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Vom Nutzen der Unwirtlichkeit
Vom Nutzen der Unwirtlichkeit, Foto: Rupert Steiner
Vom Nutzen der Unwirtlichkeit, Foto: Rupert Steiner
Spectrum

Elementare Erfahrung von Material, Raum und Licht: Wie man mit einem vergleichsweise kleinen Bau die Freiheiten im Chaos der Peripherie nützen kann, zeigen ARTEC mit ihrer Schule in Wien Donaustadt.

18. Januar 1997 - Christian Kühn
Erinnerungen an die Volksschule haben immer etwas seltsam Traumartiges an sich. Vielleicht liegt es daran, daß damals alles viel größer war, die Farben und Gerüche intensiver und daß höchstes Glück und größte Angst ausgelöst werden konnten durch Anlässe, die man später nicht einmal mehr wahrnehmen würde.

Meine eigene Volksschule war ein großer Bau aus der Gründerzeit, streng symmetrisch geteilt in eine Mädchen- und eine Knabenschule. Die Klassen waren hell und freundlich, es roch nach Linoleum und Schulkakao. Das Stiegenhaus erschien mir damals geradezu gigantisch - während der Stunde alleine ins nächste Stockwerk geschickt zu werden, um etwas aus der Direktion zu holen, hatte etwas von einem Abenteuer.

Eingebettet war diese Schule in den Ordnungsraster der gründerzeitlichen Stadt, mit einem kleinen Respektabstand vom Blockrand zurückgesetzt und damit deutlich als öffentlicher Bau erkennbar. Wie das urbane System, deren Teil sie war, hatte auch diese Schule einen zwiespältigen Charakter: Sie war wohlgeordnet, aber zugleich repressiv.

Der Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Bau und seinem Kontext spielt auch dort eine Rolle, wo sich die traditionelle Stadt längst aufgelöst hat und an Stelle eines geplanten urbanen Rhythmus die zufällige Verbindung von Strukturen den Ton angibt. Beträchtliche Teile der Wiener Stadterweiterungsgebiete fallen in diese Kategorie: Wer sich jenseits von Kagran in das Gebiet zwischen Rennbahnweg und Großfeldsiedlung verirrt, wird zwischen verödeten alten Ortskernen, vierspurigen Schnellstraßen und Plattenbauten so etwas wie Stadt vergeblich suchen.

Dabei fehlt es nicht an urbaner Masse: Immerhin wurde hier erst kürzlich mit der Veterinärmedizinischen Fakultät eines der großen Universitätsareale Wiens geschaffen. Aber wieder einmal hat man sich darauf beschränkt, Kubaturen beziehungslos im Gelände abzustellen.

Wie man mit einem vergleichsweise kleinen Bau die Freiheiten im Chaos der Peripherie nützen kann, haben Bettina Götz und Richard Manahl, die zusammen als ARTEC-Architekten firmieren, mit ihrem Schulbau in der Zehdengasse bewiesen. Nur ein paar Gehminuten von der neuen „Vetmed“ entfernt, liegt diese Volksschule an einer für die Aufgabe denkbar unwirtlichen Stelle: Im Osten, also dort, wohin üblicherweise die Schulklassen orientiert werden, führt unmittelbar die Eipeldauer Straße vorbei, eine vierspurige Schnellstraße.

Das Grundstück liegt außerdem gut zwei Meter tiefer als dieser Verkehrsträger, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite bilden die Parkdecks der angrenzenden Gemeindebauten eine Mauer. Ein weiteres Problem ergab sich aus der extrem knapp bemessenen Grundstücksfläche, die für die Situierung der Schule praktisch keinen Spielraumließ.

Das von ARTEC gewählte Prinzip für die Organisation der Schule ist einfach. Weniger lärmempfindliche Bereiche wie die Turnsäle und ein kleiner Pausenhof wurden an die Eipeldauer Straße gelegt, die Klassen dagegen nach Westen, zum angrenzenden Sportplatz hin. Dazwischen liegt als verbindendes Rückgrat ein langgestreckter, dreigeschoßiger Erschließungsbereich.

Was an der Schule sofort auffällt, sind die „harten“ Materialien: Stahlbeton, Verkleidungen aus Titanzink, Aluminiumfenster, Glas. Idyllische Gegenwelt zur Unordnung rundum ist das Gebäude sicher nicht, und es braucht einen genaueren, zweiten Blick, um seine Qualitäten zu erkennen.

Es sind vor allem die feinen Nuancierungen der harten Schale, die sich einprägen: Gläser unterschiedlicher Transparenz, die Feinstruktur der Blechverkleidung, die aus schuppig übereinandergesetzten Lamellen besteht, ein paar kräftige Farben, die aus dem Inneren hervorblitzen. Wenn das Zinktitanblech, das jetzt noch glänzt wie Aluminium, seine matte Patina angesetzt hat, wird sich dieser differenzierte Eindruck noch verstärken.

