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Die breite Spitze der Baukunst
Spectrum

Sichtbeton, rostroter Stahl und Kalkstein aus Istrien: Hubmann und Vass gestalteten den neuen Zugang zum Schloss Rivoli in Turin. Was macht dieses Projekt zu einem von Europas besten Bauten?

29. September 2012 - Christian Kühn
Bergsteiger wissen, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten nur selten die gerade Linie ist. Sobald man sich nicht im abstrakten Raum, sondern in der wirklichen Welt von A nach B bewegt, wird der Begriff „kurz“ vieldeutig und bezeichnet nicht nur eine gemessene Länge, sondern auch die Anstrengung einer durchschrittenen Zeit und das mehr oder weniger „kurzweilige“ Erlebnis einer zurückgelegten Wegstrecke.

Das Schloss Rivoli in Turin, ein Palazzo aus dem 18. Jahrhundert, liegt auf einem Hügel, der ursprünglich als monumentale Terrassenanlage geplant war. Nach der Einstellung des Baus blieb davon nur ein Schüttkegel, über den eine schmale Straße in Serpentinen nach oben führte. Der Hauptzugang zum Schloss, das heute als Museum für zeitgenössische Kunst genutzt wird, lag bisher seitlich, abgewandt vom Zentrum der Stadt Turin, von wo aus die Alleestraße des Corso Francia kilometerlang auf das von Weitem sichtbare Schloss zuläuft.

2002 schrieb die Stadt einen Wettbewerb für die Neugestaltung des Zugangs aus, der die Schlossterrasse mit dem Straßengewirr am Fuß des Hügels und mit einer in Zukunft hier mündenden U-Bahn-Station verbinden sollte. Erich Hubmann und Andreas Vass, die bereits den Vorbereich zur Alhambra im spanischen Granada gestaltet haben, konnten den Wettbewerb mit einem Projekt für sich entscheiden, das den Berg gewissermaßen mit dem Seziermesser aufschneidet und ihm ein System von Rolltreppen, Rampen und Überdachungen implantiert, das die Besucher in Etappen von Ausblick zu Ausblick und schließlich auf die Schlossterrasse führt.

Die Konsequenz, mit der dieser Grundgedanke umgesetzt wurde, ist eine Meisterleistung. Der Steilhang wurde mit Spannankern gesichert, die Bergflanke unterfangen, mit Auskragungen, die bis zu fünf Meter betragen. Der Weg führt über unterschiedliche Bodenbeläge: Kalkstein, buckelige Kieselflächen, Asphalt. Die Überdachungen sind in Cortenstahl ausgeführt, Stützmauern in unterschiedlich eingefärbtem Beton und Naturstein. Aus der banalen Aufgabe, einen Weg zwischen zwei Punkten herzustellen, ist hier ein architektonisch durchgestalteter Raum geworden, der in den Hügel hineinführt und streckenweise unter der Serpentinenstraße durchtaucht. Der Weg ist eine Erweiterung des Museums, das nun nicht erst oben auf dem Berg beginnt, sondern schon unten in der Stadt. Dass jedes Element beinahe Innenraumqualität hat, ist aus dieser Perspektive betrachtet keine Verschwendung, sondern konsequent.

Der neue Zugang zum Schloss Rivoli ist – gemeinsam mit dem Museumseinbau in Stift Altenburg von Jabornegg & Palffy – eines von zwei Projekten österreichischer Architekten, das aus insgesamt 343 nominierten in die engere Wahl für den aktuellen Mies-van-der-Rohe-Preis aufgenommen wurde. Der Auswahlprozess für diese wichtigste, mit 80000 Euro dotierte europäische Auszeichnung für Architektur ist so komplex wie die EU selbst: Architektenkammern, Architekturzentren und -museen haben ein Nominierungsrecht, sowohl direkt für Projekte als auch indirekt durch die Nennung weiterer Experten; Architekten aus allen Ländern der EU können für den Preis vorgeschlagen werden, auch mit Projekten außerhalb Europas; Norwegen, Island und Liechtenstein sind dabei, ebenso die Kandidatenländer aus Ex-Jugoslawien und die Türkei, die Schweiz nicht (was für einen europäischen Architekturpreis einen Schönheitsfehler darstellt). Eine Jury aus sieben Personen, zu der neben früheren Preisträgern auch Architekten und Kritiker gehören, die von außerhalb der EU kommen, nimmt aus den Einreichungen rund 40 Projekte in die engere Wahl und wählt daraus sieben Finalisten. Diese Projekte werden von der Jury besucht, und unter ihnen werden schließlich zwei Preise vergeben, ein Hauptpreis und einer für das beste junge Büro. Eine Ausstellung der Projekte der engeren Wahl reist danach durch Europa und ist noch bis 8.Oktober im Architekturzentrum in Wien zu sehen.

Der Preis, der seit 1988 alle zwei Jahre vergeben wird, ist ein Gradmesser für den Stand der architektonischen Kultur Europas. Er ist nicht objektiv, sondern das Ergebnis zahlreicher Annahmen und Vorurteile über das, was architektonische Qualität ausmacht: Die Homepage www.miesarch.com gibt einen faszinierenden Überblick über die Geschichte der neueren Architektur im Spiegel ihrer Selbstkritik. Dass heuer mit David Chipperfields Neuem Museum in Berlin und dem Collage-Haus von Boch und Capdeferro in Girona zwei Projekte die Hauptpreise erhielten, die vom Bestand leben – einmal im großen Maßstab eines Museums und einmal im kleinen eines Wohnhauses –, ist bezeichnend. Hier schiebt sich derzeit ein europäisches Klischee des vorsichtigen Weiterbauens in den Vordergrund, das sich bei genauerer Betrachtung als zumindest problematische – weil in erster Linie ästhetische – Antwort auf die Forderung nach Nachhaltigkeit im Bauen erweist.

Ist Chipperfield nun der beste Architekt Europas? Diese Frage geht an der Intention des Preises vorbei. Dessen Ziel ist es, architektonische Projekte höchster Qualität auf eine Spitze hin auszurichten und damit die Qualitätsdiskussion anzuregen. Summiert man die Ergebnisse der nationalen und internationalen Architekturpreise, zeigt sich, wie breit diese Spitze in Wahrheit ist. Für die österreichische Szene liegt nun schon in der dritten Ausgabe ein Buch vor, das genau diese Zusammenschau leistet: der von Kulturministerin Claudia Schmied alle zwei Jahre in Auftrag gegebene Band „Best of Austria“. Hier sind so gut wie alle Ergebnisse österreichischer und die renommiertesten internationalen Preise berücksichtigt und in kurzen Projektdarstellungen auf 270 Seiten präsentiert. 430 Namen zählt die Liste der Architekten und Architektinnen. Dieses Buch gehört in jeden Haushalt, vor allem in die öffentlichen, die sich fragen müssen, warum trotz dieser breiten Spitze noch immer so viel Mist in diesem Land gebaut wird.
[ Der Band „Best of Austria 2010–2011“ ist bei Park Books, Zürich, erschienen. ]

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