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Edle Wilde und Hundertwassers Hosenträger
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Wiener Donaukanal ist architektonisch ein Katastrophengebiet. Auch die neue Brücke für die U6 hat das Niveau dort nicht gehoben. Aber durfte man das erwarten?

4. Februar 1995 - Christian Kühn
Die schönsten Brücken über den Donaukanal kenne ich nur von Zeichnungen: Otto Wagner hat sie im Rahmen seines Stadtbahnprojekts für den Bereich des Schwedenplatzes entworfen, leichte Stahltragwerke mit steinernen Pylonen, die den Übergang vom zweiten Bezirk zur inneren Stadt markieren sollten. In der ersten Variante aus dem Jahr 1896 sind die Brückenträger noch reich mit floralen Ornamenten geschmückt und teilweise auch nach dem Vorbild von Pflanzen geformt. 1905, in einer späteren Variante, sind davon nur einige streng geometrisierte Kränze und Girlanden übriggeblieben, offensichtlich als selbständige Schmuckelemente über die Konstruktion gehängt. Auch in der Art der Menschendarstellung in den Zeichnungen gibt es eine bemerkenswerte Radikalisierung. Im ersten Projekt macht Wagner seine Brücke zu einer Kulisse für eine äußerst naturalistische Szene, in der Zeichnung von 1905 bilden Stadt, Brücke und Passanten dagegen eine stilistische Einheit. Obwohl die Rationalität der Konstruktion und die „peinlichste Erfüllung des Zwecks“ in Wagners Bauten immer deutlich spürbar sind, bleibt Schönheit für ihn das eigentliche Ziel. Architektonische Schönheit ist dabei eine eigenständige Qualität, die dem rohen Material vom Künstler-Architekten auf der Grundlage von tradierbaren, aber begrifflich nicht faßbaren Regeln aufgeprägt werden muß. Aus dieser Grundhaltung rechtfertigt sich bei Wagner der Anspruch auf eine totale Stilisierung der sichtbaren Welt.

Die Architektengeneration nach dem ersten Weltkrieg glaubte freilich, eine ganz andere Art von Schönheit entdeckt zu haben, deren Wirkung nicht auf einer „Veredlung“ des Materials durch eine künstlerische Form beruht, sondern auf der möglichst reinen Darstellung der Wechselwirkung zwischen dem Material und den einwirkenden Kräften. Das Ideal dieser Ästhetik waren die Schöpfungen des Ingenieurs, in erster Linie natürlich die Präzision der Maschine. Le Corbusier verglich den Ingenieur mit einem „edlen Wilden“, der unbelastet von tradierten Vorurteilen zur reinen, natürlichen und exakten Form gelangen könne. Die Formen, die von Ingenieuren für sogenannte Zweckbauten, für Lagerhäuser, Wasserbehälter und Silos entwickelt wurden, galten als Vorboten einer neuen Architektur, die auf ähnlich wissenschaftlicher Basis zu einer zeitlosen Ästhetik gelangen sollte. Daraus ist nicht viel geworden: die komplexen und widersprüchlichen Randbedingungen der Architektur ließen sich nicht ohne Verluste in eine wissenschaftliche Formel zwängen. Unter den Händen der Architekten verwandelte sich die ingenieurmäßige Formensprache in einen neuen, internationalen Stil, der genauso kurzlebig war wie seine Vorgänger. Geblieben ist die Idee einer selbständigen Ästhetik des Ingenieurbaus. Überall dort, wo es in erster Linie um die Beherrschung von Kräften geht, gilt die Ableitung der Form aus einer ingenieurmäßig korrekten Durcharbeitung als selbstverständlich.

