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Für eine selbständige zweite Lebenshälfte
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Selbständigkeit auch im Alter ist ein zentraler Wunsch der allermeisten Menschen. Neben einer langen behinderungsfreien Lebenserwartung, einer guten sozialen Unterstützung und ambulanten Dienstleistungen zählt dazu auch das Leben in einer hindernisfreien Wohnung. In den letzten Jahren zeigt sich gleichzeitig ein erhöhtes Bedürfnis nach gemeinschaftlichen Lebens- und Wohnformen – nicht als Alternative zur individuellen Selbständigkeit, sondern als deren Ergänzung. Dies führt vermehrt zur Gründung von Alters­hausgemeinschaften und Mehrgenerationenwohnen und ist verbunden mit dem Wunsch nach einer Wohnung in einer zentral gelegenen, belebten Gegend.

23. März 2012 - François Höpflinger
Analysen über und Planungen für ältere Menschen müssen immer folgende gerontologische Grundprinzipien einbeziehen:[1] Erstens altern Menschen vielfältig und heterogen. Frauen und Männer erfahren psychische, sensorische und kognitive Einschränkungen in unterschiedlichen Phasen ihres Alterns. Begriffe wie «altersgerechte Wohnung» sind vor diesem Hintergrund mit Zurückhaltung zu benützen. Es bedarf vielmehr einer Vielfalt an zielgruppenspezifisch ausgerichteten neuen Wohnprojekten. Zweitens variieren Lebens- und Wohnbedürfnisse – wie auch die Chancen zur selbständigen Wohngestaltung – im höheren Lebensalter je nach sozialer Schichtzugehörigkeit oder Einkommenslage.[1,2] Lebensgestaltung und Wohnkontext der unterschiedlichen sozialen Milieus unterscheiden sich. Je nach Höhe der Altersrenten und des angesparten Vermögens stehen pensionierten Menschen andere Wohnmöglich­keiten offen: Wohlhabende können sich eine luxuriöse Seniorenresidenz oder eine teure ­Eigentumswohnung leisten, wirtschaftlich Schlechtergestellte sind auf eine günstige Mietwohnung oder auf eine genossenschaftliche Wohnung angewiesen. Daneben spielen ­regionale Faktoren eine Rolle. Das Altwerden in der Innenstadt hat ein anderes Gesicht als das Altwerden in einer ländlich geprägten Wohngemeinde. Drittens sind Lebens- und Wohnbedürfnisse – wie auch Wohnästhetik – lebensgeschichtlich geprägt. Je nach Biografie ergeben sich andere Vorstellungen von der idealen Wohnumgebung, werden andere Wohnräume und -einrichtungen bevorzugt. Eine langjährig bewohnte ­Wohnung ist für ältere Menschen zudem mehr als nur Wohnraum, es ist auch der Ort, wo sich ­Erinnerungen ansammeln. Bei einem Wohnungswechsel nehmen sie nicht primär das Nützliche mit, sondern das, was ihnen lebensgeschichtlich wertvoll erscheint.

Haushaltformen im Alter

Die Haushaltsgrösse älterer Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten weiter reduziert. Während zu Beginn der 1970er-Jahre noch mehr als ein Viertel der über 65-Jährigen in ­einem Haushalt mit drei und mehr Personen lebten, sind dies gegenwärtig kaum noch 5 %. Das Wohnen mit Dritten, etwa in Untermietsverhältnissen oder Nichtfamilienhaushalten, aber auch das Zusammenleben mit erwachsenen Kindern hat an Bedeutung eingebüsst. Der Anteil der zu Hause lebenden 80-Jährigen und der Menschen, die mit einem ihrer Kinder im gleichen Haushalt leben, hat sich seit 1970 von 15 % auf 2 % reduziert (Abb. 8). Selbst in ländlichen Regionen ist ein Zusammenleben mit Kindern selten geworden.[3] Nach dem Wegzug der Kinder leben Menschen zumeist in einem Eingenerationenhaushalt.

In den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem zwei Haushaltsformen verbreitet: Zum einen leben – trotz erhöhter Scheidungshäufigkeit – Frauen und Männer im Alter häufiger in einem Paarhaushalt; auch weil im Alter gegenwärtig noch ehe- und familienfreundliche Jahrgänge dominieren. In jüngeren Generationen ergeben sich zudem mehr Zweit- und Drittbeziehungen. Da Frauen im Durchschnitt länger leben und Männer oftmals eine jüngere Frau heiraten, leben alte Männer deutlich häufiger in einer Paarbeziehung als gleichaltrige Frauen (Abb. 5–6). Zum anderen hat sich der Anteil von Männern und Frauen erhöht, die in einem Einpersonenhaushalt leben, wobei Frauen vor allem deshalb allein leben, weil ihr Partner verstorben ist. Die Entwicklung zum Alleinleben – auch als «Singularisierung des Alters» bezeichnet – hat auch mit einer verbesserten wirtschaftlichen und sozialen Selbständigkeit sowie einer verstärkten Individualisierung neuer Rentnergenerationen zu tun. Gemeinschaftliche Wohnformen sind vor diesem Hintergrund noch vergleichsweise selten anzutreffen, d. h., bei den selbständig wohnenden Menschen im Alter überwiegen gegenwärtig Kleinst- und Kleinhaushalte. Die Dominanz von Kleinhaushalten dürfte – trotz Ausbau gemeinschaftlicher ­Alterswohnformen – auch die nähere Zukunft bestimmen, da die Zahl der verfügbaren Wohnungen in Altershausgemeinschaften gegenwärtig weniger rasch anwächst als die Zahl an älteren Menschen.[4]

