Unternehmen einstieg, war ebenfalls rasch gefunden. Was noch fehlte, war ein Planer, der in nur drei Wochen einen Einreichplan für das Projekt mit knapp über 10.000 Quadratmeter Nutzfläche erstellen konnte. Ein befugter Architekt fand sich dafür nicht, aber ein Salzburger Innenarchitekt, der im Burgenland schonmit dem Magna Verwaltungszentrum in Oberwaltersdorf Spuren hinterlassen hat, traute sich die Aufgabe offenbar zu. In Arbeitsgemeinschaft mit einem Ingenieurkonsulenten für Bauwesen entwickelte er ein möglichst unscheinbares Projekt im „burgenländischen Stil“, auf expliziten Wunsch des Eberauer Bürgermeisters, wie auf Nachfrage betont wird. Am 18. Dezember 2009 wurde die Baubewilligung für das Projekt erteilt.

In einem offenen Brief an die Innenministerin haben die führenden Vertreter der österreichischen Architekten- und Ingenieurkammer, Georg Pendl und Walter Stelzhammer, darauf hingewiesen, dass eine solche Vorgehensweise den Mindeststandards einer guten Planung eklatant widerspricht. Schon aus der Perspektive der Raumplanung führe keine Camouflage als „burgenländische Architektur“ an der Frage vorbei, wie eine solche überall ortsuntypische Nutzung in die bestehenden Siedlungsstrukturen, aber auch in die „mentalen Landkarten“ der Bürger einzugliedern wäre. Die weiteren Schritte im Genehmigungs- und Bauverfahren mit Tricks zu umschiffen sei widersinnig, weil sie der Qualitätssicherung und der Einbindung der betroffenen Öffentlichkeit dienten. Schließlich sei auch das architektonische Ergebnis des planerischen Eilverfahrens, das man nur als dumpf-dreiste Anlage mit formalen Ähnlichkeiten zur Lagerarchitektur autoritärer Systeme bezeichnen könne, nicht der Aufgabe angemessen, Flüchtlingen eine würdige Behausung zu geben. – Tatsächlich ist die scheinbare Unscheinbarkeit des Entwurfs höchst signifikant. Die Aufgabe ist ja alles andere als simpel. Funktional umfasst sie einen behördlichen Teil mit Polizeistation, Räumen für die medizinische Versorgung und für die Asylbehörden sowie einen Wohnteil, in dem bis zu 300 Asylwerber unterschiedlicher Nationen, Kulturen und Altersgruppen für einige Wochen unterzubringen sind. Diese Bewohner haben in der Regel eine strapaziöse Reise hinter sich, für die oft sie ihre Ersparnisse in einen Schlepper investiert haben, und sind in den meisten Fällen traumatisiert. Kasernenatmosphäre ist das Letzte, was diese Menschen brauchen. Dass der Entwurf für Eberau mit seinem Appellplatz, dem kleinen Wächterhäuschen und der Blut-und-Boden-Architektur frappant an die Mannschaftsquartiere von NS-Lagern erinnert, mag ein trauriger Zufall sein. Dass sich hinter solchen Fassaden aber keine Räume befinden, die es Menschen erleichtern, den Boden unter den Füßen wiederzufinden, ist aber ebenso offen- wie absichtlich.

Das Innenministerium hat mit dem Bundesjustizzentrum in Leoben, einer Kombination aus Gericht und Strafvollzugsanstalt, bewiesen, dass es für solche Aufgaben neue Wege beschreiten kann, und dafür auch international Anerkennung erhalten. Auch das Leobener Gefängnis sperrt ein, aber die Architektur ist dort keine Strafe, sondern ein Medium der Resozialisation. Um wie viel mehr müsste sich eine neu geplante Erstaufnahmestelle, die eben kein Gefängnis ist, selbst wenn die Innenministerin schließlich doch einen Zaun rundherum errichten will, vom Bautypus der Kaserne abheben.

Das würde allerdings voraussetzen, dass man auf die Art, wie Österreich Asyl gewährt, auch stolz sein will. Nach dem Ungarnaufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 war das kein Problem. Auch heute könnte man darauf verweisen, dass Österreich etwa 2008, gemessen an der Bevölkerungszahl, mehr Flüchtlingen Asyl gewährt hat als jedes andere europäische Land und dafür auch viel Geld aufwendet. Und dass eine neue Erstaufnahmestelle nicht nur die österreichischen Bewohner von Traiskirchen entlastet, sondern auch die Situation der Asylwerber verbessert. Das Argument, niemand dürfe in Österreich Asyl erhalten, solange es noch einen einzigen Obdachlosen mit österreichischem Pass gebe, müsste man dann jedoch den Populisten am Rand des politischen Spektrums überlassen.

Wäre das ein Verlust? Ein neues Erstaufnahmezentrum könnte ein Symbol für eine intelligente, humane und treffsichere Asylpraxis werden. Das zumindest vorerst gescheiterte Projekt in Eberau ist schon heute ein Symbol: für einen armseligen Populismus der Mitte, der in Wirklichkeit nur den Rechten in die Hände arbeitet.

28. Dezember 2009 Spectrum

Ja nur kein Licht ins All

Ein Bau von höchster Qualität hätte es werden sollen, gar ein „Flagship“ der Wiener Kindergärten. Heißt es in der Ausschreibung. Doch keine der 100 Bewerbungen für den Bau im Stadtpark soll die Vorgaben erfüllt haben. Wirklich nicht? Chronik eines Scheiterns.

S eit ein paar Jahren gefällt es der Redaktion des „Spectrums“, mich für einen Termin im späten Dezember einzuteilen. Silvester ist leicht: Im Jahresrückblick findet die Kritik immer genug Material. Schwierig ist der Heilige Abend: Welches Architekturthema passt schon zu Weihrauchduft und Wunderkerzen?

Heuer ist mir die ideale Weihnachtsgeschichte quasi in den Schoß gefallen, eine Feel-good-Story über die menschenverbindende Kraft der Baukultur in kleinen Landgemeinden Österreichs. Der Baukultur-Gemeindepreis 2009 wurde zwar schon im November verliehen, aber die schöne Publikation dazu gehört unter den Christbaum jedes österreichischen Bürgermeisters, jeder Bürgermeisterin und aller Architekturinteressierten. Verantwortlich für Preis und Buch ist LandLuft, ein interdisziplinärer Verein unter dem Vorsitz von Roland Gruber, dem ein Beirat zur Seite steht, in dem unter anderem Friedrich Achleitner, Roland Gnaiger und Erich Raith mitwirken.
Das Buch ist eine Revue geglückter Beispiele und glücklicher Bauherren aus zehn preisgekrönten Gemeinden, umflort mit schönen Sätzen wie „Baukultur schafft Freunde“ oder „Baukultur rechnet sich“. Der Bürgermeister der Gemeinde Zwischenwasser in Vorarlberg, die den Hauptpreis gewann, wird mit der Aussage zitiert, Architektur sei „keine Geschmacksfrage“, und Helmut Mödlhammer, der Vorsitzende des Österreichischen Gemeindebunds, nennt in seinem Beitrag Baukultur gar eine „Philosophie des ländlichen Raumes, die soziale Vernetzungen der örtlichen Gesellschaft abbildet und fördert“.

Weil der Gemeindepreis so viel unglaublich wunderbare Stimmung macht, dass es für zwei Weihnachten reichen würde, und er im Übrigen auf der Homepage www.landluft.at umfassend dokumentiert ist, bleibt noch ein wenig Platz, sich der Frage zu widmen, ob sich Aussagen wie „Baukultur schafft Freunde“, „Baukultur rechnet sich“ oder „Architektur ist keine Geschmacksfrage“ auch auf Wien übertragen lassen.

