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Die Utopie im Reservat
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Transparenz, Wettbewerb und eine ganzheitliche Stadtplanung hat Wiens Stadträtin Vassilakou angekündigt. Utopie oder Illusion? Ein Stadterweiterungsprojekt in Bozen zeigt, dass es möglich ist. In Wien regiert noch die Macht des Faktischen.

19. März 2011 - Christian Kühn
Als die neue Wiener Planungsstadträtin und Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou auf Einladung der Plattform für Architekturpolitik und Baukultur vor vier Wochen eine Grundsatzrede unter dem Titel „Zehn Thesen zur Stadtplanung“ hielt, war der Andrang im Architekturzentrum Wien gewaltig. Das Publikum wurde nicht enttäuscht. Vassilakou skizzierte vor den versammelten Architekten und Planern die Prinzipien einer zeitgemäßen Stadtplanung mit klaren Schwerpunkten und messbaren Zielen: Vorrang der inneren Verdichtung vor der Stadterweiterung; die Schaffung besser nutzbarer und attraktiverer öffentlicher Räume; die Umkehrung des Trends zur Stadtflucht unter jungen Familien; höhere Energieeffizienz, nicht nur als Sparmaßnahme mit Umweltschutzbonus, sondern als Strategie, langfristig die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren und damit Freiheit zu gewinnen. Auf der operativen Ebene bekannte sich Vassilakou zu Transparenz und Wettbewerb, Bürgerbeteiligung und zum kritischen Dialog mit der Fachöffentlichkeit. Die abschließende Aufforderung, Mut zur Utopie zu haben, war mehr als eine rhetorische Floskel: Schon davor war zwischen den Zeilen herauszuhören, dass sie – von der Verkehrsplanung bis zur Abschöpfung von Widmungsgewinnen – zu radikaleren Ideen bereit wäre, als sich im Moment politisch umsetzen lassen.

Das Fachpublikum reagierte begeistert. An den Thesen selbst lag das nicht: Vereinzelt hatte man sie in ähnlicher Form schon von ihrem Vorgänger hören können. Der Unterschied lag in der Art, in der diese einzelnen Punkte in einen Zusammenhang gebracht wurden. War das Ideal der Wiener Stadtplanung bisher die Patchwork-City, also gewissermaßen die Utopie im Reservat, von der Bike-City bis zur Frauen-Werk-Stadt, so klang bei Vassilakou das Ideal einer ganzheitlichen Stadtplanung an, bei der in großen räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen gedacht wird.

Dass die Zunft der Planer diese Ansage mit Begeisterung aufnimmt, ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin darf sie sich dadurch in ihrer Bedeutung gestärkt fühlen. Aber ist sie auch realistisch? Ist das, was wir heute unter „Stadt“ verstehen, überhaupt noch ganzheitlich planbar? Sind es nicht doch die Einzelprojekte, mit denen man im Stadtkörper Akupunktur betreiben muss, in der Hoffnung, dass sich dieser Körper, von solchen Nadelstichen gestärkt, auf geheimnisvolle Weise zum Besseren entwickelt? Und muss man sich beim Planen im großen Maßstab nicht damit abfinden, dass das Resultat zwangsläufig eher auf die Interessen der Investoren als auf jene der Stadtbewohner zugeschnitten ist?

Tatsächlich wäre es schwer, in Wien Beispiele einer solchen Stadtplanung zu finden. Die Großprojekte, vom Hauptbahnhof über den Westbahnhof bis zur Seestadt Aspern, sind von „Sachzwängen“ aller Art bestimmt, was sie nicht schlechter macht als viele andere Projekt auf der ganzen Welt. Aber für eine Stadt, die sich gern als die „lebenswerteste“ der Welt verkauft, ist das nicht wirklich zukunftsfähig.

Wie man in der internationalen Städtekonkurrenz auch ohne Kniefall vor den gängigen Maßstäben der Investorenarchitektur punkten kann, lässt sich an einem aktuellen Projekt für Bozen zeigen. Die Südtiroler Hauptstadt ist mit rund 100.000 Einwohnern zwar in der Dimension nicht mit Wien vergleichbar, das Projekt einer inneren Stadterweiterung im Umfeld des bestehenden Bahnhofs erreicht aber eine Dimension von 30 Hektar – für eine Stadt wie Bozen eine gewaltige Kraftanstrengung.

Als eine der pro Kopf reichsten Städte Italiens ist Bozen einem hohen Entwicklungsdruck ausgesetzt, dem auf der stadtplanerischen Seite bisher kein Konzept gegenüberstand. Die Idee, durch eine Reduktion und Verlegung von Gleisanlagen Entwicklungsfläche zu gewinnen, ist bereits einige Jahre alt, ein erstes Projekt war jedoch an Bürgerprotesten gescheitert.