Die neue Brücke über den Donaukanal, die jetzt im Zuge der Verlängerung der U6 nach Floridsdorf errichtet wurde, gibt wieder einmal Anlaß, über die Frage einer autonomen Ästhetik des Ingenieurbaus nachzudenken. Bei der Brücke handelt es sich um eine asymmetrische Schrägseilbrücke, deren Kabelbündel vom Brückenträger weg strahlenförmig zu zwei rund dreißig Meter hohen Pylonen aus Stahlbeton führen. Die Pylone selbst sind zur anderen Seite hin abgespannt, um ihre Belastung zu minimieren. Als Überbrückung eines relativ schmalen Gewässers ist diese Konstruktion jedenfalls ungewöhnlich: alle anderen Brücken am Donaukanal kommen für die Spannweite von knapp 60 Metern mit viel einfacheren Mitteln aus. Auf den ersten Blick liegt die Vermutung nahe, daß hier mit einer aufwendigen Konstruktion ein besonderes Signal gesetzt werden sollte. Eine Anfrage beim Bauingenieur, von dem das Konzept für die Brücke stammt, klärt das als Irrtum auf. Peter Biberschick, Partner von Manfred Pauser, einem der bekanntesten österreichischen Brückenbauer, begründet die Entscheidung für die gewählte Konstruktion Punkt für Punkt aufgrund besonderer Voraussetzungen. Es handelt sich eigentlich nicht um eine, sondern um drei Brücken: die mittlere dient der U-Bahn; die stromaufwärts liegende ist eine Abfahrtsrampe von der Gürtelbrücke zur Brigittenauer Lände für den Autoverkehr; stromabwärts bildet ein drittes Tragwerk einen Fußgängersteg mit direkter Anbindung an die neue Station „Spittelau“. Alle drei Tragwerke liegen auf Querträgern auf, die ihre Last über die Kabelbündel an die Pylonen weiterleiten. Die Schrägseilkonstruktion selbst ist durch den weiteren Streckenverlauf der U-Bahn bedingt. Da die nächste Station unterirdisch angelegt werden mußte, ist die U-Bahntrasse schon im Brückenbereich mit der maximal erlaubten Neigung von 4 Prozent nach unten geführt und verschwindet am Brigittenauer Ufer in einem überschütteten Rampentunnel. Um das Schiffahrtsprofil des Donaukanals nicht unnötig einzuschränken, mußte das Tragwerk über das Fahrbahnniveau der Brücke gelegt werden.

Eine erste Grundentscheidung bestand darin, die drei Funktionsbereiche der Brücke knapp nebeneinander zu legen und zwischen ihnen Raum für eine übergeordnete Tragkonstruktion zu lassen. Als Alternativen dafür boten sich eine Bogenkonstruktion und die nun ausgeführte Schrägseillösung an. Die Idee der Bogenbrücke wurde aus ästhetischen Gründen nicht weiterverfolgt, wie Peter Biberschick betont: die schräg geführten Fahrbahnen seien als unverträglich mit der Bogenform angesehen worden. Die Schrägseilkonstruktion erfüllte dagegen nicht nur alle äußeren Anforderungen, sie hatte vom Ingenieursstandpunkt aus auch den zusätzlichen Reiz, daß sich das anschließende Tunnelbauwerk zur Verankerung der Abspannseile mitbenutzen ließ. Von diesem Punkt an ist die Gestalt der Brücke das Ergebnis von Berechnungen: die Höhe der Pylonen ergibt sich aus der sinnvollen Neigung der Seilabspannung, ihre Dimension aus den angreifenden Lasten und die Form der seltsamen stählernen Aufsätze auf den Pylonen aus der Notwendigkeit, die Kabelaufhängung für Wartungszwecke zugänglich zu halten.

Die Architekten Holzbauer, Marschalek, Ladstätter und Gantar, als Architektengemeinschaft U-Bahn schon für die Strangpreßästhetik der ersten U-Bahn-Bauten zuständig, haben dieser Darstellung der Gestaltfindung für die neue Brücke kaum etwas hinzuzufügen. Heinz Marschalek ist zwar über die Dicke und die Farbgebung der Abspannseile nicht gerade glücklich. Eine Durchfärbung der Polyäthylenhülle in einer anderen als der schwarzen Materialfarbe wäre jedoch zu teuer gekommen. Und was die Höhe der Pylonen betrifft, so ist er mit dem Tragwerksplaner einig, daß es sich hier eben um einen reinen Zweckbau handelt, bei dem skulpturale Überlegungen keine Rolle gespielt hätten.