Der Weihnachtsfriede in der Wiener Architekturszene ist nämlich getrübt durch das vorläufige Scheitern eines kommunalen Bauprojekts, dessen Dimension selbst kleinen Landgemeinden üblicherweise keine Probleme bereitet. Es galt, für einen achtgruppigen Kindergarten mit 3,5 Millionen Euro Bausumme einen Entwurf und einen Generalplaner zu finden. Prominent ist die Lage im Wiener Stadtpark, an dessen östlichstem Eck sich bereits ein Kindergarten aus dem Jahr 1948 befindet. Das schlichte Bauwerk hat ausgedient und soll durch ein außergewöhnliches ersetzt werden, „ein Gebäude von höchster Qualität, das der Bedeutung des Ortes Rechnung trägt und als ,Flagship‘ der Wiener Kindergärten wirken soll“, wie es in der Ausschreibung zum Wettbewerb vollmundig hieß.
100 Projekte wurden eingereicht. Die Jury unter dem Vorsitz von Elsa Prochazka tagte zwei Tage lang und gab schließlich zu Protokoll, dass zwar mehrere Einreichungen die hohen Anforderungen „in Teilbereichen ausgezeichnet erfüllt“ hätten. In Summe habe jedoch keine einzige diesen Anforderungen „auch nur annähernd“ entsprochen, weshalb kein erster Preis verliehen werde, sondern nur ein zweiter und dritter. Das Preisgericht wolle mit dieser Entscheidung ein Signal an die Planer setzen, „dem Auslober auf ambitionierte Fragestellungen innovative Konzepte anzubieten“. Nach kurzer Ratlosigkeit beschließt die Stadt, den Wettbewerb als geladenes Verfahren mit fünf Teilnehmern zu wiederholen, der Träger des zweiten Preises, der als bestgereihter ein Anrecht auf Auftragsverhandlungen hätte, wird abgefunden.

Kein einziges Projekt? Unter 100? Die Teilnehmer machen ihrem Ärger in Foren, Aussendungen und wütenden Briefen an die Architektenkammer Luft. Realisierbare Projekte habe es genügend gegeben. Und von einer „ambitionierten Fragestellung“ könne abgesehen von ein paar schönen Worten keine Rede sein. In den konkreten Vorgaben sei nichts anderes als der bisherige Standard gefordert worden.

Tatsächlich beginnt das Elend dieses Wettbewerbs bei der Ausschreibung. Wer Außergewöhnliches will, muss es auch zulassen. Ein paar Schlagworte und das Gerede vom „Flagship“-Gebäude reichen nicht aus. Im Detail wurde explizit auf die Raumbücher der Stadt Wien für Kindergärten hingewiesen, ein Gemeinschaftsprodukt von fünf Magistratsabteilungen, 70 Seiten Vorbemerkungen und 130 Seiten Raumblätter, in denen alles geregelt ist, von Details wie der Anzahl der Wandleuchten bis zum kosmischen Maßstab: „Bei Außenbeleuchtungen ist unnötige Lichtimmission (sic!) in das Weltall zu vermeiden.“ Dass es der Stadt nicht gelungen ist, ihre Erfahrung aus dem Betrieb ihrer Hochbauten in etwas Sinnvolleres zu gießen als solche detailversessenen Regelwerke, ist ein beachtliches Versagen.

Die Enttäuschung der Jury über das Fehlen außergewöhnlicher Projekte hätte also ruhig verhaltener ausfallen können. Vor diesem Hintergrund sind auch die beiden bestgereihten Projekte durchaus akzeptable Entwürfe. Beide stammen von jungen Büros, swap aus Wien und riccione aus Innsbruck. Das swap-Projekt (dritter Preis) erfüllt die funktionellen Vorgaben exakt und zieht sich formal durch eine amöbenartige Kurvatur aus der Affäre. Der zweite Preis von riccione überzeugte die Fachjuroren vor allem durch seine städtebauliche Antwort, die einen Übergang zwischen Stadt und Park erlaubt und den Kindergarten um einen schönen Gartenhof bereichert hätte.

Dass die Vertreter der Stadt – vor allem der stellvertretende Bezirksvorsteher Rudolf Zabrana – lieber eine Amöbe im Park gesehen hätten und ihre Zustimmung zu einer Gartenmauer, der noch dazu ein paar Bäume weichen müssten, kategorisch ausschlossen, ist verständlich, aber genau jenes Geschmacksurteil, das ein Wettbewerbsverfahren verhindern soll. Eine Überarbeitung der beiden Projekte, um ihre Defizite zu korrigieren, wäre in dieser Situation der einzig richtige Schritt gewesen. Offenbar war die Stimmung in der Jury aber bereits so verfahren, dass man mit dem Verzicht auf den ersten Preis die eigentliche Entscheidung an eine höhere Instanz delegieren wollte.

Diese Taktik ist gründlich danebengegangen. Jetzt wurschtelt man sich wie so oft in Wien aus der Affäre. Konsequenzen? Außer Schuldzuweisungen hat man bisher wenig gehört. Vielleicht sollten die Wiener Architekten, Politiker und Beamten gemeinsam nach Zwischenwasser pilgern, um zu lernen, dass Baukultur eine Ressource ist. Wer sie verschwendet, bekommt die Rechnung spätestens bei den nächsten Wahlen.

28. November 2009 Spectrum

Auftauchen und Luft holen!

Schon wieder soll es einem Werk Roland Rainers an die Substanz gehen: dem Wiener Stadthallenbad. Wird die Sanierung dem bedeutenden Bau gerecht werden?

Der Aufruhr in der Szene ist groß: Schon wieder soll es einem Werk Roland Rainers an die Substanz gehen. Nach dem ORF-Zentrum am Küniglberg, dessen Zukunft unklar ist, steht als Nächstes die Sanierung des Wiener Stadthallenbades an, das praktisch zeitgleichmit dem ORF-Zentrum in den Jahren von 1971 bis 1974 realisiert wurde.

Geplant wurde am Stadthallenbad weit länger, der erste Entwurf stammt aus dem Jahr 1962, gut zehn Jahre vor dem ersten „Ölschock“, und so fehlte es dem Bad – wie vielen Bauten aus dieser Zeit – an Wärmedämmung und Isolierverglasung. Dafür war es eines von Rainers schönsten Projekten, nicht so spektakulär wie seine frühen Hallen, aber unglaublich raffiniert in Konzept und Detail. Die schräg geneigten Träger, die sich aus der Höhenstaffelung der Halle Richtung Sprungturm ableiten, geben dem Raum eine besondere Dynamik. Auch der Grundriss, an sich ein einfaches Rechteck, das der Kontur der beiden Schwimmbecken folgt, wird durch das „störende“ Element des Sprungturms in Bewegung gebracht: Die Verglasung weicht ihm in mehreren, mit der Neigung der Dachträger synchronisierten Stufen aus, während die Wettkampftribünen leicht schräg in den Raum gestellt sind, um die Blicke der Zuschauer auf die Springer zu fokussieren. Das Ergebnis ist ein pulsierender Hochleistungsraum, weder Spaßbad noch Wellness-Oase, aber seinem ursprünglichen Zweck, als Trainingsanlage für den Spitzensport zu dienen, in jeder Hinsicht angemessen.

