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Wenn der Sachzwang baut
Spectrum

Zwei Jahrzehnte wurde um dieses Projekt gestritten, 490 Millionen Euro wurden investiert. Im November steht die Eröffnung an. Hat sich der Aufwand gelohnt? Wien Mitte, ein Lokalaugenschein.

27. Oktober 2012 - Christian Kühn
Vor 150 Jahren war hier der „Bauchvon Wien“: Nach dem Vorbild der Pariser Markthallen errichtete die Stadt 1864 an der Landstraßer Hauptstraße eine Großmarkthalle, die später um eine Fleisch- und eine Viktualienhalle ergänzt wurde. Sie bildeten ein Ensemble beiderseits einer Brücke, die über die damals noch offenen Gleisanlagen und den Wienfluss Richtung Stadtzentrum führte.

Von diesem Ensemble ist längst nichts mehr übrig. 1957 wurde hier das erste Shoppingcenter Wiens eröffnet, das „Ausstellungs- und Einkaufszentrum“ (AEZ), mit der längsten Rolltreppe Österreichs und einem Autolift, der bis auf die Dachterrasse führte. Als Pendant entstand gegenüber das wegen seiner blauen Parapetbänder so genannte „Blaue Haus“, ein Bürogebäude mit den Abgängen zu U- und Schnellbahn. 1979 wurde die letzte verbliebene Markthalle abgerissen, und an ihrer Stelle wurde ein düsteres Markt- und Garagengebäude errichtet, das den schon seit Jahren spürbaren Niedergang des Areals besiegelte.

1985 entwickelten Roland Rainer und Hermann Knoflacher im Auftrag der Stadt einen Plan für die Sanierung des Areals, der eine Blockrandbebauung mit 94000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche vorsah. Damit war für die ÖBB als Eigentümer ein erstes Maß für die Verwertbarkeit des Areals vorgegeben. Wie alle Europäischen Bahnen träumten auch die ÖBB seit Ende der 1980er-Jahre davon, ihre wertvollen zentrumsnahen Grundstücke zu Geld zu machen. 1990 wurden diese Hoffnungen in einem ersten Wettbewerb für das Areal konkretisiert, den die Architekten Laurids und Manfred Ortner für sich entscheiden konnten: Aus den ursprünglich 94000 Quadratmetern wurden 11.0000, verteilt auf mehrere schlanke Türme, die sich in der Höhe am benachbarten Hotel Hilton mit 65 Metern orientierten. Obwohl 1993 ein entsprechender Bebauungsplan im Gemeinderat beschlossen wurde und mit der B.A.I. ein Investor gefunden war, kam es zu keiner Realisierung. Die Absage der Weltausstellung EXPO 95 hatte zu einem Sinken der Büromieten in Wien geführt, die das Projekt wirtschaftlich zu riskant erscheinen ließen.

1998 legten die Projektentwickler einen neuen Plan vor, in dem die Nutzfläche nochmals auf 13.6000 Quadratmeter und die Türme auf bis zu 120 Meter gewachsen waren. Trotz massiver Proteste von Bürgerinitiativen wurde im Mai 2000 im Gemeinderat ein Bebauungsplan beschlossen, der den Investoren ein Projekt mit einem 42 Meter hohen Sockel und vier Türmen zusicherte, drei davon 87 und einer 97 Meter hoch. Auch das Planungsteam änderte sich: Zu Ortner und Ortner kamen die Büros Neumann und Steiner sowie Lintl und Lintl.

