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Salto mortale mit Schlag
Spectrum

Schöner als die Nike von Samothrake: Coop Himmelb(l)au setzt der futuristischen Phase in der rasanten Entwicklung Chinas mit dem Konferenzzentrum in Dalian ein Denkmal.

2. März 2013 - Christian Kühn
Nach der industriellen Revolution kommt der Futurismus: „Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen“, heißt es in Filippo Tommaso Marinettis futuristischem Manifest von 1909. „Wir wollen die angriffslustige Bewegung preisen, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . . . ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als dieNike von Samothrake.“

Wer heute China bereist, findet eine Mentalität vor, die in ihrer Euphorie für den rasenden Fortschritt diesem Futurismus gleicht. Sie weist aber auch dessen dunklen Seiten auf, die Verherrlichung des Militarismus und des Rechts des Stärkeren. Die explosive Bautätigkeit des Landes beruht auf einer Goldgräbermentalität, der Tausende alte Stadtviertel geopfert werden. Archäologische Funde, die in Europa Projekte zum Scheitern bringen würden, bremsen die Entwicklung in China höchstens für einen Moment, zumindest wenn die Investoren über gute politische Kontakte verfügen.

Mit ihrem Konferenzzentrum in Dalian, einer Stadt mit dreieinhalb Millionen Einwohnern im Nordosten Chinas, hat Coop Himmelb(l)au der futuristischen Phase in der Entwicklung Chinas ein Denkmal gesetzt. Man muss dieses Bauwerk mit dem Nationaltheater in Peking vergleichen, das nach Plänen des französischen Architekten Paul Andreu errichtet und 2007 eröffnet wurde. Die fünf Jahre Differenz zwischen den beiden Kulturbauten entsprechen im chinesischen Zeitraffer einer ganzen Epoche.

In Raumprogramm und Dimension sind sich die Projekte durchaus ähnlich. Das Nationaltheater enthält im Kern eine Oper, flankiert von zwei großen Sälen, die zusammen unter einer im Grundriss 220 mal 150 Meter überspannenden, teilweise verglasten Kuppel untergebracht sind. Die Kuppel sitzt in einer 250 mal 250 Meter großen Wasserfläche und ist nur über einen unter dem Wasser geführten Tunnel erreichbar – ein Stück Herrschaftsarchitektur, das maßstabslos neben der Verbotenen Stadt aufragt. Mit ihren gigantischen, symmetrisch geordneten Innenräumen symbolisiert sie eine Epoche, in der die chinesische Nomenklatura noch an ihre Allmacht glauben durfte.

Das Konferenzzentrum in Dalian ist mit 200 mal 220 Metern annähernd gleich groß wie sein Pekinger Pendant. Auch hier liegt ein Theater- und Opernsaal für 1600 Personen im Zentrum, allerdings umgeben von sieben unterschiedlich großen Konferenz- und Banketträumen, deren größter für 2500 Personen ausgelegt ist und bei Bedarf die Hinterbühne der Oper mitnutzen kann. Auf Fotos lässt sich die Dimension des Bauwerks nur erahnen: In seinen beiden ersten Geschoßen ließe sich das österreichische Parlament unterbringen, und würde man dann die Staatsoper obendrauf packen, bliebe noch immer Luft für Dutzende Zinshäuser.

Von Symmetrie im üblichen Sinn ist an diesem Bauwerk nichts zu spüren. Es gleicht einer Gewitterwolke, die in einem Moment hoher Turbulenz eingefangen und auf die Erde geholt wurde. Die skulpturale Wirkung ist beeindruckend, sowohl bei Tag, wenn sich in der matt glänzenden Fassade aus Aluminiumblech der Himmel spiegelt, als auch bei Nacht, wenn farbige LEDs die Hülle in wechselndes Licht tauchen. Dennoch ist dieses Bauwerk nicht einfach eine begehbare Skulptur. Seine innere funktionelle Logik ist klar, das Erschließungssystem übersichtlich und der Innenraum erstaunlich differenziert: Neben gigantischen Canyons gibt es zahlreiche ruhigere Zonen, alle gut proportioniert und über den Filter der Aluminiumhülle angenehm belichtet. So geschlossen die Hülle von außen wirkt, erscheint sie durch die verwendeten Lochbleche von innen wie ein dünner Schleier, der das Licht filtert.

In diesen Räumen gibt es keine zentrale Kontrolle mehr. Hinter jeder Ecke lauert eine neue Gelegenheit, alles bewegt sich und wird doch auf eine geheimnisvolle Weise in einem kontrollierten Zustand gehalten, weil die Bewegungen sich ausgleichen wie in der Kurvatur eines Drachenkörpers. Wenn die aktuellen chinesischen Eliten ihr Paradies beschreiben müssten, es würde den endlosen Raumfluchten des Konferenzzentrums in Dalian gleichen.

Nicht nur formal, sondern auch technisch ist Coop Himmelb(l)au mit diesem Bau ein Meisterwerk geglückt. Das selbsttragende Schalentragwerk des Dachs überspannt 85 Meter, der Foyer- und Ausstellungsraum kragt 40 Meter weit aus. 14 vertikale Kerne aus Beton-Stahl-Komposit tragen die Lasten in die Fundamente ab. Das Know-how der örtlichen Schiffsbaufirmen wurde genutzt, um die Konstruktion bis zum Äußersten auszureizen. Als die Struktur im Rohbau trotzdem andere Verformungen zeigte als vorhergesehen, konnten die Detailpläne der Fassade durch den Einsatz neuester CAD-Techniken in wenigen Wochen neu generiert werden.

Wenn die Entwicklung Chinas weiter im Zeitraffer verläuft, wird ihre futuristische Phase bald vorbei sein. In unmittelbarer Nachbarschaft des Konferenzzentrums kann man der Kopie einer europäischen Stadtstruktur mit Loire-Schloss-Türmchen beim Wachsen zusehen. Im Central-Business-District, dessen krönenden Abschluss zum Meer die Aluminiumwolke von Coop Himmelb(l)au bildet, entsteht ein grauer Turm neben dem anderen, bald auch eines der höchsten Häuser Chinas. Was danach kommt, wissen wir nicht. Vielleicht rast China in die ökologische Katastrophe, vielleicht gelingt die Wende zu einer nachhaltigeren Wirtschaft.

Die Architektur dafür muss noch erfunden werden. Dass sie hohes technisches Wissen und systemisches Denken erfordert, ist klar. An Extreme zu gehen, wie es Coop Himmelb(l)au in Dalian und in anderen Projekten wie der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und dem Musée des Confluences in Lyon getan hat, hat durchaus seine Berechtigung. Die Architektur der Zukunft wird vielleicht gar nicht futuristisch aussehen. Aber man kann nur hoffen, dass sie sich nicht aufs rein Nützliche glattbügeln lässt: Ohne Begeisterung für Raum und Form hat noch keine Kultur überlebt.

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