Die architektonischen Qualitäten des Bades wurden über die Jahre in vielen Punkten beschädigt, am massivsten durch eine unglückliche Sanierung Ende der 1980er-Jahre, als die Sichtbetonteile in Vollwärmeschutz verpackt und die Verglasung durch neue Profile und Isolierglas ersetzt wurde. Dazu kommen viele weitere Veränderungen, halb zugemauerte Fenster, abgeklebte Scheiben, Anstriche, die das ursprüngliche Farbkonzept – Rot für die tragenden Stahlteile und Edelstahl für die technische Versorgung – ignorierten, und plumpe Überläufe am Hauptbecken. Jede dieser Maßnahmen mag für sich einen guten Anlass gehabt haben, vom exorbitanten Energieverbrauch bis zu neuen hygienischen Vorschriften. Trotzdem steht man heute vor einem Totalschaden, der laut einem Gemeinderatsbeschluss nun mit einem Aufwand von rund 17 Millionen Euro behoben werden soll. Die Zeit drängt: Die nächste Olympiade findet 2012 statt, und die 50-Meter-Bahnen des Stadthallenbades sind die einzigen, die unserer Schwimmerelite in Wien zur Verfügung stehen.

Als vor wenigen Wochen die Generalplanung für die Sanierung ausgeschrieben wurde, stellte sich heraus, dass keineswegs nach einer Expertise gesucht wurde, dieses Bauwerk entsprechend seinem architekturhistorischen Rang instand zu setzen. Vielmehr lag der Ausschreibung bereits ein Vorprojekt eines Ingenieurbüros zugrunde, das weitreichende Veränderungen, von einer Hebung des Hallenbodens bis zu einer Verlegung des Eingangs vorsieht. Gegenstand der Ausschreibung war dessen technische Umsetzung. Eine Bestandsaufnahme aus baukünstlerischer Sicht, um das Potenzial der Substanz auf Veränderung auszuloten, war nicht gefragt und auch davor, trotz umfangreicher Analysen der technischen Bedingungen, nicht erfolgt.

Dass die Verantwortlichen auf der Nutzerseite, das Sportamt der Stadt Wien, das hässliche, kaputte Bad so schnell wie möglich repariert haben wollen, ist verständlich, auch wenn Körper- und Baukultur vielleicht enger verwandt sind, als dort vermutet wird. Wie es aber so weit kommen konnte, dass die Gemeinde Wien mit ihren vielen Bau- und Kulturabteilungen erst fünf vor zwölf zu überlegen beginnt, wie man mit einem der Hauptwerke eines der wichtigsten österreichischen Architekten des 20. Jahrhunderts angemessen umgeht, ist unverständlich.

An Gelegenheiten, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, hätte es in Wien nicht gefehlt. Die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), die Gesellschaft für Denkmalpflege der Moderne und das Architekturzentrum Wien (AzW) haben in den letzten Jahren zahlreiche Veranstaltungen organisiert, in denen die Erhaltung von prekären Bauten der Moderne zur Debatte stand. ZumKongress im AzW im Vorjahr existiert eineunter dem Titel „Schadensbilder“ im Heft 39der Zeitschrift „Hintergrund“ erschienene Publikation, in der Bruno Reichlin, einer der kompetentesten Architekturhistoriker auf diesem Gebiet, die Grundzüge eines angemessenen Umgangs mit der jüngeren Moderne darstellt. Am Anfang steht die Bereitschaft, aus dem Meer an Vorurteilen gegenüber einer für viele nach wie vor ungewohnten Ästhetik aufzutauchen, Luft zu holen, wirklich hinzusehen und in Ruhe das Potenzial solcher Bauwerke zu entdecken. Dazu gehört auch, sich mit manchen Dingen zu versöhnen, die den heutigen Anforderungennicht mehr entsprechen. Dabei geht es nicht nur ums Bewahren: Das Erbe, schreibt Reichlin „ist ein Projekt, das sich mit uns verändert“. Gerade die Moderne gelte es nicht einzumotten, sondern zu aktivieren, immer ausgehend von der Substanz, aber mit Bezug auf die Gegenwart, um das Neue ins Alte einzuschmelzen und nicht, wie es die klassische Denkmalpflege vorzieht, durch eine Fuge voneinander zu trennen.

Im Moment scheint die unmittelbare Gefahr für das Stadthallenbad gebannt. Der Aufruhr hat bewirkt, dass die Ausschreibung für die Generalplanerleistung modifiziert wurde. Ohne einschlägige architektonische Expertise und entsprechenden Entwurf für den Umbau sollte kein Konsortium mehr zum Zug kommen können. – Bruno Reichlin und andere Experten zur Denkmalpflege der Moderne sind heute bei einem von ÖGFAveranstalteten, international besetzten Kongress an der Technischen Universität Wien zu hören, der am Abend von einer Podiumsdiskussion mit Stadtrat Rudolf Schicker und dem obersten Denkmalpfleger der Stadt Wien, Friedrich Dahm, abgeschlossen wird. Ob das Sportamt im Publikum sitzt?

31. Oktober 2009 Spectrum

Wenn der Komet einschlägt

Der Wiener Stadtentwicklungsplan 2005 nennt 13 Zielgebiete, zu denen auch das Wiental gehört. Geplant sind dezentere Maßnahmen wie ein Wiental-Radweg und Kunstprojekte, aber auch massivere – vom Hochhaus bis zum Einkaufszentrum.

Stadtplanung ist ein Geschäft für Menschen mit hoher Frustrationstoleranz und einem leichten Hangzur Schizophrenie: Auf der einen Seite steht die Überzeugung, Zukunft gestalten zu können, auf der anderen der nagende Verdacht, dass die Zukunft ganz anders aussehen wird, als man es geplant hat.

Als die Wiener zur Jahrhundertwende begannen, das Wiental vom Naschmarkt stadtauswärts in eine Prachtstraße zu verwandeln,die bis zur kaiserlichen Residenz in Schönbrunn reichen sollte, ahnte niemand, wie balddieser Plan ein abruptes Ende finden würde. Zwar verdanken wir ihm eine Reihe außergewöhnlicher Bauten, deren prominenteste die Majolikahäuser von Otto Wagner sind, aber nach 1918 scheint hier kein Bauherr vonbesonderen architektonischen Ambitionen geplagt worden zu sein. Jede Epoche seither hat beiderseits des kanalisierten Wienflusses, der sich sein Bett mit der U-Bahn-Linie U6 teilt, Bauten von kaum überbietbarer Gleichgültigkeit hinterlassen. Auch am Gürtel, einer anderen Hauptschlagader der Stadt, gibt es hässliche Hotels und gedankenlosen Wohnbau, aber zu jedem negativen Beispiel dort lässt sich im Wiental ein anderes finden, das noch peinlicher ist.

Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in einer nach 1918 veränderten Haltung zur städtischen Infrastruktur. Otto Wagner, der selbst die Regulierung des Wienflusses und den Bau der damaligen Stadtbahn mit ihren Brückenbauwerken von der architektonischen Seite her konzipierte, sah in der Nachbarschaft zu dieser technischen Infrastruktur keineswegs einen Widerspruch zur Idee einer Prachtstraße. Der funktionalistische Städtebau der Moderne setzte dagegen auf die strikte Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Ein Verkehrsband wie das Wiental galt ihm per definitionem als minderwertiger Standort. Wer hier baute, rechnete mit niedrigen Mieten, sparte bei der Ausführung und holte sich seinen Gewinn durch die günstigen Grundstückskosten.