Gestoppt wurde das Projekt nicht von der Bürgerinitiative, der sich inzwischen auch Altbürgermeister Helmut Zilk angeschlossen hatte, nicht von namhaften Architekten, die weniger gegen die Höhe an sich als gegen die miserable Qualität des Projekts protestierten, und auch nicht von der Tatsache, dass die UNESCO 2001 die Innere Stadt zum Weltkulturerbe erklärte. Das waren für die Investoren nur Vorwände, sich von einem riskanten Projekt mit niedriger Rendite zu verabschieden. Das beste Indiz dafür ist, dass der 87 Meter hohe Turm des Justizzentrums an der Marxergasse, jener Teil des Projekts, der baurechtlich und technisch die geringsten Probleme aufwarf und einen zahlungskräftigen Mieter in Aussicht hatte, 2003 ohne Skrupel realisiert wurde.

Für den Rest des Areals hieß es aber 20 Jahre nach den ersten Planungen wieder zurück an den Start. Die B.A.I. wurde mit sanftem Druck der Stadt wieder ins Boot geholt und sollte mit ihrem neuen Geschäftsführer, Thomas Jakoubek, der sich unter anderem mit der Entwicklung des T-Center in St. Marxeinen Namen gemacht hatte, den „Sauhaufen“ (Bürgermeister Michael Häupl) in Ordnung bringen.

2003 kam es zu einem städtebaulichen Wettbewerb, den die Architekten Henke und Schreieck für sich entscheiden konnten. Das Projekt überzeugte durch eine u-förmige Blockrandbebauung, im Erdgeschoß durchlässig und mit mehrgeschoßigen Stadtfoyers zur Umgebung geöffnet, ergänzt durch eine dichte Bebauung im Inneren, die sich Richtung Justizzentrum in die Höhe schraubt und an der Marxergasse eine Art Skyline ausbildet.

Dass dieses Projekt nicht 1:1 realisiert werden konnte, war jedoch von Anfang an klar: Es hatte von allen Einreichungen die geringste Nutzfläche und lag 20.000 Quadratmeter unter der Vorgabe. Ohne Henke und Schreieck – die ja nur den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen hatten – weiter einzubeziehen, knetete das Team um Ortner und Neumann so lange am Projekt, bis die 12.0000 Quadratmeter wieder erreicht waren. Der dafür sinnvollste Weg, den Turm Richtung Justizzentrum um ein paar Geschoße zu erhöhen, war leider versperrt: DerKotau der Stadt Wien gegenüber den Welterbe-Fundamentalisten, die Qualität in Höhenmetern messen, war schon damals vollkommen. Verloren haben die öffentlichen Flächen und Durchgänge im Erdgeschoß, die zugunsten der Shoppingmall auf ein Minimum reduziert wurden, und die Proportion der Blockrandbebauung, die höher ausfiel als ursprünglich vorgesehen.

Trotzdem ist Wien Mitte deutlich besser als das, was ein Projekt nach den Plänen des Jahres 2000 der Stadt beschert hätte. Der architektonisch interessanteste Bereich, die Staffelung der Baumassen im Innenhof, ist für die breitere Öffentlichkeit kaum sichtbar, da anstelle des von Henke und Schreieck vorgesehenen Glasdachs nur ein ovaler Deckendurchbruch ausgeführt wurde. Die Obsession der Planer fürs Ovale macht sich auch in der Fassade zur Gigergasse mit ihren großen, unmotivierten Bullaugen bemerkbar. Zur Landstraße hin bemühen sich hinterleuchtete Stützen aus Mattglas und eine von der Künstlerin Esther Stocker gestaltete schräge Decke aus Sichtbeton, einen Hauch von Las Vegas zu verbreiten, und in der Mall wird die Besucher eine 7,5 Meter hohe, schwebende Aluminiumskulptur von Louise Bourgeois empfangen.

Diese Kunstwerke runden das Bild ab, das Wien Mitte heute bietet: ein Monstrum – im ursprünglichen Wortsinn eines Mahnzeichens –, dem die über Jahrzehnte angehäuften Sachzwänge in allen Gliedern stecken. Ins 19. Jahrhundert, in die lebendigen Viktualien- und Fleischmärkte, führt kein Weg zurück. Wir müssen uns Frankenstein als einen glücklichen Menschen vorstellen.

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