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Klasse mit Katze
Spectrum

Das Siegerprojekt für den Bildungscampus Gudrunstraße auf dem Wiener Hauptbahnhofgelände: eine kleine Revolution im Wiener Schulbau, die auch international Furore machen könnte.

2. April 2011 - Christian Kühn
An guten Absichten hat es der Stadt Wien beim Thema Schulen und Kindergärten nie gefehlt. Jahrzehntelang ging es ihr darum, sauber standardisierte Schulen in den Stadterweiterungsgebieten zu errichten und im Altbestand für Betriebsfähigkeit zu sorgen. In den 1990er-Jahren erregte das „Schulbauprogramm 2000“ auch international Aufsehen: Architekten, die bei der Biennale in Venedig ausgestellt hatten, erhielten Direktaufträge für neue Schulen, die bunter und räumlich interessanter waren als das bis dahin übliche Repertoire. An der Typologie der klassischen Gangschule mit aneinander gereihten Klassen im Format von neun mal sieben Metern änderte sich aber nichts, denn für die Unterrichtsbereiche der Schulen galt nach wie vor ein genaues Regelwerk, das von der Raumgröße bis zur Lage des Waschbeckens und zur Anzahl der Vorhangschienen so gut wie jedes Detail vorschrieb.

Mit dem Antritt von Vizebürgermeisterin Grete Laska mussten sich die Proponenten des Schulbauprogramms 2000 der kritischen Frage stellen, was Kinder davon haben, in bunteren Schulen unterrichtet zu werden, die an jedem Standort anders aussehen. Wozu mehr Geld für Architektur ausgeben, wenn das am Unterricht nichts ändert? Laska – selbst ausgebildete Volksschullehrerin – ließ die Idee des „Bildungscampus“ entwickeln, der bis heute die Basis der Wiener Schulbaupolitik darstellt. Er fasst an einem Standort mehrere Bildungsstätten, vom Kindergarten über die Volksschule bis zur Hauptschule und in Zukunft auch zur „Neuen Mittelschule“, zusammen und bietet ihnen eine gemeinsame Infrastruktur von den Turnsälen bis zum Speisesaal und zur Bibliothek. Nach Laskas Vorstellung sollten dafür wieder Standardtypologien entwickelt werden. In der Praxis entschied man sich für individuelle Wettbewerbe, allerdings unter Beibehaltung der bisherigen Richtlinien, die kaum Innovationen zulassen.

Inzwischen sind zwei dieser Einrichtungen in Betrieb, eine im Stadterweiterungsgebiet Monte Laa, eine weitere auf dem ehemaligen Gelände des Nordbahnhofs am Rudolf-Bednar-Park, kompakte utilitaristische Gehäuse für jeweils rund 700 Kinder und ihre Lehrer und Kindergärtner. Sie sehen modern aus, die Klassen sind hell und die Gänge leicht zu reinigen. Dass hier eine Welt für Kinder entstanden ist, würde aber niemand ernsthaft behaupten. Es ist trotz allem Bemühen der Planer eine Welt, in der die Bürokratie regiert, Hygienevorschriften und Betriebskosten, Arbeitsinspektorat und Lüftungstechnik. Natürlich braucht es auch all das, um eine Schule gut zu führen. Es geht aber darum, wessen Interessen im Mittelpunkt stehen: die der Kinder und Lehrer oder die der Bürokratie.

