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Strategie des Anpickens
Spectrum

Fünf Millionen Kubikmeter Stadt zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Städtebau zeigt sie nicht. Vielleicht, weil es ihn nicht gibt? Ein Zuruf ins Sommerloch.

16. August 2003 - Christian Kühn
Städtebau - schreibt Rem Koolhaas in seinem Essay „Whatever happened to Urbanism?“ aus dem Jahr 1994 - ist eine tote Disziplin. Ihre Vertreter sind Spezialisten für Phantomschmerzen geworden: Ärzte, die über den Gesundheitszustand eines längst amputierten Körperteils diskutieren. Das Wachstum der Städte hat die Disziplin überrollt. Eine Zeit lang habe sie sich noch der Hoffnung hingegeben, durch massenhafte Wiederholung ihre alten Ideale von Ordnung und Schönheit am Leben erhalten zu können. Immer wieder habe sie behauptet, aus ihren Fehlern gelernt zu haben und mit einem neuen, besseren Anfang aus der Misere ausbrechen zu können. Erreicht habe sie damit nicht mehr, als auch die Idee des neuen, besseren Anfangs endgültig zu diskreditieren.

Heute leben wir, so Koolhaas, in einer Welt, in der es keinen Städtebau mehr gibt, sondern nur noch Architektur, sogar mehr Architektur als je zuvor, immer hübscher herausgeputzt, um einen Anschein von Ordnung zu wahren. Aber dieser lenke nur vom Verlust der städtebaulichen Dimension ab, die als Nährboden von Erneuerung und Erfindung durch kein noch so schönes Objekt kompensiert werden könne.

Die aktuelle Situation Wiens, wie sie derzeit in einer Ausstellung im Architekturzentrum dokumentiert ist, liefert einen Beleg für Koolhaas' Thesen. Unter dem Titel „5 Millionen Kubikmeter Wien“ werden 16 Projekte präsentiert, die laut Pressetext „große städtebauliche Auswirkungen haben und somit das künftige Gesicht dieser Stadt prägen werden“. Von Stadtplanung ist in der Ausstellung aber nichts zu sehen. Eine Übersichtskarte zeigt zwar, wo sich die Projekte befinden. Warum sie aber jeweils gerade dort entstehen, inwiefern sie dabei mit dem Stadtentwicklungsplan übereinstimmen und was für Konsequenzen sie für die Bewohner des Umfelds haben, davon erfährt man in der Ausstellung nichts. Wie überhaupt die Besucher mit der Frage allein gelassen bleiben, was sie von der gezeigten Entwicklung halten sollen. Kritik kommt in der Ausstellung nicht einmal in Ansätzen vor.

Aber vielleicht wollte das AzW jede Illusion darüber vermeiden, die Stadtbewohner hätten noch einen wirklichen Einfluss auf das, was da vor ihren Augen entsteht. Das vorläufig gescheiterte Projekt Wien-Mitte - das in der Ausstellung nicht zu sehen ist - dürfte die Ausnahme sein, die die Regel bestätigt. Und dort ging es ja eher um den Schutz der Vergangenheit vor der Architektur als um die Sicherung der Zukunft durch sie. Und nur Letzteres kann man ja wohl als Stadtplanung bezeichnen.

Dass die Verwertungslogik der Immobilienentwickler heute die Stadtentwicklung bestimmt, steht außer Frage. Dass die bisherigen Konzepte der Stadtplanung nicht mehr funktionieren, ebenso. Wenn niemand mehr an die Verbindlichkeit der Planung glaubt, heißt das aber noch lange nicht, dass es keine Planung mehr gibt. Sie verwandelt sich nur - wie Koolhaas argumentiert - von einer technischen Leistung in eine kulturelle, ideologische und politische. Sie muss Risken eingehen, Potenziale und Freiräume eröffnen, in denen sich mit der Gier nach Renditen Katz und Maus spielen lässt.

