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Geläuterte ikone
TEC21
1. Juni 2012 - Judit Solt, Alberto Caruso
Die von Ludwig Mies van der Rohe von Juni 1929 bis Dezember 1930 erbaute Villa Tugendhat im tschechischen Brünn gehört zu den Ikonen der architektonischen Moderne. Nachdem zunächst die Nationalsozialisten und später das kommunistische Regime den Bau in Besitz nahmen, wurde die Villa 2001 in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Tugendhat House International Committee erneuerte ein Team aus den Architekturbüros Omnia projekt (Brünn) und Archteam (Prag) von 2010 bis 2012 die Villa – die Geschichte der Instandstellung ist dabei streckenweise ebenso abenteuerlich wie jene des Baus selbst. Seit März 2012 ist die Villa als Museum wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Villa Tugendhat ist ein Gesamtkunstwerk: eine Komposition, in der Mies van der Rohe
einerseits seine entwerferischen Ideen von fliessenden Räumen und freiem Grundriss
umsetzen konnte, die andererseits aber den Bedürfnissen einer Familie zu genügen hatte. Das damalige Vorurteil, moderne Architektur sei kalt und streng, widerlegte Mies mit dem Einsatz von edlen Materialien, sorgfältigen Details – beispielsweise in der Anordnung der Räume und der Gebäudetechnik – und speziell für die Villa entworfenen Möbeln.

genialer Architekt, kongeniale Bauherrschaft
Diese Konsequenz in Entwurf und Ausführung verlangte eine enge Beziehung zwischen
Architekt und Bauherrschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Brünn eines der lebendigsten Zentren des damaligen multikulturellen Osteuropa. Die Koexistenz von tschechischen, ­deutschen und jüdischen Gemeinschaften führte zu einem äusserst regen Kulturleben, was sich auch architektonisch durch eine hohe Anzahl an modernen Bauten manifestierte.
Grete Tugendhat, 1903 in Brünn als Tochter der grossbürgerlichen jüdischen Industriellen­familie Löw-Beer geboren, heiratete 1928 in zweiter Ehe den Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat. Zur Hochzeit schenkten Gretes Eltern dem Paar einen Teil ihres eigenen Gartens als Baugrundstück und finanzierten auch den Bau der Villa. Während ihrer ersten Ehe hatte Grete Tugendhat in Berlin gelebt, wo sie oft Mies’ zweiten realisierten Bau, das vom Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs bewohnte Haus Perls (1911), besucht hatte; auch die 1927 erbaute Weissenhofsiedlung faszinierte sie. Gemeinsam mit ihrem Mann kontaktierte sie daher Mies van der Rohe für den Bau ihres Hauses. Die Lage des Grundstücks am oberen Ende des Parks gegenüber der Brünner Festung Spielberg begeisterte Mies. Mit der für die
Gartengestaltung verantwortlichen Brünner Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller schuf er ein Haus, dessen Struktur wesentlich vom Dialog zwischen Innen und Aussen, zwischen Natur und Architektur bestimmt war.
Der Eingang erfolgte von der Strassenseite, von wo aus sich der Bau als eingeschossiger Bungalow präsentierte (Abb. 2). Hier waren die Privaträume untergebracht, eine Treppe führte von der Eingangshalle in das Wohngeschoss, das aus den auf der Nordseite angeordneten Wirtschaftsräumen und einem grosszügigen offenen Wohnbereich bestand. Weite Terrassen in Ober- und Erdgeschoss und eine Treppe zum Garten verknüpften den Bau mit der Landschaft. Die dreigeschossige Villa war als Stahlskelett konstruiert, wodurch Mies die Trennung von Konstruktion und Wand ermöglichte.1 Die Komposition von fliessenden Räumen, die Gegenüberstellung von tragenden Stahlstützen und trennenden Wänden aus kostbaren Materialien wie Onyxmarmor und Makassar-Ebenholz oder die beiden rund 15 m² ­grossen versenkbaren Fenster zum Park waren für die damalige Zeit geradezu revolutionär – im Gegensatz zum Raumprogramm, das mit der strengen Trennung von Tag- und Nacht­bereich oder mit den Personalzimmern gutbürgerliche Wohnvorstellungen widerspiegelt. Gemäss Grete Tugendhat legte Mies Wert auf edle Materialien: «Dann legte er uns dar, wie wichtig gerade im modernen, sozusagen schmucklosen […] Bauen die Verwendung von
edlem Material sei und wie das bisher vernachlässigt worden sei, z. B. von Le Corbusier.
Als Sohn eines Steinmetzes war Mies vertraut mit schönem Stein […]. Er liess im Atlas­gebirge lange nach einem schönen Onyxblock für die Wand suchen und überwachte selbst das ­Zersägen und Aneinanderfügen der Platten […]. Als sich nachher zeigte, dass der Stein durchscheinend war und gewisse Stellen der Zeichnung auf der Rückseite rot leuchteten, wenn die untergehende Sonne auf die Vorderseite schien, war das auch für ihn eine freudige Überraschung.»2