Vor diesem Hintergrund erklärte die Stadt Wien in ihrem Stadtentwicklungsplan 2005 das Wiental zu einem von 13 sogenannten „Zielgebieten“, deren Aufwertung sie sich in den nächsten Jahren besonders widmen würde. Planerisch interessant an dieser Festlegung ist, dass das Wiental die üblichen Einteilungen der Stadtverwaltung sprengt: 14,6 Kilometer fließt die Wien durch die Stadt, berührt oder durchquert dabei neun Bezirke und hat eine halbe Million Anwohner.

Auf Initiative einer Arbeitsgruppe, die von den zum Wohnbauressort gehörenden Gebietsbetreuungen der angrenzenden Bezirke 2007 gegründet wurde, fand kürzlich in der Wiener Urania ein Symposium über „Urbane Flusslandschaften“ statt. Neben den zuständigen Vertretern der Stadt waren auch internationale Gäste geladen, die über Projekte zur Transformation städtischer Infrastrukturen berichteten, etwa den Rückbaudes Cheonggyecheong-Flusses im Koreanischen Seoul und den 14 Kilometer langen Parque Lineal de Manzanares in Madrid, der nach den Plänen der holländischen Landschaftsplaner West 8 durch die Tieferlegung und Überplattung einer Madrider Stadtautobahn entstanden ist. Das Cheonggyecheong-Projekt ist im Vergleich dazu ein noch radikalerer Eingriff, da hier zu Projektkosten von rund 600 Millionen Euro eine zweigeschoßige Autobahn, die einen Flusslauf zugedeckt hatte, abgerissen und der Flusswiederhergestellt wurde. Begleitend dazu erfolgte eine Umleitung und Reduktion des gesamten städtischen Individualverkehrs.

Zu den Maßnahmen, die in Wien bisher zur Aufwertung des Zielgebiets geplant wurden, gehört der Wiental-Highway, ein „rot-grünes“ Projekt, das vor allem Radfahrern den Flussraum erschließen soll. 2010 soll um4,8 Millionen Euro ein 3,5 Kilometer langes Teilstück vom Hackinger Steg bis zur Kennedybrücke errichtet werden. Auf der Ebene der Stadterneuerung mit Förderungsmitteln hat die erfolgreiche Basisarbeit der letzten 20 Jahre inzwischen einen deutlichen Anstieg des frei finanzierten Wohnbaus in den Bezirken 4, 5 und 6 bewirkt und wird ihren Schwerpunkt in Zukunft stadtauswärts verlagern können. Dazu kommen zahlreiche Events der Gebietsbetreuungen, vom Filmfestival im Bruno-Kreisky-Park bis zu künstlerischen Projekten: Die „Reise der Steine“, ein als Kunst im öffentlichen Raum gefördertes Projekt, soll nächstes Jahr Dutzende metergroße Steine aus Porenbeton auf eine sechsmonatige Reise von der Stadtgrenze bis zur Einmündung der Wien in den Donaukanal schicken.

Während dieses Projekt das Wiental durch Erhöhung der Aufmerksamkeit aufwerten möchte, betreibt das größte Neubauprojekt – eine Kombination von 78 Meter hohem Büroturm, Hotel und Einkaufszentrum auf den „Komet-Gründen“ bei der U4-Station Meidling – Stadterneuerung mit der Brechstange. Hier wird außer dem Bankkonto der Projektbetreiber und Planer wohl nicht viel aufgewertet, dafür ein maßgeblicher Punkt im Wiental mit durchschnittlicher Architektur verstellt.

Ebenfalls hoch, aber stadtstrukturell wesentlich besser begründet ist ein Büro- und Wohnhaus bei der Station Kettenbrückengasse, entworfen von Elsa Prochazka. Es sollte mit 34 Meter Höhe der Typologie der Prachtstraßenbauten der Monarchie folgen, die in der Nachbarschaft mit ihren Dachaufbauten dieselbe Höhe erreichen. Im soeben aufgelegten Bebauungsplan wurde die Bauhöhe in vorauseilender Beschwichtigung des zu erwartenden Protests um zwei Geschoße reduziert, was die Proportion des Entwurfs schwächt und die Wirtschaftlichkeit des schmalen Bauwerks in Frage stellt. Dass die Stadt hier Angst vor dem eigenen Mut bekommen hat, ist symptomatisch. Als bürgernah gilt, möglichst nichts am Stadtbild zu verändern, ein bisschen mehr Grün, Events im öffentlichen Raum. Und wenn zwischendurch der Komet einschlägt, schautman lieber weg: Das Projekt auf dem gleichnamigen Areal fand während des Symposiums in keinem der zahlreichen Vorträge der städtischen Repräsentanten Erwähnung.

8. August 2009 Spectrum

Spät? Post? Nur modern?

Eine Ausstellung in Innsbruck führt ein neues Adjektiv in die Architekturgeschichte ein: „konstantmodern“. Über Sinn und Stammbaum eines in die Jahre gekommenen, immer noch schillernden Begriffs – der Moderne.

Wer gern mit Begriffen spielt, wird am Wort „modern“ seine Freude haben. In seiner einfachsten Bedeutung bezeichnet es alles, was gerade in Mode ist. In der Architekturgeschichte steht „die Moderne“ dagegen für einen Stil, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ansetzt und Ende der 1970er seine maßgebende Bedeutung an eine Reihe von „post-modernen“ Strömungen verliert. Wer feinere Nuancen liebt, darf zwischen verschiedenen Modernen unterscheiden, zuerst der „frühen Moderne“, wie sie in Wien etwa von Otto Wagner repräsentiert wird. Dem war der Begriff bereits so unheimlich, dass er seine wichtigste Publikation, ursprünglich 1896 unter dem Titel „Moderne Architektur“ erschienen, in einer späteren Auflage auf „Die Baukunst unserer Zeit“ umbenannte.

Aufhalten ließ sich der Erfolg des Begriffs nicht. Er steht für die Architektur des 20. Jahrhunderts, wobei zwischen der „klassischen Moderne“ der 1920er-Jahre, verbunden mit „Meistern“ wie Walter Gropius, Le Corbusier, Mies van der Rohe und Alvar Aalto, und der „Nachkriegsmoderne“ zu unterscheiden ist, die in Europa mit der Massenproduktion für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist und als „Spätmoderne“ bis heute nachwirkt.

Die Moderne in der Architektur verstand sich dabei immer als das Gegenteil des Modischen. Sie verfolgte das Ziel, unabhängig von traditionellen Bindungen und unter Berücksichtigung neuer bautechnischer Möglichkeiten eine rationale, allen Menschen gemeinsame und für alle verständliche Welt zu schaffen. Insofern war sie ein Produkt der Aufklärung und teilte mit dieser auch das Schicksal, in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts die dunkle Seite ihrer Utopie von einer vereinheitlichten Welt realisiert sehen zu müssen. Stilistisch mögen sich Vor- und Nachkriegsmoderne ähneln, und auch die „Meister“ der klassischen Moderne waren nach dem Krieg noch durchaus aktiv, aber dass die Bewegung nach 1945 nicht an die Utopien der 1920er-Jahre und ihr Versprechen, die Welt durch gutes Bauen von allen Übeln zu erlösen, anschließen konnte, wurde mit jedem Jahr des Wiederaufbaus klarer. Die Avantgarden der 1950er- und 60er-Jahre suchten nach einer anderen Moderne, die weniger rationalistisch, bunter und rauer sein sollte als die nach dem Krieg dominierende glatte Massenware. Le Corbusiers Spätwerk, das sich durch ausgiebige Verwendung von plastisch gestaltetem rohem Beton – „béton brut“ – von seiner Vorkriegsarchitektur abhebt, wurde zum Bezugspunkt einer Bewegung mit dem wenig sympathischen Namen „Brutalismus“, die auf Körperlichkeit und Rauheit setzt. Im Unterschied zur „klassischen Moderne“ sollte diese Architektur wieder Patina ansetzen können und wollte ganz bewusst nicht perfekt, also abgeschlossen, sondern offen für Veränderungen sein.
Die Suche nach einer „anderen“ Moderne wurde spätestens Ende der 1960er-Jahre aufgegeben, als sich post-moderne Bewegungen etablierten, deren Charakteristikum es war, Architektur als Zeichensystem zu praktizieren, entweder zitathaft-ironisch mit klassizistischen Säulen und Elementen der Populärkultur oder dekonstruktiv als Aufbrechen aller Sinnzusammenhänge, um den Bruchstücken ein offenes Spiel neuer Verkettungen zu erlauben. Eine Position hatte man in diesem Kontext, wie es der deutsche Philosoph Odo Marquard in seiner „Apologie des Zufälligen“ formuliert hat, nur „im nautischen Sinn“.