Von diesem Zustand ist Wien noch ein gutes Stück weit entfernt. Zumindest ist der Ausgang des Katz-und-Maus-Spiels in den meisten Fällen ebenso simpel erklärbar wie vorhersehbar. Woran liegt es etwa, dass nahe liegende und gut erschlossene Entwicklungsgebiete wie der Nordbahnhof, Wien-Mitte und die Aspanggründe, für die bereits seit Jahren Projekte vorliegen, nicht vom Fleck kommen, während auf schlechter gelegenen Arealen der Bau von tausenden Quadratmetern bereits begonnen hat? Wie kann es sein, dass die PORR AG am Laaerberg die Bewilligung zur Errichtung von 200.000 Quadratmetern Nutzfläche an einem Standort bekommt, der weit weg von hochrangigen öffentlichen Verkehrsmitteln liegt und die A 23 massiv mit zusätzlichem Verkehrsaufkommen belastet? Dass der ehemalige Vizebürgermeister Hans Mayr bis vor kurzem Vorsitzender des Aufsichtsrats der PORR war, wird der Flächenwidmung nicht geschadet haben. Die von den Projektbetreibern betonte Intention, „zwei Stadtteile, die durch die A 23 getrennt waren“, endlich wieder zusammenwachsen zu lassen, ist dagegen mehr als fragwürdig - als ob man nicht schon immer über eine Fußgängerbrücke bequem in den Laaer Wald gekommen wäre.

Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Eine offensive Einmischung der Politik in die Stadtplanung ist unter den heutigen Bedingungen notwendig und berechtigt, um die Investitionsströme im Interesse der Stadt zu lenken. Angesichts der meisten (und vor allem der größten) im AzW gezeigten Projekte gewinnt man aber den Eindruck, dass die Politik gar nicht mehr artikulieren kann oder will, worin die Interessen der Stadt bestehen. Hauptsache, es wird investiert, so viel und so rasch wie möglich - und am besten von den richtigen Leuten.

Dass dabei immer wieder dieselben Akteure - sowohl Investoren wie Architekten - profitieren, regt längst niemanden mehr auf, genauso wenig die Tatsache, dass Hans Hollein als Architekt in viele jener Großprojekte involviert ist, für deren kritische Bewertung er als Vorsitzender des Fachbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung zuständig wäre.

Wenn die peripheren Standorte aber erst einmal entwickelt sind, wird es für die innere Stadtentwicklung auf Grund des Überangebots viel schwerer werden, Renditen zu erwirtschaften, vor allem wenn der aktuelle Büroflächenboom, in den sich die Branche hineinsteigert wie einst beim Bau von Kinocentern, wieder realistischeren Erwartungen gewichen ist.

Die Architektur nimmt in diesem Spiel brav die Rolle ein, die ihr Koolhaas in seinem Essay vorgeworfen hat. Sie versucht, auf hohem Niveau zu kaschieren. Freilich hat man kaum je die Entwurfsstrategie des „Anpickens“ in so reiner Form gesehen: Neutraler Investorenraster als Unterbau, oben drauf das gewisse Etwas in charakteristischer Handschrift. Viel mehr als ästhetisches Mittelmaß wird in der Summe aber nicht herauskommen, nicht zuletzt, weil die Mietpreise in Wien einfach nicht hoch genug sind, um Hochhäuser umzusetzen, die auch in der Ausführung mit den besten der Welt konkurrieren können.

In der Ausstellung machen daher auch jene Projekte den besseren Eindruck, die sich in der Horizontalen entwickeln, wie etwa das Zentrum St. Marx von Domenig/
Eisenköcks/Pyrker oder das Forum Schönbrunn von BUSarchitektur und Atelier Podsedensek. Dass der Blick durch ein offenes Fenster in einen gut gestalteten Innenhof interessanter sein kann als durch die Fix-verglasung eines klimatisierten Hochhauses in St. Marx aufs Kraftwerk Simmering, wird vielleicht erst den Benutzern auffallen, die in ein paar Jahren ihre Büros beziehen.

Alles in allem hinterlässt die Ausstellung einen zwiespältigen Eindruck. Immerhin ist die Bereitschaft da, wieder zu investieren, und nichts braucht die Branche so sehr wie Optimismus. Zugleich hat sich an der kraftlosen Patchwork-Ideologie der Stadtentwicklung, wie sie seit Jahren charakteristisch für Wien ist, nichts geändert. Sie hat nur monumentale Ausmaße erreicht. Ob das der Stadt gut tut, darf bezweifelt werden. Und die Stadt ist, so Rem Koolhaas am Ende seines Essays, „mehr als je zuvor alles, was wir besitzen“.

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