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Auf nach Tirol!
Spectrum

Innsbruck: inzwischen eine der interessantesten Architekturregionen Europas. Ein Stadtspaziergang abseits des „Goldenen Dachls“.

7. August 2010 - Christian Kühn
Dass Tirol einmal zu einer der architektonisch interessantesten Regionen Europas gehören würde, hätte vor zehn Jahren niemand gedacht. Erste Anzeichen, dass hier etwas Besonderes im Entstehen war, zeigten sich im Herbst 2002, als in Innsbruck praktisch zeitgleich die von Dominique Perrault in Zusammenarbeit mit ATP geplante Rathauspassage und die Bergisel-Schanze von Zaha Hadid eröffnet wurden. Die Innsbrucker überstanden diese Stararchitekten-Doppelattacke anstandslos und zeigten sich parteiübergreifend so begeistert, dass sie sich von Hadid gleich um viele Millionen Euro mit einem weiteren Wahrzeichen beglücken ließen, den Stationen der Hungerburgbahn, die 2007 eröffnet wurden.

Dem Phänomen der aktuellen Tiroler Architektur wird diese verkürzte Darstellung freilich nicht gerecht. Das Bemerkenswerte an der Entwicklung sind nämlich nicht die einzelnen Highlights, die sich gut auf die Titelseiten der Zeitungen bringen lassen, sondern die Dichte an Qualität, wie sie heute etwa in Innsbruck zu erleben ist. Erst wenn ambitionierte Einzelprojekte auf Rufweite miteinander ins Gespräch kommen, entsteht ein attraktiver Stadtraum, der mehr ist als die Summe seiner Teile.

Um diesen Stadtraum erfassen zu können, macht man sich am besten zu Fuß auf den Weg. Meine Routenempfehlung beginnt im Zentrum beim Stadtforum der Bank für Tirol und Vorarlberg von Heinz Tesar, einem Eckgebäude an der Gilmstraße, und endet auf der anderen Seite des Inns beim Q West an der Höttinger Au, einem noch in Bau befindlichen neuen Stadtteilzentrum mit Geschäften und Büros in den Untergeschoßen und einem Gymnasium auf dem Dach, entworfen von den Architekten Helmut Reitter und Eck & Reiter. Die sehenswerten Bauten, die sich an dieser Strecke von rund zwei Kilometer Länge finden, zeichnen sich nicht zuletzt durch öffentlich zugängliche Innenräume von besonderer Qualität aus.

Beginnen wir mit Heinz Tesars BTV-Stadtforum, dessen viergeschoßige, nach oben voneinem geblähten Betonsegel abgeschlosseneEingangshalle eine fast sakrale Atmosphäre besitzt. Schräg gegenüber in der Erlerstraße liegt der Eingang zum Kaufhaus Tyrol, das David Chipperfield im Auftrag des Projektentwicklers René Benko entworfen hat.

Dass es sich lohnt, um den besten Entwurfzu kämpfen, bestätigt sich hier eindrucksvoll. Die Aufteilung der Funktionen wird bei den umstrittenen Vorprojekten nicht anders gewesen sein, Chipperfield hat daraus Architektur gemacht, eine logische und räumlicheEinheit, die sich meilenweit über das allgemeine Niveau bei dieser Aufgabe erhebt. Museumsatmosphäre ist dabei zum Glück keineentstanden: Das Tyrol ist der perfekte „ThirdPlace“ fürs entspannte Shoppen. Bei einer Rolltreppenfahrt durch die zentrale Halle kannman die raffinierte Wegführung und Staffelung der Räume nach oben bewundern.

Der Haupteingang des Tyrol führt auf die Maria-Theresien-Straße, auf der gerade die Neugestaltung der Fußgängerzone nach Plänen der Architektengruppe awg – ein Akronym für „Alles wird gut“ – abgeschlossenwurde. Auf das W-Profil der Straße hatten die Architekten keinen Einfluss, auch nicht auf die Unsitte, den Straßenraum mittig mit Schanigärten zu verstellen. Immerhin gibt es sehenswerte Bronzekandelaber und eine brauchbare Stadtmöblierung.

Überquert man die Straße, gelangt man nach ein paar Schritten zum nächsten überdachen Raum, der Perraultschen Rathauspassage. Vom Tyrol verdorben, wird man die Mall hier etwas weniger beeindruckend finden als bei früheren Besuchen, aber der Turm des Rathauses mit den von Peter Kogler gestalteten Glasflächen kann immer noch überzeugen, wie überhaupt die Funktionsmischung von kommerziellen und kommunalen Flächen, die hier auch außerhalb der Amtsstunden für Leben sorgt.

Nimmt man von hier aus den linken Ausgang Richtung Anichstraße, erreicht man nach einigen Minuten einen Ort, den man in dieser Reihe eher nicht vermuten würde, das Medizinzentrum in der Anichstraße, entworfen von Michael Loudon und Josef Habeler. Bereits 2001 eröffnet, steht es den oben den genannten Projekten architektonisch nicht nach, angesichts der Aufgabe, 40.000 Quadratmeter Krankenhausfläche in die Stadt zu implantieren, eine besondere Leistung. Auchhier bestechen die Innenräume, von der Eingangshalle mit ihrem gedämpften, über zwei Höfe einfallenden Licht bis zu den Stationsgängen mit Blick auf die Berge.

Das Medizinzentrum ist gewissermaßen der Fels, an dem der Strom der Anichstraße Richtung Inn zur Universitätsbrücke gelenkt wird. Hier befindet sich linker Hand die gerade eröffnete neue Universitäts- und Landesbibliothek der Architekten Eck & Reiter, gemeinsam mit Dieter Rossmann. (Genau: Das sind dieselben Eck&Reiter wie oben, diesmal in anderer Kombination. Die Fähigkeit zu projektweise wechselnden Partnerschaften scheint eine der Qualitäten der jüngeren Tiroler Architektengeneration zu sein). Aus einem Abstandsgrün wurde hier eine raffinierte, schwellenlose Verbindung von Universität und Stadt geschaffen.

Überquert man die Brücke, trifft man linker Hand auf ein Wohnhaus der Architekten Manzl, Ritsch und Sandner, der letztes Jahr fertiggestellt wurde. Es enthält vor allem Kleinwohnungen, die in der Regel als Geldanlage erworben und vermietet werden. Dass für diese triviale Aufgabe ein so beachtliches Projekt entstehen konnte, verdankt sich dem Architekturwettbewerb, zu dem der Bauherr sich verpflichten musste, um die nötigen Änderungen am Bebauungsplan zu erhalten. Auch hier besteht eine besondere Qualität in einem öffentlich zugänglichen Binnenraum, dem mit Holzlatten verkleideten Innenhof.

Wer durch diesen Hof auf die andere Seite schlüpft, erreicht nach wenigen Gehminuten das Bischof-Paulus-Studentenheim von Johannes Wiesflecker, zwei schwebende Schatzkisten, die das Thema der Verbindung von halböffentlichen und privaten Flächen ein wenig verspielt ausloten. Ab Herbst wird man diesen Spaziergang mit einem Besuch im Q West abschließen und erforschen können, wie gut sich die Kombination von Schule und Shopping bewährt.

Ganz gleich, wie das Ergebnis ausfällt: Den Innsbruckern ist es gelungen, ihre Stadt zum Projekt zu machen und eine architektonische Kultur zu entwickeln, die vorbildlich ist. Bürgermeister und Beamte von Eisenstadt westwärts: Auf nach Tirol.

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