Es gibt in der Architekturszene heute kaum mehr Dissens zur Feststellung, die Moderne sei tot. Diese Überzeugung steht im seltsamen Widerspruch zur Beobachtung, dass die bei Weitem überwiegende Masse der globalen Bauproduktion einer verdünnten, ab und zu auch postmodern dekorierten Spätmoderne zuzurechnen ist, die offenbar auch ohne kulturellen Stammbaum ihr renditeträchtiges Auskommen findet.

Die Ausstellung „konstantmodern“, die Arno Ritter für das Innsbrucker „aut“ (Architektur und Tirol) kuratiert hat, versucht auf eine sehr eigenwillige Art zu zeigen, dass die Moderne noch durchaus lebendig, wenn auch fortgeschrittenen Alters ist (noch zu sehen bis 19. September, Lois-Welzenbacher-Platz 1). Sie stellt, wie es der Untertitel formuliert, „fünf Positionen zur Architektur“ vor, keine nautischen allerdings, sondern eben: konstant moderne. Das Alter der Protagonisten reicht vom 90-jährigen bayrischen Architekten Werner Wirsing über den 84-jährigen Salzburger Gerhard Garstenauer und den 82-jährigen Tiroler Johann Georg Gsteu bis zu dem mit 68 Jahren jüngsten Teilnehmer, Rudolf Wäger aus Vorarlberg. Die fünfte Position wird vom Schweizer Büro atelier 5 aus Bern repräsentiert, dessen Gründergeneration heute in ihren Neunzigern wäre. Gezeigt werden je drei Projekte aus unterschiedlichen Schaffensperioden, begleitet von Videos mit Interviews, die Arno Ritter mit den Architekten geführt hat. Deutlich wird dabei deren Prägung durch die Suche nach einer anderen Moderne in der Zeit von 1950 bis 1970, die schließlich zu sehr individuellen, kontinuierlich beibehaltenen Positionen führt. Neben den Plänen und Fotos aus der Entstehungszeit sind in der Ausstellung Fotoserien von Nikolaus Schletterer, der alle Projekte neu dokumentiert hat, zu sehen. Und hier zeigt sich plötzlich, wie diese Bauten tatsächlich die Zeit überdauert und durch ihre Patina oft noch gewonnen haben: Werner Wirsings genial einfachen Wohnhäuser aus den 1960er-Jahren ebenso wie das Seelsorgezentrum Baumgarten von Johann Georg Gsteu, Gerhard Garstenauers aus dem Berg gehauenes Felsenbad in Bad Gastein und das Würfelhaus von Rudolf Wäger in Götzis, und schließlich die Betonstrukturen des atelier 5, das mit seiner Siedlung in Halen aus dem Jahr 1955 eines der Meisterwerke des Brutalismus geschaffen hat.

Im hervorragend gestalteten Katalog zur Ausstellung sind die Interviews, die Plandokumentation und die neuen Fotoserien von Nikolaus Schletterer nachzustudieren. Was bleibt, ist der Hinweis auf das Potenzial des Einfachen angesichts einer Welt, die auch ohne das Zutun der Architektur kompliziert genug ist. Wie drückt es Werner Wirsing im Gespräch so schön aus: „Ich wollte immer nur das machen, was ich wirklich begriffen habe. Diese Einstellung hat sich dann zum überzeugten Streben nach dem Einfachen verdichtet.“ So viel entspannte Selbstironie und Gelassenheit würde man der Baukunst unserer Zeit oft wünschen.

10. Juli 2009 Spectrum

Wo schlägt das Herz der Stadt?

Staatstragende Kulturarchitektur oder Witz und Leichtigkeit kleiner Projekte: Was macht den Reiz einer Stadt aus? Linz09 oder: Wie eine Stadt über sich selbst nachdenkt.

Linz als kulturelles Herz Europas: Das hätte vor 20 Jahren kein Bürgermeister zu träumen gewagt. Anders als Graz, das 2003 so sehr in dieser Rolle aufging, dass es bis heute an den finanziellen Folgen seiner Selbstinszenierung laboriert, vermittelt Linz den Eindruck, als würde es ehrlich darüber nachdenken, wie es sich diesen Titel eigentlich verdient hat. Natürlich gibt es die großen Investitionen in Kulturbauten, von der Erweiterung des Ars Electronica Center über die neue Oper bis hin zur Erweiterung des Schlossmuseums, aber Linz 09 lebt wesentlich von der Vielzahl an Einzelprojekten, die sich der Stadt und ihrem Kulturbegriff aus unterschiedlichen Perspektiven annähern.

Ein winziges Beispiel dafür findet sich auf der Terrasse unter dem neuen „Südflügel“ des Schlossmuseums mit ihrem spektakulären Blick über Stadt und Donautal. Hier ist ein Stadtmodell aus Bronze aufgebaut, das die Stadt im Zustand des 18. Jahrhunderts zeigt. Am äußersten Ende des Modells entdeckt man ein mächtiges Bauwerk, die Wollzeugfabrik, im Kern 1726 nach Plänen des Barockbaumeisters Johann Michael Prunner errichtet. Um 1800 waren für das Unternehmen 49.000 Menschen im Umland tätig, bis es zur Tabakfabrik umgebaut und schließlich als wenig einladendes Wohnheim genutzt wurde. Ende der 1950er-Jahre wollte die Stadt das Gebäude nicht mehr erhalten und lancierte die Alternative, entweder das Stadtschloss oder die Fabrik opfern zu müssen. Wie dieser Kampf zwischen der funktionslosen Herrschaftsarchitektur im Stadtzentrum und der ebenso desolaten, aber noch immer grandiosen Industriearchitektur an der Peripherie ausgehen würde, war abzusehen: 1969 wurde die Fabrik unter Protest der Fachwelt gesprengt, während das Stadtschloss saniert und ab 1966 als Erweiterung des Landesmuseums genutzt wurde.