Der städtebauliche Ideenwettbewerb, der Ende Februar entschieden wurde, sollte unter internationaler Beteiligung eine Vision hervorbringen, die auch die Stadtbewohner und nicht nur die Investoren begeistert. Die Jury unter dem Vorsitz von Dietmar Eberle und Christoph Ingenhoven, der als Architekt des Bahnhofs Stuttgart Erfahrung sowohl mit Visionen als auch mit Bürgerprotesten gemacht hat, wählte aus dem Kreis der Bewerber zehn aus, zu denen als prominenteste Daniel Liebeskind, Ben van Berkel, Cino Zucchi, Stefano Boeri, Cruz und Ortiz, Kees Christiaanse-KCAP und Boris Podrecca gehörten, jeweils in Kombination mit zahlreichen Partnern und Fachplanern.

Das Rennen gemacht hat das Projekt von Boris Podrecca und seinem Team, zu dem unter anderem das Schweizer Büro von Theo Hotz gehörte. Podrecca hat schon mehrere Projekte in Bozen bearbeitet, etwa das Hotel Greif oder die Neugestaltung des Kellereigeländes am Grieser Platz. Vielleicht ist ihm deshalb eine derart nahtlose Einbindung in das bestehende Stadtgefüge gelungen. Wie alle Projekte, die in die engere Wahl kamen, verschwenkt Podrecca die Bahntrasse um 45 Grad, um einen Großteil des Areals ohne Barriere an die Altstadt anbinden zu können. Sein Projekt belässt aber auch das alte Bahnhofsgebäude, einen respektablen, aber alles andere als spektakulären Bau aus den 1930er-Jahren, das weiterhin als einer der Zugänge zum Verkehrsterminal dienen darf. Dahinter überspannt allerdings ein 150 mal 50 Meter großes, mehrfach geknicktes Flugdach quer die Gleisanlagen und verbindet die Altstadt mit dem südöstlichen Teil der Stadterweiterung. Ein ähnliches Dach mit großen pneumatischen Kissen aus PTFE-Folie hat Podrecca vor Jahren als Überdachung des Wiener Pratersterns vorgeschlagen.

Die Qualität das Bozener Projekts liegt aber nicht an Detailformen, sondern an der präzisen, an jedem Punkt gut proportionierten Ausformung der Stadträume und ihrer Verbindung. Deutlich wird das vor allem im Vergleich mit den anderen eingereichten Projekten, die mit Ausnahme des Projekts von KCAP durchwegs auf große Figuren setzen. Bei Podrecca liegt das Hauptaugenmerk auf dem öffentlichen Raum, eine große Piazza im Bahnhofsbereich, ein grüner Hügel mit Punkthäusern für den kommerzielleren Teil im Süden, Baublöcke mit grünen Innenhöfen im gemischten Baugebiet, verbunden durch einen Grünzug, der sich bis zu den Weinbergen im Norden fortsetzt.

Man kann dieses Projekt als ein fast naives Bekenntnis zur europäischen Stadt lesen, von der Dietmar Eberle einmal gesagt hat, sie sei die größte Erfindung, die Europa überhaupt hervorgebracht hätte. Das ist eine gewagte These, denn gut funktionierende Großstädte mit Hunderttausenden Einwohnern gab es in China schon vor 2000 Jahren. Die Idee der Polis – als politische und zugleich stadträumliche Struktur – ist aber tatsächlich etwas Einzigartiges: Sie ist um den öffentlichen Raum herum errichtet, nicht um Burg oder Tempel und auch nicht um die Hochhäuser der Banken, Investoren und Bauträger.

Wie viel dieses Bekenntnis zur Stadt wert ist, wird die Umsetzung zeigen, sowohl bei Podreccas Plänen für Bozen als auch bei Vassilakous Thesen für Wien. Wenn Transparenz und Wettbewerb für die Grünen eine zentrale Rolle spielen, sind sie allerdings gerade dabei, ihren ersten Kredit zu verspielen. Die von den Grünen mitgetragene neue Wohnbauoffensive, bei der mit öffentlichem Geld ein Sektor von frei finanzierten Billigwohnungen geschaffen wird, überlässt die architektonische Qualität dem Gutdünken der Wohnbaugenossenschaften. Der Protest der Fachöffentlichkeit, die auch für diesen Sektor Qualitätswettbewerbe einfordert, ist massiv. Der erste Anlass für den versprochenen kritischen und konstruktiven Dialog wäre damit wohl gefunden.

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