Villa, Büro, Stall und Spital
Bewohnt wurde die Villa allerdings nicht lange. Nach der Annektion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich flüchtete die Familie Tugendhat 1938 vor den Nazis zunächst in die Schweiz, 1941 nach Venezuela.1950 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und liess sich in St. Gallen nieder.3
Die Villa Tugendhat wurde 1939 für den Bedarf der Gestapo formell beschlagnahmt und 1942 als Besitz des Grossdeutschen Reiches eingetragen. Zeitweise bewohnte sie der Flugzeugkonstrukteur Walter Messerschmidt, der die Villa als Konstruktionsbüro nutzte und mit massiven Einbauwänden unterteilte. Nach Einmarsch der Roten Armee diente der Bau deren Kavalleristen als Pferdestall. Von 1950 bis 1979 nutzten ihn die tschechoslowakischen Behörden für die orthopädische Abteilung des benachbarten Kinderspitals, das Wohnzimmer mutierte zur Turnhalle (Abb. 3). 1980 ging die Villa in den Besitz der Stadt Brünn über. In den 1980er-Jahren wurde der Bau für Repräsentationszwecke und als Gästehaus für hochrangige Besucher eingesetzt. Bei der damaligen «denkmalpflegerischen Wiederherstellung» (1981 – 1985) zerstörte man trotz hehren Absichten weitere Originalteile – unter ­anderem wurde das letzte noch erhaltene Fenster der Gartenfront ersetzt, das im Zweiten Weltkrieg die Explosion einer Bombe nur deswegen überstanden hatte, weil es gerade versenkt war. Fast alle Holzeinbauten wurden «erneuert», anderes mehr schlecht als recht ­rekonstruiert, etwa die verloren geglaubte Makassar-Wand: Weil das Regime nicht über
den Willen oder die Mittel verfügte, das richtige Furnier zu beschaffen, erhielt die Wand ein dominantes Vertikalmuster und einen horizontalen Saum, die ihre Wirkung ruinierten.
Fragwürdige Auftragsvergabe
Brünns beeindruckendes Erbe an modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit fällt nach Vernachlässigung durch die sozialistischen Machthaber heute der Erneuerungswut von
Investoren und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung zum Opfer. Zumindest der Villa ­Tugendhat blieb dieses Schicksal erspart. Das Gebäude wurde 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal erklärt und gehört seit 2001 zum Unesco-Welterbe. Entsprechend aufwendig war die Restaurierung, die die Villa und den dazugehörenden Garten umfasste. Insgesamt kann das Unterfangen als gelungen bezeichnet werden. Dennoch erstaunt, dass der Auftrag für die Rettung des funktionalistischen Kunstwerks nicht an ein Architekturbüro ging, das sich auf die frühe moderne Architektur spezialisiert hat. Ein auch international bekannter profunder Kenner des Gebäudes, der Brünner Architekt Jan Sapák, der sich seit Jahrzehnten für deren Rettung eingesetzt hat, aber als politischer Querulant gilt, wurde aufgrund eines Formfehlers aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen. Der Hauptauftrag ging an eine Firma, die sich neben guten Beziehungen zu den Behörden bisher vor allem mit der Instandsetzung von barocken Schlössern hervorgetan hat. Auf eine Sichtung der originalen Detailpläne, die im Mies-Archiv im Museum of Modern Art in New York lagern, haben die Architekten denn auch verzichtet. Andere kompetente Fachleute wurden zwar beigezogen, doch nur für eng umrissene Bereiche wie die Möblierung oder die Gestaltung der neuen Ausstellung im Keller. Es gibt Anzeichen dafür, dass das gute Ergebnis nicht zuletzt ihrem informell ­eingebrachten Wissen zu verdanken ist sowie der Aufsicht eines mit namhaften Experten besetzten – allerdings erst nach Beginn der Arbeiten eingesetzten – Aufsichtskomitees
(vgl. Kasten S. 18), worin auch Mitglieder der Familie Tugendhat vertreten sind.
Sorgfalt und Detektivarbeit
Trotz allen Zerstörungen, Umnutzungen und Transformationen ist sehr viel Originalsubstanz erhalten geblieben. Die Lüftung im Keller ist weiterhin funktionstüchtig; rund 80 % der Wandoberflächen sind im Original vorhanden und können in «archäologischen Fenstern» – zum Beispiel im Verputz der Fassade – begutachtet werden.
Neue Elemente, die Verlorenes ersetzen, wurden mit den ursprünglichen Materialien nachgebaut: Der neu verlegte Linoleum wurde eigens nach der historischen Rezeptur hergestellt, die Schreinerarbeiten sind perfekt. Eine Sensation stellt die gewölbte Makassar-Wand im Essbreich dar. Während zweier Generationen galt sie als verloren, bis der Kunsthistoriker
Dr. Miroslav Ambroz, der Bruder des für den Nachbau der Möbel zuständigen Restaurators, sie auf eigene Faust aufspürte: Das Tagebuch eines deutschen Soldaten, das er in einem Antiquariat erstanden hatte, erwähnte eine Holzwand, die die Gestapo aus einer Villa in ihr neues Hauptquartier – heute eine Universitätsmensa – transferiert hatte. Tatsächlich fand er das wertvolle Edelholz, das dort seit zwei Generationen und von tausenden von Studierenden unbeachtet als Brusttäfer diente. Die Teile wurden kaum sichtbar zusammengefügt und wo nötig ergänzt. Dank den sorgfältig ausgewählten Materialien und der äusserst hohen handwerklichen Qualität der Ausführung sind Alt und Neu nur für den geübten Blick zu unterscheiden. Nur wenige Misstöne sind zu vernehmen – im Schlafzimmer etwa feine Risse im Stucco, der aus Rücksicht auf die Proportionen der Fussleiste zu dünn aufgetragen werden musste, plumpe Vorhänge und Teppiche oder ein eckiges Element statt eines runden im Abflussrohr an der Strassenfassade. Ein weiterer Wermutstropfen ist die fehlende Plastik, die auf historischen Bildern jeweils auf der Wintergartenseite der Onyxwand platziert ist. Mies van der Rohe hatte hier bereits in frühen Zeichnungen eine Plastik vorgesehen, die Familie Tugendhat erwarb dafür den «Torso der Schreitenden» von Wilhelm Lehmbruck (1914). Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst von den Nationalsozialisten konfisziert wurde, war sie bis 2006 im Besitz der Galerie Moravska in Brünn, bis die Familie sie im selben Jahr zurückerhielt. 2007 wurde die Plastik verkauft – und ihr Fehlen schmerzt, die Wirkung des Raumes ist beeinträchtigt. In der Gesamtwirkung ist die Villa jedoch wieder als das erlebbar, was sie einmal war – ein bis ins letzte Detail perfekt durchdachter, in seiner Wirkung umwerfender Bau.