Der soeben eröffnete neue „Südflügel“ des Stadtschlosses schließt dessen historische Figur, wie sie bis zu einem Brand im Jahr 1800 bestanden hatte. In dem 2006 ausgeschriebenen internationalen Wettbewerb war der Spielraum für die Architekten durch die klare Empfehlung, das ursprüngliche Volumen des Schlosses nach außen nachzuzeichnen, einigermaßen beschränkt. Das Siegerprojekt der unter dem Namen HoG – für Hope of Glory – erst 2006 gegründeten Architektengruppe von Martin Emmerer, Clemenss Luser und Hansjörg Luser hielt sich an diese Vorgabe und überzeugte die Jury durchs ein raffiniertes Erschließungssystem und eine große konstruktive Geste: Statt den Vierkanter des Schlosses blockartig zu schließen, ist der Baukörper als mächtiges Brückenbauwerk ausgebildet, das über der Bastei zu schweben scheint und in seinem letzten Drittel frei auskragt. Dabei überdeckts es die Aussichtsterrasse, auf der das kleine Stadtmodell, von dem oben die Rede war, zu bewundern ist. Diese theatralische Konstruktion hat insofern Berechtigung, als sie neben dem Vortragssaal auch die Techniksammlung des Museums aufnimmt. Von diesem Niveau aus führt eine zarte, verglastes Verbindungsbrücke zum Altbau.

Auf den Niveaus unter der Terrasse liegen – in die Bastei eingegraben – die Dauerausstellung zum Thema Natur und eine große Halle für Wechselausstellungen. Verbunden werden diese Ebenen durch eine verglaste Treppenanlage, die den Hofraum sehr großzügig ins Museum einbezieht. Dass sie auf der obersten Ebene etwas abrupt endet, ist schade und Folge einer etwas unsicheren Geometrie, die hier zu einer freieren, aus der Bewegung heraus entwickelten Form finden müsste. Insgesamt ist die Erweiterung aber überzeugend, sowohl in der Verbindung von Alt und Neu als auch im Angebot attraktiver öffentlicher Räume. Die Terrasse wird sich – vom obligaten Museumsrestaurant gastronomisch versorgt – sicher zu einem neuen Treffpunkt im Herzen der Stadt entwickeln.

Aber liegt dieser Ort eigentlich noch im Herzen der Stadt? Seit Linz sich von der Donau aus immer weiter nach Süden ausgebreistet hat, müsste man dem Schloss eher eine Randlage attestieren. Rein geometrisch liegt der aktuelle Schwerpunkt der Stadt weit im Süden, ungefähr dort, wo ein anderes Projekts von Linz 09 Ende Juni seinen Betrieb aufgenommen hat. Autofahrer, die hier auf der Stadtautobahn unterwegs sind, staunen über ein gelbes Haus, das sich über dem Einfahrtspsortal eines Tunnels erhebt. Die Autobahn verschwindet hier seit 2006 unter einer Platte, sdie die beiden zuvor getrennten Stadtteile Spallerhof und Bindermichl verbindet, ein Gebiet, das nach der dominierenden Wohnsbaugenossenschaft auch WAG-Stadt genannts wird. Für die Anrainer hat dieses Verkehrsbauwerk ein kleines Wunder vollbracht: Wer zuvor einen Balkon zur Autobahn hatte, blickts nun auf einen neun Hektar großen Landschaftspark, der nur in der Mitte von einem etwas monumental und humorlos gestalteten Kreisverkehr unterbrochen wird.

Was der Park für die angrenzenden Stadtteile mit ihren 40.000 Einwohnern bedeutet, muss sich erst herausstellen. Vorerst als wohltuende Ergänzung des Bestands wahrgenomsmen, könnte er sich zur neuen Mitte entwickeln, die letztlich das Selbstverständnis des Stadtteils prägt. Genau an diesem Punkt setzts das Projekt an, das Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper für Linz 09 entwickelt haben. Das gelbe Haus ist gewissermaßen das Schloss am Ende des Landschaftsparks, zwischen dessen zwei weit ausladenden Seitenflügeln eine breite Freitreppe nachs oben und durch das Haus führt, auf eine Terrasse, von der man einen – darf man sagen: prachtvollen? – Blick über die Autobahns hat, eine Reminiszenz an die Zeiten, als genaus diese Situation für viele Anrainer Alltag war.

Das Haus beherbergt ein kleines Restaurant, einen Vortragssaal im Obergeschoß unds darüber drei winzige schwebende Zimmer, die gerade von Anrainern zusammen mit dens Architekten tapeziert werden. In den schmaslen Seitenflügeln liegen Nebenräume und Wohnungen für die „artists in residence“, die als Teil des Gesamtprojekts hier wohnen. Zur Aufgabe der Architekten gehört dabei nicht nur das Haus, dessen Baukosten mit knapp 150.000 Euro gegenüber jenen des Schlossmuseums mit 24,4 Millionen eher bescheiden sind, sondern auch dessen Bespielung mit einsem Rahmenprogramm. Bis das Haus in drei Monaten wieder abgetragen wird, sind hier über 180 Veranstaltungen zu erleben, von Talkshows mit den Anrainern bis zu Workshops und Filmvorführungen.
Ob sich die staatstragende Kulturarchitektur irgendwann vom Witz und der Leichtigkeit solcher Projekte anstecken lässt, wird man sehen. Vom „gelben Herz“ ihres Parks werden sich die Anrainer jedenfalls noch in Jahren, wenn es längst wieder der Wiese Platz gemacht hat, Geschichten erzählen.

30. Mai 2009 Spectrum

Pritzker und Freunde

Wer soll einen Architekturwettbewerb gewinnen: das beste Projekt oder das beste Büro? – Der Entwurf für die neue Wirtschaftsuniversität in Wien. Ein Wettbewerb als Fahrt in der Achterbahn – mit weicher Landung.

Selten hat die Architekturwelt mit solcher Spannung auf die Präsentation von Wettbewerbsergebnissen gewartet. Das liegt nicht nur am illustren Teilnehmerkreis, zu dem immerhin drei Pritzker-Preisträger und eine Reihe weiterer Architektenstars zählten, sondern auch an der recht turbulenten Entwicklung des Verfahrens selbst. Schon im Mai 2008 hatte BUSarchitektur, also das Team um die aus Argentinien stammende Wiener Architektin Laura Spinadel, den Wettbewerb für den Gesamtplan der neuen Wirtschaftsuniversität (WU) gewonnen. Während die meisten Konkurrenten große, zusammenhängende Strukturen entworfen hatten, plante Spinadel einen locker bebauten Campus mit einer durchlässigen grünen Grenze nach außen und einer geschickt komponierten Abfolge von öffentlichen Plätzen im Innenbereich.

Ins Zentrum der Anlage, deren Länge mit 600 Metern ungefähr der Strecke vom Stephansplatz bis zum Schwedenplatz entspricht, setzte sie das geforderte „Library & Learning Centre“ (LCC), mit einem vorgelagerten, zum grünen Prater hin offenen Platz. Zu beiden Seiten schließen die Institutsgebäude und Sonderbauten wie ein Hörsaalzentrum und – als Auftakt des Areals stadteinwärts – das Gebäude für die „Executive Academy“ an. Unter dem zentralen Straßenraum liegt eine Tiefgarage, die nicht direkt mit den Gebäuden verbunden ist, sondern über Lichthöfe im Straßenraum erschlossen wird. Auch die per PKW Anreisenden betreten die Gebäude der WU daher auf demselben Weg wie die Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel, mit denen das Areal über zwei nahe Stationen der verlängerten U-Bahn-Linie U2 gut erreichbar ist.

Mit diesem Entwurf erhielt BUSarchitektur den Auftrag für die städtebauliche Masterplanung, ein Hörsaalzentrum, die Freiraumplanung sowie die Tiefgarage. Der Masterplan, den das Team als Grundlage für den im Sommer 2008 durchgeführten Wettbewerb für die einzelnen Baufelder entwickelte, bestand aus weit mehr als der Festlegung von Baulinien und Gebäudehöhen. Er enthielt unter anderem eine detailliert entwickelte Freiraumplanung sowie ausführliche Spielregeln für die Architektur, unter anderem darüber, in welchen Zonen mit einem hohen Grad an Standardisierung zu rechnensein würde und an welchen Punkten besondere Akzente gewünscht waren. Da für diesen zweiten Wettbewerb, bei dem Laura Spinadel auch als Juror fungierte, die Teilnahme einer großen Zahl von Architektenstars mit prägnanter Handschrift erwartet wurde, sollten diese Vorgaben ein Auseinanderfallen des Projekts in unzusammenhängende Teilbereiche verhindern helfen.

