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Mit dem Dreirad nach Utopia
Der Standard

Studenten aus Boston und Wien präsentieren ihre Ideen für die Stadt der Zukunft. Das neue Zauberwort lautet Vernetzung.

11. Juni 2011 - Wojciech Czaja
„Der Anblick von Städten kann ein besonderes Vergnügen bereiten, wie alltäglich er auch immer sein mag“, schrieb Kevin Lynch 1960 in seinem Essay The Image of the City. „Es ist in jedem Augenblick mehr vorhanden, als das Auge zu sehen und das Ohr zu hören vermag. Immer gibt es einen Hintergrund oder eine Aussicht, die darauf warten, erforscht zu werden.“

Kevin Lynch (1918-1984) war Architekt und Stadtplaner am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum hat in Cambridge schon lange Tradition. Der US-amerikanische Architekt und Forscher Kent Larson, der am Montag in Wien einen Vortrag hielt (der Standard berichtete), führt diese Tradition nun fort. In Zusammenarbeit mit der TU Wien und dem Austrian Institute of Technologies (AIT) widmete sich das MIT Media Lab ein Semester lang der Frage: Wie sieht die Stadt der Zukunft aus?

Schon heute lebt mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung in Ballungsräumen. Bis 2050 wird der Anteil auf 70 Prozent steigen. „Die Verstädterung der Erde wird immer größer und immer schneller“, sagt Larson. „Allein in den nächsten 15 Jahren werden mehr als 300 Millionen Land-Chinesen in die Städte ziehen. Wir werden die Funktionsweise der Stadt notgedrungen neu denken müssen.“

Die gebaute Umwelt und der Verkehr machen insgesamt rund 60 Prozent des globalen Energieverbrauchs aus, rechnet Larson vor. Und nicht alle Länder sind gleichauf: Die USA verbrauchen pro Kopf 2,5-mal so viel Energie wie etwa Dänemark. Im Vergleich mit weniger entwickelten Ländern in Asien und Afrika fällt das Verhältnis um einige Potenzen dramatischer aus.

Anders ausgedrückt: Hätten alle Menschen auf der Erde den gleichen ökologischen Fußabdruck wie die USA, würde ein Erdball alleine nicht reichen. Um die Bedürfnisse vollständig abzudecken, wären 4,39 blaue Planeten vonnöten. Schachmatt. Veränderung muss her.

Doch der Drang nach Umdenken ist nicht neu. Schon 1860 machte sich der französische Mathematiker Augustin Mouchot Sorgen um die Zukunft: „Man kommt zwangsweise zu dem Schluss, dass es umsichtig und weise wäre, angesichts der Halbsicherheit, was die Energieversorgung dieses Landes betrifft, nicht einzuschlafen. Letztendlich wird die europäische Industrie nicht mehr genügend Ressourcen vorfinden, um dem beachtlichen Wachstum gerecht zu werden. Ohne Zweifel wird die Kohle eines Tages verbraucht sein. Und was macht die Industrie dann?“

1866 gab es bereits die erste Solarmaschine der Welt. Auf der Weltausstellung 1867 in Paris wurde sie der Öffentlichkeit vorgestellt. Mithilfe der Sonnenkraft konnte damals schon Eis erzeugt werden. Und in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts arbeiteten Studenten der University of Minnesota bereits an einem Haus mit einem Dach aus serienreifen Sonnenkollektoren. Das Gebäude wurde 1975 in Rosemount fertiggestellt.

Auch das Elektromobil hat schon einige Jahrzehnte am Buckel: Nach einer Senatssitzung über batteriebetriebene Fahrzeuge am 13. März 1967 stiegen die beiden Senatoren Edmund Muskie und Warren G. Magnuson in Washington, D. C. presse- und publikumswirksam auf zwei hypermoderne Elektro-Scooter. Die Geschichte bewies: Weit kamen sie nicht.

„Mit Niedrigenergiegebäuden und Elektroautos alleine werden wir das Problem nicht lösen können“, meint Kent Larson. „Diese Ansätze gibt es schon seit Jahrzehnten. Und sie alle waren eine Sackgasse. Wir dürfen nicht länger nur in getrennten Sparten denken wie bisher, also in Form von Architektur, Verkehr, Infrastruktur, Industrie und so weiter, sondern müssen ein zusammenhängendes, vernetztes Gesamtsystem entwickeln, das in sich logisch geschlossen ist.“

Ist die Zukunft attraktiv?

Die ersten Ansätze dafür wurden diese Woche in Wien präsentiert. Anhand des aktuellen Masterplans für die Seestadt Aspern im Nordosten Wiens hatten sich rund 25 Studenten von MIT und TU Wien mit neuen Formen von Wohnen, Arbeiten und Mobilität befasst. Entwickelt wurden energieoptimierte Wohnhäuser mit stapelbaren Garagen, E-Mobile, E-Scooter, Stromtankstellen sowie dazu passende Online-Programme und elektronische Interfaces für Nutzerinnen und Nutzer.

„Elektrofahrräder, die zwischen Strombetrieb und Muskelkraft hin- und herschalten, sind schon lange am Markt“, sagen die beiden Studierenden Marijana Simic und Thommy-James Padayhag. „Allerdings mangelt es den Leuten noch an Motivation, um solche Fahrzeuge auch wirklich zu verwenden. Die Frage ist: Wie macht man solche Produkte für das breite Publikum attraktiv?“

Für das von Marcus Martinez, Jee Yeon Hwang und Quinnton Harris am MIT Media Lab, Abteilung Smart Cities, entwickelte Persuasive Electric Vehicle (PEV), ein klappbares Dreirad mit einem Wetterschild aus gummientengelbem Polycarbonat (siehe Foto), stellten sie ein digitales Portal vor. Die Jury hatte viel zu lachen. „Wenn man die Leute zum Umdenken animieren will, dann ist Humor schon mal ein guter Anfang.“

Auch die meisten anderen angehenden Architekten verstanden es, der drohenden Ökologiekatastrophe mit nachhaltigen Ideen entgegenzuwirken, die über Wärmedämmung und ein paar Alibi-Fotovoltaikzellen am Dach weit hinausgehen. „Wir können nicht einfach nur in einzelnen Bauwerken denken“, erklärt der Bostoner Student Daekwon Park. „Wenn wir das urbane Leben im 21. Jahrhundert verstehen wollen, dann müssen wir uns zuallererst damit auseinandersetzen, wie wir uns in Zukunft im System Stadt bewegen werden.“

Das fesche Dreirad auf der Wiener Ringstraße ist mehr als nur ein technisches Projekt. Es ist Teil eines komplexen Netzwerkdenkens an den Universitäten, das erstmals in der Geschichte wirklich Hoffnung macht. Einige dieser Ideen sollen in den nächsten Jahrzehnten in der Seestadt Aspern umgesetzt werden.

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