Im Inneren haben die Architekten die harten Oberflächen beibehalten, aber durch Lichtführung und Farbgebung Räume erzeugt, die kräftiger und „kindgerechter“ sind als das meiste, was es im jüngeren Wiener Schulbau zu sehen gibt. Das dominierende Material der Grundstruktur ist Beton, freilich in verschiedenen Formen: einmal mit rauhen Brettern geschalt, einmal als Fertigteil, feinporig und von hellerer Tönung, dann wieder glänzend lackiert. Die Ausfachungen zwischen den tragenden Elementen bestehen aus gestrichenen Holz- und Gipskartonplatten. An den Klassenwänden dominieren dabei zwei kräftige Gelbtöne: ein sattes, dunkles Melonengelb und ein helles Zitron. Alle Metallteile, also die Handläufe und das Lochblech der Brüstungen, sind signalorange, das Linoleum der Böden graugrün meliert.

Das Licht wird vor allem im mittleren Erschließungsbereich kalkuliert eingesetzt, um verschiedene Zonen zu schaffen, die jeweils mit einem der drei L-förmig an das Rückgrat angeschlossenen Klassentrakte korrespondieren. In der ersten Zone fällt das Licht von der Seite ein und wird durch Glasstreifen im Boden nach unten gefiltert. In der mittleren Zone belichtet ein Oberlicht eine über alle drei Geschoße reichende Wand aus Stahlbeton, mit der die Architekten so etwas wie eine Felswand in die transdanubische Ebene bringen wollten, und tatsächlich wird das für viele Kinder der erste Innenraum mit dieser Erstreckung in der Vertikalen sein.

Ans Ende der Erschließungszone haben die Architekten im Erdgeschoß den Bereich für die Nachmittagsbetreuung gelegt: einen kleinen Speisesaal, die Küche und einen Aufenthaltsraum. Diese Räume sind geschickt mit zwei ganz unterschiedlich ausgeformten Freiflächen verbunden: dem geschlossenen, durch eine Mauer zur Eipeldauer Straße geschützten Innenhof und einer kleinen, nach Westen offenen Spielfläche zwischen zwei Klassentrakten.

Daß die Möblierung dieser Freiflächen schließlich mit rustikalen Bänken erfolgte, ist bedauerlich. Wahrscheinlich hätte man hier gar keine Möbel gebraucht, sondern einfach einen geschälten Baumstamm und ein paar große Steine, aber überall dort, wo freies Spielen auch nur mit minimalem Risiko verbunden ist, setzt sich offensichtlich die normgemäße, aber phantasielose Lösung durch.

Auch die Klassen selbst folgen dem starren Schema, das von der Wiener Schulbaubehörde als Normvorgegeben ist und bis zur Lage des Waschbeckens jedes Detail vorgibt. Die Klassentiefe beträgt generell sieben Meter, ganz gleich, ob es sich um eine große Stammklasse oder um eine kleine Integrationsklasse für nur sechs Schüler handelt. Daß dabei oft unsinnige Proportionen entstehen, ist nur ein Nachteil dieses rigiden Systems. Neue Formen des Schulbaus lassen sich so nicht erproben, und das zu Recht gelobte Wiener Schulbauprogramm hat ja bisher auch eher formale Fortschritte gebracht, als die Schulbautypologie weiterzuentwickeln.

Daß es auf diesem Gebiet durchaus Bewegung gibt, zeigt beispielsweise die Diskussion in den Niederlanden oder in Japan, und man wird auch bei uns nicht darum herumkommen, über neue, stärker gemeinwesenorientierte und offenere Formen des Schulbaus nachzudenken. Um diese Diskussion anzuregen, hat die Österreichische Gesellschaft für Architektur übrigens ihr mit 50.000 Schilling dotiertes Wilhelm-Schütte-Stipendium 1997 für Forschungsarbei-ten zum Thema „Innovation im Schulbau“ ausgeschrieben.

Immerhin ist es den Architekten gelungen, auch in dieser Beziehung in ein paar Punkten vom Üblichen abzuweichen: Verglaste Vitrinen bieten zumindest in einigen Klassen eine Sichtverbindung zwischen Klassenraum und Pausenbereich, und beim Eingang gibt es einen großen, auch öffentlich nutzbaren Veranstaltungssaal, der direkt von außen zugänglich ist.

Mit ihren technoiden Oberflächen und ihrer sperrigen, eher das Abstrakt-Skulpturale betonenden Geometrie ist die Schule von ARTEC sicher nicht die im konventionellen Sinn schönste unter den jüngeren Wiener Schulbauten. Aber sie reagiert klug auf den unwirtlichen Ort und nutzt dessen offensichtlichen Schwächen für eine starke architektonische Aussage. Ihre Innenräume sind auf eine sympathische Weise „arm“ und frei von jener oberflächlichen Fröhlichkeit vieler neuer Schulen, die bei längerem Hinsehen zwanghaft wirkt. Statt dessen bietet sie die elementare Erfahrung von Material, Raum und Licht, und darin liegt wahrscheinlich ihre größte Stärke.

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