Überhaupt scheint sich die AGU um dieses Bauwerk nicht besonders angenommen zu haben: die einzig merkbaren Zutaten sind ein plump gelöster Stiegenaufgang zum Fußgängersteg (eine Brücke weiter stromaufwärts hätte man nachsehen können, wie leicht eine Stahlbetontreppe konstruiert sein kann) und das Tunnelportal, in dem die U-Bahn nach der Brücke verschwindet. Dieses Portal ist im Grunde nicht mehr als die Überdachung einer Abfahrtsrampe, und doch vermittelt es mit seinen Betonmassen den Eindruck, als müsse es sich gegen den Mont Blanc stemmen. (Mit der hinteren Abspannung der Kabelbündel haben diese Betonmassen im übrigen keinen zwingenden Zusammenhang: deren Widerlager liegt eine ganz Kontruktionsebene tiefer.) Wenn man von diesen den Architekten anzulastenden Zutaten einmal absieht, ist freilich alles an dieser Brücke begründbar. Schön ist sie deswegen aber noch lange nicht. Die Proportionen sind grob, der visuelle Eindruck unruhig. Alle Details sind auf ein einziges Kriterium hin optimiert, das mit einer Ingenieurästhetik der minimierten Konstruktion gar nichts zu tun hat, nämlich auf geringste Kosten. Innovativ ist dabei höchstens, daß auch die Erhaltungskosten in die Rechnung einbezogen wurden: daher die mehrfache Polyäthyleneinbettung der Kabel und die Verdopplung der Abspannung. Aber hätte man sich denn bei einem solchen Bauwerk überhaupt mehr erwarten dürfen? Ich denke schon. Der U-Bahn-Bau ist eines der größten öffentlichen Projekte der Stadt Wien. Im Rahmen eines solchen Projekts gibt es eine große Anzahl von Standardsituationen, die allein auf Grund ihrer Wiederholbarkeit auf einem nicht nur konstruktiv, sondern auch ästhetisch hohen Niveau gelöst werden können. Und es gibt außergewöhnliche Punkte, die als besondere Herausforderung erkannt und angenommen werden müssen. Der Bauabschnitt, in dem die neue Donaukanalbrücke liegt, ist aus dieser Perspektive betrachtet wahrscheinlich der interessanteste der ganzen U6: er schließt direkt an die alte Wagnersche Stadtbahn an, muß eine Flußquerung und zugleich den Wechsel der Streckenführung von Hoch- in Tieflage bewerkstelligen und ist durch seine Lage an einer der Wiener Stadteinfahrten auch ein markantes Element im Stadtbild.

Um diese Herausforderung anzunehmen, hätte es den Mut gebraucht, sich von einer Ingenieurästhetik zu befreien, die sich für wissenschaftlich hält und dabei doch nur für eine Ideologie der minimierten Kosten vereinnahmt wird. Natürlich hätte mehr Qualität auch mehr gekostet, und bei einer Gesamtsumme von 1,3 Milliarden Schilling, die für die 672 Meter dieses Bauabschnitts projektiert sind, ist jedes Prozent ein beachtlicher Betrag. Freilich: Der beste Beweis, daß selbst die pervertierteste Form von Schönheit öffentlich finanziert werden kann, steht in unmittelbarer Nachbarschaft – Hundertwassers Kostüm für den Verbrennungsturm hat den Steurzahler 85 Millionen gekostet. Der Meister wurde übrigens schon in der Nähe der Brücke gesehen. Wird er die Pylonen mit Kacheln verzieren, oder werden die schwarzen Abspannseile bald bunt bemalt als Hundertwassers Hosenträger ins Wiener Stadtbild eingehen?

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