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Wir sind Welterbe
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Geniert sich wirklich niemand? Zum Zehn-Jahr-Jubiläum des Welterbes Wien Innere Stadt: Lokalaugenschein zum Thema Bauen im Bestand.

30. April 2011 - Christian Kühn
Im Jahr 2005, vier Jahre nach der Entscheidung, die Wiener Innenstadt zum Welt(kultur)erbe zu erklären, verabschiedete die UNESCO bei einer Konferenz im Wiener Rathaus das „Wiener Memorandum“, einen programmatischen Text unter dem Titel „World Heritage and Contemporary Architecture – Managing the Historic Urban Landscape“. Inhalt des Memorandums ist die Frage, wie das historische Erbe nicht nur bewahrt, sondern zeitgenössisch ergänzt und erweitert werden soll. Dass dieses Memorandum gerade in Wien inauguriert wurde, ist kein Zufall, hat man es doch hier mit dem Präzedenzfall einer lebendigen, in Entwicklung begriffenen Innenstadt zu tun, die man nicht dauerhaft in einem bestimmten Zustand konservieren kann.

Das Memorandum gibt dafür eine Reihe durchaus brauchbare Ratschläge: Jede Entscheidung sollte auf einem tiefen Verständnis für Geschichte, Kultur und Architektur eines Orts aufbauen, Typologie und Morphologie untersuchen, um rechtzeitig die Gefahren, aber auch die Chancen einer Veränderung zu erkennen. Pseudo-historische Anpassung sei zu vermeiden, oberstes Ziel sei die kulturelle Kontinuität durch Interventionen auf höchstem zeitgenössischem Qualitätsniveau. Wenn man den Bruch kultureller Konventionen, wie er in der Wiener Innenstadt zwischen Barock, Historismus und Jugendstil selbstverständlich ist, als Kontinuität des Stilbruchs auffasst, lässt diese Definition einiges zu, zumindest solange der Stilbruch auf einem hohen Niveau passiert.

Genau das kann man von der Wiener Innenstadt zu ihrem zehnjährigen Jubiläum als UNESCO-Welterbe allerdings nicht sagen. An den Stilbrüchen auf unterstem Niveau, die die Innenstadt schon vor 2001 zu ertragen hatte, etwa in der Stadtmöblierung, hat sich außer einer halbherzig auf mittlerem Niveau verunglückten Sanierung der Kärntner Straße nichts verbessert. Dafür hat der Entwicklungsdruck auf die innerstädtischen Immobilien voll durchgeschlagen. Das jüngste Beispiel dafür befindet sich am Platz Am Hof gerade in Fertigstellung: Ein Dachaufbau auf der Schmalseite des Platzes, im Auftrag der Generali Versicherung vom Architekten Gert M. Mayr-Keber verantwortet. So knallprotzig und provinziell hat sich lange niemand mehr auf einem Dach der Innenstadt breitgemacht. Das Haus selbst war schon zu seiner Entstehungszeit 1882 zu hoch und in seiner strengen Symmetrie kein besonders glücklicher Abschluss für einen der historisch bedeutendsten Plätze der Stadt. 1933 wurde die neubarocke Fassade nach Plänen der Architekten Schönthal und Hoppe modernisiert und das bombastische Dach durch eine ruhige, ebenflächige Lösung ersetzt. Nach Kriegsschäden in ähnlicher Form wiederaufgebaut, erhielt das Haus bei der letzten Renovierung seine neubarocke Fassade in leicht veränderter Form zurück, wobei man aber aus gutem Grund darauf verzichtete, das Haus wieder zu seiner alten Höhe aufzubauen. Die jüngste Renovierung setzt nun wieder ein lukratives Geschoß drauf und krönt die Fassade mit einer freien Interpretation der Kommandokapsel des Raumschiffs Enterprise.

Auch außerhalb des Welterbes beweist die Stadt im Umgang mit ihrem denkmalgeschützten Bestand keine glückliche Hand. Der neue Westbahnhof geht seiner Fertigstellung entgegen, und langsam wird das ganze Ausmaß an Skurrilität offenbar, mit dem die alte, denkmalgeschützte Halle aus dem Jahr 1951 umrahmt wird. Wer die Pläne kennt, mit denen die Architekten Neumann und Steiner im Jahr 2002 den Wettbewerb für den Um- und Zubau gewonnen haben, traut seinen Augen nicht. An der sensiblen Ecke zur Mariahilfer Straße präsentiert sich ein schmalbrüstiger Wolkenbügel mit schrägem Standbein, wo in der Wettbewerbsperspektive noch ein gut proportionierter Bauteil mit durchaus akrobatischer Statik zu sehen war, aber logisch aus der Stadtstruktur entwickelt und mit der Schaffung einer „Stadtloggia“ begründet, die an dieser Stelle als neuer Eingangsbereich in den Bahnhof dienen soll. Auch das Raumvolumen einer solchen „Loggia“ braucht aber eine Proportion, und die ist in der Weiterentwicklung des Projekts völlig verloren gegangen. Welchen Interessen das Büro Neumann und Steiner im Zuge der Planung nachgegeben hat, um zu diesem Resultat zu kommen, sollte Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden, sobald das Projekt fertiggestellt ist.

Die alte Bahnhofshalle steht nun eingeklemmt neben diesem Stadtungeheuer, und man fragt sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, ihr dieses Schicksal zu ersparen und sie gleich abzureißen. Die Qualitäten ihrer 1950er-Jahre-Architektur kommen zwar im Detail durchaus zum Vorschein, von einem spannungsvollen Ensemble kann aber beim besten Willen nicht die Rede sein, und auch die ungeschickten Einbauten im Inneren der Halle zeigen, dass sie eigentlich niemandem ein echtes Anliegen war.

Aus diesen Beispielen zu schließen, dass Wien ein besseres Management für sein bauliches Erbe bräuchte, wie es das Wiener Memorandum im Titel anregt, wäre ein Irrtum. Im Gegenteil: Die UNESCO sollte das Raumschiff Am Hof zum Anlass nehmen, der Innenstadt endlich den Status des Welterbes abzuerkennen. Diese Schocktherapie hätte auf die Wiener Szene jedenfalls eine in vielfacher Hinsicht heilsame Wirkung. Man könnte dem Welterbe-Beauftragten der Stadt, Rudolf Zunke, eine andere Aufgabe im Magistrat zuweisen, und man müsste sich nicht länger mit der Frage aufhalten, ob der durch die Hochhäuser am neuen Hauptbahnhof veränderte Blick von der Türmerstube des Steffl eine Beeinträchtigung des Welterbes darstellt, während nebenan wieder ein bedeutender Platz durch einen Dachaufbau zu einer Gegend wird, die man meiden muss.

Die Netzwerke aus Großarchitekten, Vielfachbeiratsmitgliedern und potenten Investoren, die in Wien fast jedes Projekt durchsetzen können, lassen sich auch ohne Hilfe der UNESCO sprengen, am besten durch den Aufbau einer soliden zeitgenössischen Baukultur. Die beginnt dort, wo man die Mitglieder dieser Netzwerke nicht mehr für ihre Cleverness bewundert, sondern für die Denkmäler bedauert, die sie sich setzen. Und man sollte ihnen durch klare Regeln und transparente Verfahren den Boden entziehen, auf dem sie gedeihen.

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