Wie gut das gelungen ist, ließ sich nach der Jury-Entscheidung im Dezember 2008 bereits ansatzweise beurteilen, als erste Schaubilder und ein Baumassenmodell präsentiert wurden. Im Modell erinnern das LCC von Zaha Hadid, die Institutsgebäude von Carme Pínos, Peter Cook/CRAB und Hitoshi Abe sowie die Executive Academy von NO.MAD Arquitectos aus Madrid und das Hörsaalzentrum von BUSarchitektur ein wenig an eine Gruppe exotischer Riesentiere, die sich friedlich an einem Wasserloch versammelt haben. Wie die Projekte im Detail aussehen und welche Alternativen die Jury verworfen hat, ist erst seit letzter Woche für die Öffentlichkeit zugänglich. Eine von BUSarchitektur mitgestaltete, vorbildliche Ausstellung zeigt im Architekturzentrum Wien neben den Modellen eine vollständige digitale Dokumentation aller eingereichten Arbeiten in allen Bearbeitungsstufen sowie eine große „Evolutionsgeschichte“ des gesamten Verfahrens in Form eines Stammbaums, dessen Blätter von den diversen Preisträgern und Nachrückern gebildet werden.

Eine solche Darstellung ist zum Verständnis des Verfahrens auch dringend notwendig. Denn so logisch der oben geschilderte Ablauf der Projektfindung erscheint, so wenig war er in dieser Form geplant. Der erste, im Mai 2008 entschiedene Wettbewerb war als offener, einstufiger Realisierungswettbewerb ausgeschrieben. Das bedeutet, dass im Prinzip auch ein einziges Büro das gesamte Projekt hätte gewinnen können. Entsprechend umfangreich waren die verlangten Leistungen: eine Planung im Maßstab 1:500 für ein Raumprogramm mit 4500 Positionen und über 100.000 Quadratmeter Fläche sowie ein Entwurf für das architektonische Highlight des Projekts, das LLC, im Maßstab 1:200. Dass ein solches Verfahren besser in zwei Stufen ausgeschrieben werden sollte, war den Auslobern, einem Konsortium aus WU und Bundesimmobiliengesellschaft, zwar klar und auch ursprünglich so vorgesehen, scheiterte aber an einer scheinbar kleinen Verfahrensfrage. Während die WU de facto die Anonymität der Teilnehmer nach der ersten Stufe aufheben wollte, verlangte die Architektenkammer, die Anonymität der Projekte bis zum Schluss zu wahren. Man einigte sich schließlich darauf, alle Leistungen in eine anonyme Stufe zu packen.

Hinter dieser scheinbaren Spitzfindigkeit verbirgt sich eine Grundfrage des Wettbewerbswesens. Soll es, wie vom Vergaberecht für den öffentlichen Sektor vorgesehen, um die Suche nach dem besten Projekt oder um die Suche nach dem besten – also in der Thematik erfahrensten oder renommiertesten – Büro gehen? Im konkreten Fall sollte der hohe Detaillierungsgrad sicherstellen, dass sich nur große Büros beteiligen würden: Immerhin ist der bürointerne Aufwand für einen solchen Wettbewerb jenseits von 50.000 Euro anzusiedeln. Statt der erhofften 80 Büros nahmen aber trotz internationaler Ausschreibung und hoher Auftragssumme nur 23 Büros teil, und die Entwürfe waren alles andere als berauschend. Die Jury, mit Wolf Prix und Dietmar Eberle prominent besetzt, zog die Notbremse, ließ für die besten drei Projekte die Anonymität aufheben und entschied sich mit dem BUSarchitektur-Entwurffür jenes, das einen weiteren Wettbewerb für einzelne Bauteile ermöglichte. Der lief schließlich mit de facto aufgehobener Anonymität und vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren ab, bei dem auch die von der WU gewünschte Prominenz Interesse zeigte. Bei der Auswahl aus 140 Interessenten konnte die Jury aus Pritzker-Preisträgern – Hans Hollein, Zaha Hadid und Thom Mayne – und anderen Freunden wählen.

Dass Hadid das LCC gewann, ist wenig überraschend und spricht im Grunde für den anonymen Wettbewerb. Selten hat man ein so eitel skulpturales Gebäude gesehen, das außer einem hohen „Wow-Faktor“ nichts zu bieten hat. Was Canyons und das penetrante Luxus-Yacht-Motiv im Inneren mit der Aufgabe zu tun haben, ist schleierhaft. Der Werbeeffekt wird sich wohl trotzdem einstellen. Im Alltag hängt der Erfolg der neuen WU aber viel mehr vom Freiraum und der qualitätvollen Umsetzung der kleinteiligen Architektur ab, die dem großen Wurf an dieser Stelle sicher vorzuziehen ist.

[ Die Ausstellung zum Campus der Wirtschaftsuniversität ist noch bis 8. Juni zu sehen. Im Architekturzentrum Wien, Halle F3, Museumsplatz 1. Täglich 10 bis 19 Uhr bei freiem Eintritt. ]

16. Mai 2009 Spectrum

Sieht so Schule aus?

Der lange Gang, gesäumt von Klassenzimmern, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts. Zeitgemäßer Schulbau sieht völlig anders aus. Ein Blick nach Kopenhagen.

Stillstand auf Pump: So muss man die Taktik bezeichnen, mit der sich die Große Koalition im jüngsten Konflikt um die Finanzierung des Schulsystems aus der Affäre gezogen hat. Die Bundesschulen bekommen ein paarJahre lang ihre Miete gestundet, die Ruhe in den Konferenzzimmern ist wiederhergestellt, nur die Bundesimmobiliengesellschaft muss hoffen, dass die Regierung diese Schlaraffenlandlösung nicht auch anderen öffentlichen Einrichtungen in Geldnöten, wie zum Beispiel den Universitäten, anbietet.

Im aktuellen Konflikt zwischen Lehrergewerkschaft und Regierung ging es aber nur vordergründig um die Verteilung von Arbeitszeit und Geld. Im Hintergrund steht die Frage, wie viel Reform sich die Institution Schule in Österreich zumuten möchte. Dass diese Reform nötig ist, wird kaum mehr bestritten, spätestens seit die PISA-Studie gezeigt hat, dass das österreichische Schulsystem viel zu wenig aus der vorhandenen Begabung einer viel zu großen Anzahl seiner Schützlinge herausholt. Auch über die nötigen Veränderungen besteht im Wesentlichen Konsens, ganz gleich, ob die Konzepte von der Industriellenvereinigung, von Bildungswissenschaftlern oder von Praktikern kommen. Sie betreffen zum einen den organisatorischen Rahmen: verpflichtende Vorschule zur Frühförderung sowie spätere Weichenstellung in der Bildungskarriere durch ein – unter welchem Namen auch immer implementiertes – Gesamtschulmodell. Zum Zweiten geht es um eine Reform pädagogischer Prinzipien: Förderung statt Selektion als primärer Auftrag, mehr Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler, mehr fächerübergreifende Kooperation unter Einbeziehung der aktuellen Informations-und Kommunikationstechnologien.