Beim neuen Campus für das Areal des ehemaligen Südbahnhofs, dem Sonnwendviertel, einem Stadtteil mit geplanten 5000 Wohnungen, hat sich die Stadt zu einem Neustart entschlossen, zu dem einiges an Mut gehört. Statt für den Architekturwettbewerb auf die bisherigen Richtlinien für den Wiener Schulbau zurückzugreifen, haben diezuständigen pädagogischen Magistratsabteilungen für Schulen und Kindergärten gemeinsam mit dem Österreichischen Institut für Schul- und Sportstättenbau die räumlich-pädagogischen Anforderungen in Form eines„Qualitätenkatalogs“ zusammengefasst. Raumgrößen sind darin nur als ungefähre Werte angegeben, die einzig verbindliche Zahl ist die Gesamtnutzfläche der Schule, die einen Rahmen darstellt, innerhalb dessen die Architekten zu arbeiten hatten. Der Qualitätenkatalog legt keine Lösungen fest, sondern einige grundsätzliche Konfigurationen und die Leistung, die sich die Auftraggeber davon in pädagogischer Hinsicht erwarteten. Die Grundeinheit bilden nach wie vor Klassenräume, die sich jeweils zu viert zu einem „Cluster“ um einen gemeinsamen „Marktplatz“ in der Mitte gruppieren und mit diesem flexibel verbunden sind. Zu jedem Cluster gehört auch ein „Projektraum“ und ein eigener „Teamraum“ für die Lehrerinnen.

Sensation, nicht nur für Wien

Das Ergebnis des Wettbewerbs ist nicht nur für Wiener Verhältnisse eine Sensation. Anna Popelka und Georg Poduschka – kurz PPAG – haben in ihrem Siegerprojekt eine großteils nur zweigeschoßige, in einem Raster von 4,1 Metern in die Fläche ausgreifende Struktur entwickelt, die eine Vielzahl gut proportionierter Innen- und Außenräume schafft. Die Klassen haben zwar alle dieselbe quadratische Grundfläche, differenzieren sichaber durch die Anordnung von jeweils zwei kleinen, im Niveau versetzten Annexräumen und durch ihre Beziehung nach außen: Jeder Klasse ist eine Freiklasse zugeordnet, entweder im Gartenhof oder auf einer Terrasse. Die Wände der Klassen lassen sich zum inneren „Marktplatz“ hin auffalten und schaffen so eine durchgängige Lernlandschaft mit vielfältigen Nutzungsoptionen.

Die Idee, von einer kleinen Raumeinheit auszugehen, sie zu variieren und zu einem größeren Gebilde zu addieren, entspricht dem strukturalistischen Denken der 1960er-Jahre. Es wird bei diesem Projekt viel davon abhängen, dieses Denken auch im Detail durchzuhalten. PPAG schlagen eine einfache Konstruktion mit Stahlbetonstützen und Flachdecken vor, die im Innenausbau mit leichten Trennelementen möbliert ist. In der Fassade soll dieWärmedämmung mit einer Hülle aus Schichtstoffplatten geschützt werden, die teils als beschreibbare Tafeln ausgebildet sind, teils mit Kletterpflanzen bewachsen sollen. Der Vorschlag der Architekten, in diese Fassade Nistkästen für Gebäudebrüter einzubauen, also Vögel als Mitbewohner einzuladen, wird der Gebäudeverwaltung noch einige Fragen aufzulösen geben. Überhaupt setzen PPAG darauf, die Pragmatiker und Utilitaristen von Anfang an auf die Probe zu stellen. Auf den Dächern ist Platz für Hochbeete, Brieftauben und Bienenzucht, und Katzen in der Schule kommen zumindest im Erläuterungsbericht vor, der aus der Perspektive einer Schülerin abgefasst ist: „Einmal ist dem Murat bei der Schularbeit eine Katze aufs Heft gesprungen, und alle haben gelacht.“

Dass nicht alle diese Ideen die Mühen der Umsetzung überstehen werden, ist klar. Aber vielleicht gelingt es damit, Begeisterung für eine Schulatmosphäre zu erwecken, die der natürlichen Neugier und dem Bewegungsdrang von Kindern ebenso Raum gibt wie der konzentrierten Arbeit an einer Sache. In zwei Jahren wird man sehen, ob der Mut gereicht hat, die Schule hier wirklich neu zu denken.
[ Eine Präsentation der besten Wettbewerbsbeiträge für den neuen Bildungscampus ist bis 11. April im Architekturzentrum Wien parallel zur Ausstellung „Fliegende Klassenzimmer“ zu sehen. ]

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