Was Selbständigkeit im Alter fördern kann

Der Anteil der älteren Menschen, die selbständig leben und wohnen, ist in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen, unter anderem, weil sie durch den Ausbau der Altersvorsorge wirtschaftlich abgesichert leben können. Der Hauptfaktor ist jedoch, dass 50-Jährige heute speziell in der Schweiz von einer langen gesunden Lebenserwartung profitieren können. Für ein selbständiges Haushalten ist die Gesundheit entscheidend. In der Schweiz setzt Pflegebedürftigkeit heute oft erst im sehr hohen Alter ein. So sind fast 87 % der 80- bis 84-Jährigen und gut 77 % der 85- bis 89-Jährigen keineswegs pflegebedürftig. Erst im sehr hohen Alter von 90 und älter steigt das Risiko alltagsrelevanter Pflegebedürftigkeit auf über 40 %, und das frühere Modell eines Altersheims wird immer mehr durch Pflegeheim bzw. Pflegewohngruppen ersetzt (Abb. 7).

Wenn Alltagseinschränkungen bedeutsam werden, können zum einen gute soziale Rahmenbedingungen, wie ein Partner oder Angehörige, die Hilfeleistungen im Alltag oder sogar Pflegeleistungen übernehmen, selbständiges Wohnen in privaten Haushalten weiterhin ermöglichen.[5] Auch nachbarschaftliche Hilfe oder gemeinschaftliche Wohnprojekte können unterstützen. Für unsere moderne Gesellschaft mit einer geringen Zahl an Nachkommen entscheidend ist auch der Ausbau ambulanter professioneller Dienstleistungen (Spitex u. a.). Intereuropäische Studien belegen, dass selbständiges Leben und Wohnen bei funktionalen Einschränkungen nur durch eine Verknüpfung von informeller (Angehörige, Nachbarn und/oder Freunde) sowie formeller, professioneller Unterstützung möglich ist.[6] Bedeutsam sind zweitens Wohnformen, die hindernisfreies Wohnen mit gut zugänglicher nachbarschaftlicher Infrastruktur verbinden. Der Nutzen technischer Hilfsmittel zur Erhaltung der Selbständigkeit im Alter ist nur mit sozialer Unterstützung möglich.[7] Bei kognitiven oder psychischen Einschränkungen müssen hindernisfreie Wohnformen mit ausgebauten Dienstleistungen verbunden sein, wie beim Konzept des betreuten Wohnens. Die Grenzen des hindernisfreien Alterswohnens zeigen sich vor allem bei psychischen Problemen (Depression) und hirnorganischen Einschränkungen (Demenz).

Zusammenleben auch im Alter

Nach Jahrzehnten verstärkter Individualisierung setzte zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine allgemeine Trendwende ein: Genossenschaftlich-gemeinschaftliche Formen von Leben und Wohnen erlebten einen Aufschwung, und das mediale Leitbild des «Singles» wurde vermehrt zum Leidbild uminterpretiert.[8] Wirtschaftliche Unsicherheiten, Grenzen staatlichen Handelns und die Auswirkungen eines ungebremsten Egoismus dürften gemeinschaftlichen Lebensentwürfen in postmodern orientierten Teilen der Bevölkerung weiteren Auftrieb geben. Bei der Generation der Babyboomer werden die neuen Trends in zwei Wohnformen für die zweite Lebenshälfte sichtbar:[9] Zum einen verstärkt sich der Wunsch, das private Leben allein oder zu zweit durch gemeinschaftliche Lebens- und Wohnaspekte zu ergänzen. Entsprechend entstehen mehr Projekte in Richtung von Altershausgemeinschaften oder gemeinschaftlichem Wohnen. Im Unterschied zur klassischen WG handelt es sich bei den meisten Alterswohnprojekten um Wohnformen, die privates Wohnen (eigene Wohneinheiten mit Bad und Küche) mit gemeinschaftlichen Begegnungsräumen kombinieren. Es geht nicht um die Aufgabe von Selbständigkeit und Individualität, sondern um ihre Ergänzung durch gemeinschaftliche Beziehungen und gegenseitige Unterstützung, die über den Rahmen unverbindlicher Nachbarschaftskontakte hinausgehen. Entsprechend geht es bei der Planung und Vorbereitung solcher Wohnprojekte immer auch darum, soziale Beziehungen schon vorgängig zu pflegen, etwa durch gemeinsame Freizeitaktivitäten. Die Erfahrungen der Genossenschaft «Zukunftswohnen»[10] zeigen, dass auch die Definition der gegenseitigen Erwartungen noch vor Einzug in ein gemeinschaftliches Wohnprojekt eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg ist (vgl. Seite 32 ff., Gemeinschaftswohnen Kanzleistrasse Winterthur-Seen).