Dass dieser veränderte Unterricht am besten in Räumen stattfindet, die mit der Schule, so wie wir sie kennen, nur noch wenig zu tun haben, zeichnet sich international immer deutlicher ab. Die Schule als Aneinanderreihung von Klassen an einem langen Gang, ergänzt um Sonderunterrichtsräume für den Kunstunterricht und die Naturwissenschaften, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts. Die damals entstehende Massengesellschaft brachte mit der Gangschule einen Bautypus hervor, in dem Arbeitskräfte für eine neue, von der industriellen Revolution geprägte Arbeitswelt ausgebildet werden sollten. Diese Schulen waren im Wesentlichen Disziplinierungsanstalten, deren Absolventen möglichst gleichartig funktionieren sollten. Um junge Menschen für die Anforderungen einer globalisierten Wissensgesellschaft fit zu machen, sind solche Räume alles andere als ideal.

Vor allem in skandinavischen Ländern wird der Raum als „dritter Pädagoge“ (neben den Lehrern und den anderen Schülern) betrachtet und versucht, neue pädagogische Konzepte räumlich umzusetzen. Ein Trend dabei ist die Kreuzung von Hallenschule und offener Großraumschule, zwei Schultypen, die bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren populär waren. Klassenzimmer im üblichen Sinn kennen diese Schulen nicht mehr, einige – wie die Hellerup-Schule im Kopenhagener Vorort Gentofte, geplant von arkitema – kommen überhaupt ohne geschlossene Räume aus, wenn man von Turnsaal und Werkstätten absieht. Die 2003 eröffnete Hellerup-Schule bietet Platz für 750 Kinder im Alter von fünf bis 14 Jahren, also von der Vorschule bis zum Einstieg in die Oberstufe des Gymnasiums. Organisatorisch gibt es in dieser Schule nach wie vor Stammklassen, denen allerdings kein eigenerRaum zugeordnet ist. Stattdessen gibt es kleine sechseckige Paravents, die rund 25 Kinder für Phasen konzentrierten Zuhörens aufnehmen können. Drei solcher Gruppen teilen sich altersgemischt eine größere Lernzone mit frei aufgestellten Tischen und PC-Arbeitsplätzen, einer offenen Küche und einem eigenen Lehrerarbeitsraum. Gelernt wird hier in einer planvollen Abfolge von Instruktions- und selbständigen Arbeitsphasen, ohne Schulglocke, aber mit klaren Vereinbarungen.

Wer einen Vormittag an der Hellerup-Schule verbringt, ist vor allem überrascht von der ruhigen und konzentrierten Atmosphäre, in der kein lautes Wort fällt und auch der Umgang unter den Kindern entspannter ist, als man es aus konventionellen Schulen gewohnt ist. Entwickelt wurde das Konzept in einem langen Planungsprozess gemeinsam von Lehrern und Pädagogen im Auftrag der Gemeinde, die eine neue öffentliche Schule für ein Stadterweiterungsgebiet errichten musste. Betreut von einem Konsulententeam, Hanna Bohn Vinkel und Jens Guldbaek, hat die Gemeinde Gentofte inzwischen auch bestehende Schulen nach denselben Prinzipien saniert.

Dass sich das Konzept der offenen Hallenschule auch für Gymnasien eignet, hat die Stadt Kopenhagen mit dem Örestad-Gymnasium bewiesen, einer Schule für 15- bis 18-Jährige, die 2007 eröffnet wurde. Hier gibtes unterschiedlich große Vortrags- und Laborräume, die um die zentrale Halle mit offenen Arbeitszonen herum angeordnet sind. Die Ausschreibung für den Wettbewerb, zu dem unter anderem Toyo Ito und Dominique Perrault geladen waren, enthielt an quantitativen Vorgaben nur Gesamtkosten, Nutzfläche und die Anzahl der Schüler und Lehrer, dafür ein 50 Seiten starkes pädagogisches Konzept. Gewonnen hat den Wettbewerb Kim Herforth Nielsen von 3XN Architekten mit einem geometrisch raffinierten und räumlich beeindruckenden Projekt, dem man aber etwas mehr echte Rückzugsräume wünschen würde. Denn die „Lounges“ für die Schüler sind zwar bequem, aber von allen Seiten einsehbar. Die Baukosten der Schule lagen, ebenso wie bei der Hellerup-Schule, im üblichen Bereich, da durch den Wegfall der Gänge ein höherer Nutzflächenanteil erzielt werden konnte.

Auch wenn diese Beispiele heute noch extrem aussehen, stellen sie mit großer Wahrscheinlichkeit den Typus für die Schule des 21. Jahrhunderts dar. Es wird sie in unterschiedlichen Größen und Formen geben und in Kombination mit anderen Nutzungen, wie das heute etwa in Holland im Konzept der „Breiten Schule“ praktiziert wird, die mit Bibliotheken, Büros der öffentlichen Verwaltung und Wohnbau gekoppelt ist. Die Frage, auf die sich die Bildungsdebatte in Österreich zuletzt reduziert hat – zwei Stunden mehr in der Klasse oder nicht –, stellt sich in solchen Schulen nicht mehr. Nicht nur, weil es keine Klassen gibt, sondern vor allem, weil diese Schulen Orte sind, an denen man sich gern aufhält. Wenn Pädagogen, Schulverwaltung und Architekten an einem Strang ziehen, sollte das auch in Österreich möglich sein.

Publikationen

2025

Neue Lernwelten
Impulsgebende Schulen und Kindergärten in Österreich

In den letzten 15 Jahren sind in Österreich zahlreiche Bildungsbauten entstanden, die Impulse für neue Lernwelten jenseits der traditionellen Gangschule geben. Hinter dieser Entwicklung stehen gemeinsame Bemühungen von Akteur*innen aus Pädagogik, Architektur und öffentlicher Verwaltung, Bildungsräume
Hrsg: Christian Kühn, ÖISS — Österreichisches Institut für Schul- und Sportstättenbau
Verlag: JOVIS

2018

Operation Goldesel
Texte über Architektur und Stadt 2008–2018

Christian Kühns Texte sprechen auch Leser an, die mit Architektur nicht beruflich befasst sind. Sie schätzen daran, dass er Architektur nicht als zweckmäßigen Hintergrund oder als Bühne sieht, sondern als Idee, als Traum oder als verschlungenen Weg einer Projektgeschichte: vom ersten Entwurf über den
Autor: Christian Kühn
Verlag: Birkhäuser Verlag

2008

Ringstraße ist überall
Texte über Architektur und Stadt 1992-2007

Warum vergolden die Österreicher ihre Baudenkmäler selbst dann, wenn sie zu Staub zerfallen? Wieso bauen die Deutschen ihren Automobilen Tempel? Und was passiert, wenn Ernst Neufert in Graz auf Buster Keaton trifft? Seit 1992 bereichern die Texte Christian Kühns im Feuilleton der Tageszeitung „Die Presse“,
Autor: Christian Kühn
Verlag: SpringerWienNewYork

2007

Türme & Kristalle
Wettbewerb ehemalige Sternbrauerei Salzburg

Die Diskussion über die Möglichkeiten, an einer Stadt kreativ weiterzubauen, wird, wenn überhaupt, nur punktuell geführt. Als die Stadt noch von Planungsbehörden verordnet wurde, gab es dafür auch keinen Bedarf. Das ändert sich im Zeitalter, in dem private Investoren ganze Stadtteile entwickeln. Auf
Hrsg: Christian Kühn
Verlag: Verlag Anton Pustet