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Chronik eines weichen Blicks
Der Standard

Friedrich Achleitner reist seit 45 Jahren durchs Land und dokumentiert die österreichische Architektur. Der aktuelle Band: 500 Seiten

20. November 2010 - Wojciech Czaja
Nach mehr als 15 Jahren Arbeit liegt der dritte und somit letzte Band des Wien-Führers „Österreichische Architektur“ druckfrisch auf dem Tisch. Das 500 Seiten starke Buch, das kürzlich im Residenz Verlag erschienen ist, gilt als eines der wichtigsten und zentralen Nachschlagewerke in puncto Baukultur. Wie oft scheitert unsereiner bei der Recherche in Google, Wikipedia und meterdicker Literatur! Die beste Lösung ist immer wieder der Griff „zum Achleitner“. Nirgendwo sonst ist die Chance so groß, auf Informationen über irgendein x-beliebiges Gebäude zu stoßen, wie hier.

Weit mehr als 3000 Bauwerke in den Wiener Gemeindebezirken Döbling, Brigittenau, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing ging Friedrich Achleitner in den letzten Jahren ab. Kilometerweise. Michael Diem und Gabriele Kaiser begleiteten ihn dabei.

Bis auf ein paar Privathäuser und Botschaftsgebäude, in die ihm der Zutritt (jahrelang) verwehrt wurde, kennt er jedes einzelne aufgelistete Gebäude von innen - manchmal auch durch mehrmaligen Besuch. „Man kann nicht über Architektur schreiben, ohne dass man sich selbst ein Bild davon gemacht hat“, sagt der Schriftsteller nüchtern und trocken. „Und wenn ein Projekt sehr komplex ist, dann muss man eben öfters hineingehen.“

Beschrieben werden Einfamilienhäuser und Wohnhausanlagen, Kultur- und Bildungsbauten, Kaufhäuser und Büros, Sportstätten und Gärten, aber auch Bauwerke aus den Bereichen Verkehr und Industrie. Sogar durch den Wasserbehälter des Lainzer Tiergartens kroch der 80-Jährige hindurch. Achleitner: „Die Architektur ist so umfangreich. Ich sehe meine Aufgabe darin, die Leute zu diesem Thema hinzuführen. Und wenn es mir gelingt, dass man Adolf Loos nicht länger als Jugendstilarchitekten beleidigt, dann ist schon viel erreicht.“

Worauf Achleitner besonderen Wert legt: „Das neue Buch ist keine Enzyklopädie, es ist kein Feiern von Landmarks und Starbauten, und es ist auch keine Auflistung von besonders schützenswerter Bausubstanz. Viel wichtiger ist mir, das ganze Relief einer Stadt abzubilden. Die weniger aufregenden Bauten gehören auch dazu.“

Das bisweilen flache Relief hat mitunter großen Humor. Glatzgasse 9, 1190 Wien, Architekt Otto Wagner junior, errichtet 1904: „Vielleicht hatte Otto Wagner doch recht, wenn er seinen Sohn als untalentiert bezeichnete. Jedenfalls hatte dieser das Haus im eigenen Auftrag erbaut, und dafür wirkt es relativ uninspiriert.“

Floridusweg 46-48, 1210 Wien, Architekten Hubatsch mit Szyszkowitz & Kowalski, errichtet 1999, kurz und bündig: „Die Anlage macht den Eindruck, als hätten sich die engagierten Grazer Architekten unter den Wiener Baubedingungen nicht recht wohl gefühlt.“

Bellevuestraße 59, 1190 Wien, Architekt Walter Loos, errichtet 1933, noch kürzer, noch bündiger: „Es ist nicht gelungen, das Haus zu finden.“

Und schließlich Ketzergasse 310, 1230 Wien, errichtet 1903: „(Keine weiteren Unterlagen)“.

Doch bis auf die paar schmunzelnden Ausreißer findet Achleitner bei jedem noch so langweiligen, gesichtslosen Bau ein paar aufmunternde Worte. „Als ich mit der Arbeit in Wien begonnen habe, hätte ich mir nie gedacht, dass daraus eines Tages drei dicke Bände werden“, erinnert er sich zurück. Und tatsächlich sei die Auswahl der Gebäude in den bisher erschienenen Architekturführern viel strenger und rigider gewesen.

Mit der Zeit wird man sensibler

„Doch mit der Zeit entwickelt man sich weiter. Man wird sensibler, man wird weicher im Blick, und man findet selbst bei einem sehr stillen und zurückhaltenden Gebäude noch etwas Charakteristisches, über das man schreiben kann. Ich nehme an, wohl aus diesem Grund hat die Arbeit an diesem Band auch 15 Jahre gedauert.“

Begonnen hatte die Recherche am österreichischen Architekturführer übrigens vor 45 Jahren. Etliche Autos und Reifensätze fuhr Friedrich Achleitner seit dem ab. 1980 erschien Band I mit Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg. 1983 erschien Band II mit Burgenland, Steiermark und Kärnten. 1990 erschien schließlich Band III / Teil 1 mit den Wiener Bezirken 1 bis 12, 1995 Band III / Teil 2 mit den Bezirken 13 bis 18, mit den fünf Außenbezirken ist das Werk nun komplett. Fast. Es fehlt noch Niederösterreich.

„Das mache ich nicht mehr. Erstens sind eh schon viele Leute unterwegs durch das Land, zweitens habe ich mein gesamtes Archiv ohnehin schon dem Architekturzentrum Wien übergeben, die können daran nun weiterarbeiten, und drittens will man sich mit 80 nicht mehr so ein großes und umfangreiches Projekt aufhalsen. Es ist genug.“

Wie geht's weiter? „Nichts mehr mit Architektur. Ich will jetzt wieder Literatur machen. Und wenn nicht, dann werde ich Taxifahrer. Ich kenne jede einzelne Straße in dieser Stadt.“
[ Friedrich Achleitner, Architekturzentrum Wien (Hg.), „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert III/3, Wien 19.-23. Bezirk“. € 49,90 / 500 Seiten. Residenz Verlag, Salzburg 2010 ]

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