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Wo ist denn hier das Welterbe?
Spectrum

Nach zehn Jahren Weltkulturerbe ist die Wiener Innenstadt mehr „Collision City“ als davor. Entsteht Baukultur jetzt dort, wo keiner sie sieht?

29. Oktober 2011 - Christian Kühn
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Erklärung der Wiener Innenstadt zum „Weltkulturerbe“ überraschte mich ein Kollege vor Kurzem mit einer Frage: Wird man in 100 Jahren einen Beitrag der Architektur aus der Zeit zwischen 1990 und 2010 nennen können, der diesem Erbe auch nur annähernd gleichwertig ist? Die Frage ist natürlich hinterhältig: Wenn es das Prinzip des UNESCO-Welterbes ist, besondere Orte möglichst so zu erhalten, wie sie sich zum Zeitpunkt der Unterschutzstellung präsentieren, oder sie durch Restaurierung vor dem Verfall zu bewahren, dann haben es zeitgenössische Aktivitäten hier per se schwer.

Nun ist die Wiener Innenstadt als UNESCO-Welterbe aber ein Sonderfall. Hier wurde kein Monument geschützt, sondern ein lebendiges Stadtzentrum, in dem seit Jahrhunderten eine Epoche die andere überlagert, der Barock die Gotik, der Historismus den Barock und der Jugendstil den Historismus. Weltkultur ist dieses Ensemble nicht aufgrund seines aktuellen Zustands, sondern aufgrund der Chronologie seiner Verwandlung, die man nicht im Jahr 2001 stoppen kann, ohne genau das zu zerstören, was man zu schützen vorgibt.

Der UNESCO war dieses Dilemmas immerhin insofern bewusst, als sie 2005 in Wien eine Konferenz veranstaltete, bei der das „Wiener Memorandum“ formuliert wurde, ein Versuch, Kriterien für den qualitätvollen Weiterbau geschützter städtischer Ensembles aufzustellen. Kurz: Für Bauführungen in solchen Ensembles wird großes historisches Fachwissen auf der einen und kreative Potenz auf der anderen Seite gefordert. Man muss viel über die Geschichte und den Kontext hochwertiger Substanz wissen, um auf hohem Niveau an ihr weiterbauen zu können. Und man muss dafür einen Gestaltungswillen haben, der sich nicht am Gestern, sondern am Heute orientiert.

Wien hat in den letzten Jahren gezeigt, dass es weitgehend unfähig ist, ein entsprechendes Niveau im Umgang mit der historischen Bausubstanz seiner Innenstadt zu erreichen. Es gibt positive Einzelfälle wie die Gestaltung des Judenplatzes durch Jabornegg/Pálffy mit dem Holocaust Mahnmal von Rachel Whiteread, den Neubau des Kaipalastes von Henke/Schreieck oder die nur an einer Schmalseite nach außen spürbare virtuose Sanierung des Urbani-Hauses am Platz am Hof durch Hermann Czech. Es mag ein paar weitere versteckte Sanierungen geben, ein paar geglückte Lokale, aber in Summe sind der Stadtraum und seine Möblierung planlos und provinziell. Die Fußgängerzonen sind halbherzig auf Stand gebracht, bei der Beleuchtung blieb man bei den Maiglöckerl-Laternen. Der Umgang mit Dachausbauten ist auf einem beschämenden Niveau. Dass die zuständigen Beamten seit Jahren auf die Frage, wie Derartiges möglich sei wie der mit dem Schriftzug der Generali-Versicherung gekrönte Dachausbau auf dem Platz am Hof, nichts anderes zu sagen haben, als dass die Projekte ohne ihr Eingreifen noch schlimmer wären, spricht für sich.

In einem der einflussreichsten Texte zur Architektur des 20. Jahrhunderts, „Collage City“, haben Colin Rowe und Fred Koetter 1974 die Collage als bessere Alternative sowohl zur funktionalistischen Großstadt der Moderne als auch zum Disneyland, das sich schon damals als gewinnträchtig-putziges Modell für einen neuen Urbanismus abzeichnete, empfohlen. Eines ihrer Beispiele war die Wiener Innenstadt, fokussiert auf den Heldenplatz mit seinen großen Gesten und fein gekitteten Brüchen. Dort, wo an dieser Stadt in den letzten Jahren weitergebaut wurde, entspricht sie leider einem anderen Begriff von Rowe und Koetter: der „Collision City“, der gröbsten Form der Collage. Die meisten der neuen Dachausbauten, aber auch etwa der Aufgang zur Albertina entsprechen diesem Muster. Es fehlt offensichtlich am Willen und an der Kompetenz, die Stadtgestaltung in Wien auf ein zeitgemäßes Niveau zu heben.

Der Status des Weltkulturerbes hat dazu in zehn Jahren nichts beigetragen und möglicherweise sogar die Diskussion so sehr auf den Canaletto-Blick verengt, dass man das Ganze einer lebendigen Stadt nicht mehr wahrnimmt. Den Welterbestatus wird man dennoch nicht zurücklegen wollen. Sich dem Anspruch, der damit verbunden ist, ernsthaft zu stellen, wäre aber hoch an der Zeit.

Auf die hinterhältige Frage meines Kollegen nach zeitgenössischen Beiträgen habe ich nur eine ausweichende Antwort gefunden. Wenn ich dir in Wien ein Bauwerk zeigen kann, das niemand sieht und bei dem trotzdem alles daran gesetzt wurde, es auch ästhetisch auf ein hohes Niveau zu bringen – wäre das nicht ein Beitrag?

Ein solches Bauwerk gibt es, eine neue Brücke über den Donaukanal in Simmering, unweit von Kläranlage und Müllverbrennung, knapp vor der Einmündung des Kanals in die Donau. Sie ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, den das Ingenieurbüro PCD, vertreten durch Gerald Foller und Michael Kleiser in Kooperation mit zeininger Architekten und der Architektengruppe U-Bahn, gewonnen hat. Sie ist eine Brücke aus einem Stück, eine der längsten „Integralbrücken“ Europas und daher auch konstruktiv eine Innovation. Die Fahrbahnplatte verwandelt ihren Querschnitt zum Brückenscheitel hin in eine Addition schmaler Balken, die ihre Lasten über Stützenbündel auf zwei Fundamentpunkte am Ufer abtragen. Jeder Punkt an dieser Brücke ist zugleich präzise konstruiert und formal durchgearbeitet. Das Ergebnis ist höchst elegant und international konkurrenzfähig, auch wenn es außer ein paar Joggern und den Passagieren der Touristenschiffe, deren Route hier verläuft, kaum jemand zu Gesicht bekommen wird.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Hier geht es nicht darum, Ingenieure als die besseren Gestalter darzustellen. Ohne die gute Zusammenarbeit von ambitionierten Tragwerksplanern und Architekten wäre diese Brücke nie entstanden, und es hätte genug Planer gegeben, die sie einfacher und billiger konstruiert hätten. Bemerkenswert ist hier vor allem, dass dieses Ergebnis einem Auftraggeber, dem städtischen Grund- und Brückenbau, gelungen ist, der jahrzehntelang für sein Desinteresse an Gestaltung berüchtigt war. In diesem Fall ist die Stadt glücklich über sich hinaus gewachsen. Das darf man sich für ganz Wien und seinen Magistrat wünschen.

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