Zum anderen äussern mehr Menschen im Alter den Wunsch nach generationengemischten Kontakten, auch in der Nachbarschaft. Dies kann durch eine zentrale Wohnlage in einer ­intergenerationell belebten Stadt anstelle einer Seniorenresidenz in Randlage gepflegt ­werden. Gleichzeitig werden vermehrt generationengemischte Wohnprojekte wie Mehrgenerationenhäuser oder -siedlungen gebaut bzw. geplant. Man nimmt an, dass jüngere und ältere Menschen durch gegenseitige Kontakte profitieren. Eine altersmässige Durchmischung einer Hausgemeinschaft oder einer Wohnsiedlung garantiert allerdings noch keine intergenerationelle Gemeinschaft. Je näher zusammengewohnt wird, desto wichtiger sind Toleranz und Offenheit. Bei generationenübergreifenden Hausgemeinschaften und Wohnsiedlungen sind sowohl eine gezielte Organisation gemeinschaftlicher Aktivitäten als auch eine bewusste Betreuung der Kontakte – etwa durch eine intergenerationell zusammengesetzte Leitungsgruppe – notwendig.[11,12] Auch wenn gegenwärtig erst ein geringer Teil älterer Menschen – auf 250 000 entfällt gerade einmal ein Wohnprojekt[13] – in hausgemeinschaftlichen oder gezielt intergenerationell ausgerichteten Wohnformen lebt, haben die bisher realisierten Bauten die Vielfalt des Wohnens im Alter stark erweitert. Mit der Entstehung neuer gemeinschaftlich orientierter Wohnprojekte ergeben sich neue Optionen jenseits von Partnerschaft oder Alleinleben.


Anmerkungen:
[01] Perrig-Chiello, Pasqualina; Höpflinger, François: Die Babyboomer. Eine Generation revolutioniert das Alter, Zürich 2009
[02] Schneider-Sliwa, Rita: Städtische Umwelt im Alter. Präferenzen älterer Menschen zum altersgerechten Wohnen, zur Wohnumfeld- und Quartiersgestaltung, Basel 2008
[03] Perrig-Chiello, Pasqualina; Höpflinger, François; Suter, Christian: Generationen – Strukturen und Beziehungen. Generationenbericht Schweiz, Zürich 2008
[04] Allein um mit dem Zuwachs an 65- bis 79-Jährigen mitzuhalten, müssten zwischen 2010 und 2020 zwischen 11 910 Altershausgemeinschaften mit je 20 Personen und 23 820 Altershausgemeinschaften mit je 10 Personen gegründet werden. Für die Periode 2010–2030 müssten zwischen 23 405 Altershausgemeinschaften mit je 20 Personen oder 46 810 Altershausgemeinschaften mit je 10 Personen geschaffen werden. Momentan liegt die Neugründungszahl von Altershausgemeinschaften klar unter dem zahlenmässigen Anstieg der älteren Bevölkerung
[05] Perrig-Chiello, Pasqualina; Höpflinger, François (Hg.): Pflegende Angehörige älterer Menschen, Bern 2012
[06] Haberkern, Klaus: Pflege in Europa. Familie und Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden, 2009
[07] Das iHomeLab der Hochschule Luzern hat mit «Wohnen in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter» einen Forschungsschwerpunkt zu dieser Frage: www.ihomelab.ch
[08] Hradil, Stefan: Vom Leitbild zum «Leidbild». Singles, ihre veränderte Wahrnehmung und der «Wandel des Wertewandels», in: Zeitschrift für Familienforschung 15, 2003, S. 38–54
[09] Höpflinger, François: Einblicke und Ausblicke zum Wohnen im Alter. Age Report 2009, Zürich 2009
[10] www.zukunftswohnen.ch
[11] Walthert-Galli, Regina: Intergenerative Wohnprojekte: Eine alternative Wohnform für die zweite Lebenshälfte?, Diplomarbeit im Nachdiplomstudium Altern: Lebensgestaltung 50 . Hochschule für
Soziale Arbeit, Bern 2009
[12] Bei der Alterssiedlung Dufourstrasse (vgl. «Gegen die Einsamkeit», S. 23/24) hatte die in der Phase der Umsiedlung der Bewohnerinnen vor der Sanierung bedingte Zwischenvermietung der Wohnungen an Studenten sogar zur Folge, dass die Mieterinnen und Mieter dem Umzug auch wegen der unterschiedlichen Wohnvorstellungen zugestimmt haben
[13] Bertogg, Christine: Elder Cohousing – Gemeinschaftliches Wohnen im Alter – ein Ländervergleich. Lizenziatsarbeit am Soziologischen Institut der Universität Zürich, Zürich 2011

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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