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Adieu, Avantgarde
Spectrum

Ist die Zeit gekommen für die Entsorgung des Avantgarde-Begriffs? Oder braucht er nur eine neue Ausrichtung, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird?

22. Januar 2011 - Christian Kühn
Bruno Kreiskys 100. Geburtstag geht auch an der Kunstszene nicht unbemerkt vorüber. Vergangenen Sonntag lud das Wiener Burgtheater unter dem Titel „Avantgarde Ges.m.b.H.“ zu einer Revue von Podiumsdiskussionen, in denen Künstler, die sich in den 1970er-Jahren zur Avantgarde zählten, mit jüngeren Künstlern und Kulturwissenschaftlern über ihre Einschätzung des damaligen kulturellen Aufbruchs und über den Avantgardebegriff an sich diskutierten.

Der Titel bezog sich auf eine Episode der Kulturpolitik Ende der 1970er-Jahre. Hans Hollein und Adolf Frohner war es damals gelungen, Kreisky von der Idee einer Ausstellung neuer österreichischer Kunst in den USA zu überzeugen, um das Bild des Landes international aufzupolieren. Der Kanzler beauftragte den Wiener Galeristen John Sailer mit der Umsetzung, der daraufhin die „Avantgarde Ges.m.b.H.“ gründete, fünf internationale, renommierte Kuratoren einsetzte und von diesen je einen Künstler nominieren ließ. Hollein, der gewieftere Taktiker, war am Ende dabei, mit ihm Walter Pichler, Günter Brus, Hermann Nitsch, Peter Kubelka und Arnulf Rainer. Die Ausstellung „Rituals. An Austrian Phenomenon“ kam aber nie zustande. Nach heftigen Protesten von Kulturbeamten und Künstlern, die sich übergangen fühlten, blies Kreisky das Unternehmen ab.

Aus heutiger Sicht, erklärte John Sailer bei der Podiumsdiskussion, finde er sich in seiner Wahl insofern bestätigt, als Hollein, Pichler, Rainer und Brus als Mitglieder des Kunstsenats gewissermaßen staatstragende Künstler geworden seien – was freilich in erster Linie deren nachhaltiges Genie im Knüpfen von Seilschaften beweist. Peter Weibel, ebenfalls Gast im Burgtheater, brachte es in einer von Sailer nur zaghaft widersprochenen Replik auf den Punkt: Schon damals hätten sich die nominierten Künstler über den Umweg des Oberkurators Sailer ihre Kuratoren selbst ausgesucht.

Mit „Avantgarde“ nicht mehr zu bezeichnen als die jeweils aufstrebende Gruppe von jüngeren Künstlern, die sich gegen das Establishment auflehnt, um dann selbst an dessen Stelle zu verkalken, wird dem Begriff freilich nicht gerecht. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts verstanden sich immer als künstlerischer Teil gesellschaftlicher Bewegungen, als kriegerisches Ende der Kunst, das ohne Rücksicht auf Verluste einer Sache dient, deren Schwerpunkt außerhalb der Kunst liegt. Dass dazu auch totalitäre Avantgarden zählen, die – etwa im Italien des Faschismus oder in der frühen Sowjetunion – herausragende Kunst und Architektur hervorgebracht haben, ist kein Zufall. Machtkonzentrate sind das Grundnahrungsmittel der Avantgarde, wobei es fürs Erste gleich ist, ob sie einer demokratischen Massenbewegung oder einer Diktatur entspringen. – Die österreichische Avantgarde der Ära Kreisky ernährte sich in dieser Hinsicht von den Reserven der 1968er-Bewegung und fühlte sich berufen, die „verkrusteten, vereisten, betonierten Verhältnisse“ der österreichischen Nachkriegszeit aufzubrechen, wie Peter Weibel, Elsa Prochazka und Wolf D. Prix in ihren Beiträgen zu den Podiumsdiskussionen im Burgtheater dokumentierten.

Dass die jüngeren Diskutanten mit dem Avantgarde-Begriff nur wenig anfangen konnten, liegt nicht nur am Fehlen klarer Feindbilder, sondern vor allem an der dunklen Ahnung, als Künstler nur noch wirkungslose Scheinkämpfe führen zu können. Bei den Architekten unter den Avantgardisten ist das besonders evident. Man braucht nur im Katalog des legendären, von Peter Noever 1992 im Museum für angewandte Kunst unter dem Titel „Architektur am Ende?“ organisierten Symposiums nachlesen, was Frank Gehry im Vorwort den selbst ernannten Kämpfern im „nicht erklärten Krieg gegen die Architektur“ wie Zaha Hadid und Coop Himmelblau – damals noch ohne freigestelltes (l) firmierend – ins Stammbuch schreibt: „Ich kann mich daran erinnern, genauso gedacht zu haben wie sie, aber jetzt stellen sich die Dinge einfacher dar. Ich bin Architekt geworden, weil ich bauen wollte, und um bauen zu können, muss ich innerhalb des gesellschaftlichen Systems bauen.(...) Ich bin letzten Endes zuversichtlich, dass sie (die Teilnehmer am Symposium, CK) alle Aufträge erhalten und wunderbare Bauten errichten werden, und nicht herumsitzen und sich Gedanken über das Ende der Architektur machen müssen.“ Wie recht er mit dieser Prophezeiung hatte, erstaunt Gehry heute wahrscheinlich sogar selbst.

Für Avantgarde im klassischen Sinn ist in diesem Denken aber kein Platz. Die Massenbewegung, in deren Dienst es sich stellt, ist die Akkumulation von Kapital. Die jüngeren Bauten und Projekte von Hadid und Coop Himmelb(l)au verkörpern das dazu passende Ideal, die Synthese fließender Bewegung und solider Objekthaftigkeit: Der Dagobert-Duck'sche Geldspeicher hätte heute die Form eines verdrehten Doppelkegels. Dass sich diese Architektur totläuft, sobald der Markt gesättigt ist und seine Lust am Objekthaften verliert, ist offensichtlich.

Die kommende Architektengeneration steht vor der Aufgabe, beim Bauen nicht das Objekt, sondern den Prozess in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn sie Avantgarde sein möchte, wird sie sich mit der letzten verbliebenen Massenbewegung, der Ökologiebewegung, verbünden müssen, allerdings ohne die Weltprobleme durch Wärmedämmung, Lehmbauweise oder biotechnologische Zauberformeln lösen zu wollen. Dafür wird sie neue und oft widersprüchliche Qualitäten brauchen: Liebe zum Kurzfristigen und Geschick im Umgang mit dem Zufall ebenso wie einen langen Atem in der Verfolgung von Zielen, deren Erreichung vielleicht erst ihre Urenkel erleben dürfen. Sie wird die Geduld und Ausdauer von Gärtnern mit der Präzision von Raumfahrtingenieuren vereinen müssen. Ob diese Perspektive der skeptischen jungen Generation ausreicht, um sich der Sache Architektur mit der gleichen unbedingten Leidenschaft zu verschreiben wie die Generation der Coop Himmelb(l)aus, werden die nächsten Jahre zeigen.

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