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Architektonische Präsenz
Neue Zürcher Zeitung

Eine Monographie über den Engländer David Chipperfield

18. Juni 2003 - Jürgen Tietz
Einfacher geht es nicht: Zwei dünne Aluminiumscheiben dienen als Stützen, darauf liegt eine nicht minder dünne helle Holzplatte auf. Fertig ist der Tisch. David Chipperfield, Jahrgang 1953, gilt als Meister der Konzentration auf das Wesentliche. Insoweit ist die Serie von «Air Frame Furniture» durchaus typisch für seine Arbeit. Und doch ist man überrascht, dass ausgerechnet diese Aluminiummöbel den Auftakt der dreissig ausgewählten Bauten und Projekte bilden, die in der jüngst bei Birkhäuser erschienenen Monographie über den Briten versammelt sind. Statt - wie üblich bei Werkschauen von Architekten - im Anhang zu verschwinden, bilden nun ein Tisch, eine Kommode, ein Sessel den Auftakt für einen Rückblick auf sein architektonisches Schaffen.

Was scheinbar nur der Zufälligkeit der alphabetischen Anordnung der Projekte entspringt, lässt sich mit einer tieferen Bedeutungsschicht versehen: Auch das scheinbar Nebensächliche, sei es ein Detail, sei es ein Möbel, besitzt einen entscheidenden Einfluss auf die Gesamtwirkung von Chipperfields Architektur. Nicht umsonst verweist der Brite in einem Interview mit Rik Nys in dem ansprechend gestalteten Buch darauf, dass für ihn Architektur mit der Position des Individuums beginne. Eine Behauptung, die viele Architekten aufstellen, doch Chipperfield vermag sie mit seinem Werk zu untermauern: sei es bei den massstäblichen Höfen, die er in seinen Wohnhäusern entwickelt hat, oder bei dem grossen Atrium für das Sendezentrum der BBC, das derzeit in Glasgow entsteht. Wie eine Kaskade führen die Treppen dort kunstvoll von einer Ebene zur nächsten hinab und schaffen überschaubare Einheiten, um die herum sich die Studios und Büros der Arbeitswelt gruppieren.

Reduzierung ist für Chipperfield, der in den letzten Jahren vom britischen zum europäischen Architekten geworden ist - so Kenneth Frampton in seinem Essay -, kein Selbstzweck. Sie ist Teil einer Strategie, sich an die Gegebenheiten eines Ortes anzupassen, dessen Qualitäten herauszuarbeiten und sie durch eine moderne und doch zeitlose Architektur weiterzuentwickeln. So fügt sich Chipperfields Haus Stern im galicischen Fischerdorf Corrubedo (1996-2002) mit seinem Natursteinsockel und der weissen Fassade nahtlos in die langgezogene Uferbebauung ein. Erst auf den zweiten Blick treten der gläserne «Piano nobile», der grosse «screen» im Obergeschoss und die kubischen Formen des Gebäudes deutlicher hervor. Doch sie stören nicht den Zusammenklang mit den angrenzenden Bauten. Das Haus setzt einen Akzent, doch es dominiert seine Umgebung nicht. Es qualifiziert sie, ohne sie zu marginalisieren. Es ist prägnant, aber nicht laut.

Ganz ohne Säulen und Kapitelle bringt Chipperfield ein klassisches Element in die Architektur ein. Seine differenzierte Haltung kennzeichnet auch das Restaurierungskonzept, das er zusammen mit Julian Harrap für den Wiederaufbau von August Wilhelm Stülers Neuem Museum in Berlin entwickelt hat. Weder ein Rekonstruieren des im Zweiten Weltkrieg verlorenen Bestandes noch ein Kontrast zwischen Alt und Neu schweben Chipperfield vor. Stattdessen plädiert er für einen dritten Weg im Umgang mit dem historischen Gebäude - ähnlich wie einst Hans Döllgast bei der Alten Pinakothek in München, deren Kriegsschäden als Teil der Geschichte des Hauses bewahrt und in seine Wirkung mit einbezogen werden. Auch dies lässt sich als eine Konzentration auf das Wesentliche begreifen.


[ David Chipperfield: Architectural Works 1990-2002. Hrsg. Thomas Weaver. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. Text in englischer Sprache. 343 S., zahlr. Abb., Fr. 112.-. ]

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