Judit Solt, solt@tec21.ch
Die Autorin dankt Tina Cieslik und Rahel Hartmann Schweizer für ihre wertvollen Hinweise.

Anmerkungen 
1 Etwa zeitgleich zur Villa entwarf Mies den Barcelona-Pavillon für die Weltaustellung 1929. Darin verwirklichte er die entwerferischen Prinzipien vom «fliessenden Raum» und vom «freien Grundriss». In der Villa Tugendhat übertrug Mies diese Motive auf ein Wohnhaus, das den Anforderungen und Bedürfnissen des grossbürgerlichen Alltags gerecht werden musste
2 Grete Tugendhat in einem Vortrag, gehalten auf der internationalen Konferenz zur Rekonstruktion des Hauses (17. März 1969, Mährisches Museum, Brünn) in: Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), «Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat», Springer-Verlag Wien, 1998, S. 5 ff.
3 ebd., S. 27. 1957 liess sich die Familie vom St. Galler Büro Danzeisen & Voser in St. Gallen ein Haus bauen, das an die Ideen der Villa Tugendhat anschloss
4 ebd., S. 7

Eine Kurzfassung dieses Artikels erschien anlässlich der Eröffnung in TEC21 11/2012 sowie auf . Dort finden Sie auch zusätzliches Bildmaterial.
Ausführliche Informationen zu den Eingriffen, eine Bilddokumentation der Baustelle und für die
Reservation von Besuchsterminen gibt es auf «www.tugendhat.eu».

Weiterführende Literatur:
– Daniela Hammer-Tugendhat, Wolf Tegethoff (Hrsg.), Ludwig Mies van der Rohe. Das Haus Tugendhat, Springer-Verlag Wien, 1998
– Adolph Stiller (Hrsg.), Das Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe. Brünn 1930, Verlag Anton
Pustet, Salzburg, 1999
– Villa Tugendhat. Rehabilitace a slavnostní znovuotevrˇení / Rehabilitation and Ceremonial Reopening, Study and Documentation Centre – Villa Tugendhat and Brno City Museum, Brno 2012
– Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Mies in Berlin. Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, Prestel Verlag, München, 2002

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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