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Komfort mit Ecken und Kanten
Komfort mit Ecken und Kanten, Foto: Margherita Spiluttini
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Wohnen im Raum, nicht im Zimmer: Nach diesem Prinzip hat Anton Schweighofer in Wien- Simmering ein Haus gebaut - und die Behauptung widerlegt, im geförderten Wohnbau gehe es nur darum, standardisierte Grundrisse kostengünstig zu reproduzieren.

3. Mai 1997 - Christian Kühn
Früher einmal, da wohnte der Wiener in Zimmer, Küche, Kabinett. Der gründerzeitliche Spekulationsbau hat diese Kombination aus quadratischem Wohnraum und zwei schmalen Nebenräumen tausendfach addiert, zu Mietshäusern gestapelt und ganze Stadtviertel aus ihnen errichtet. Daß dieser Typus auch Qualitäten besitzt, ist unbestritten. Die Raumproportionen sind gut, und die einfache, repetitive Geometrie bietet die Möglichkeit zur Anpassung an geänderte Bedürfnisse.

Als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse ist das gründerzeitliche Zinshaus weit weniger sympathisch. Es ist eine Degenerationsform des bürgerlichen Wohnhauses, in der nicht das Wohnen, sondern die Rendite im Mittelpunkt steht. Während das bürgerliche Wohnhaus das vielfältige Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Verpflichtungen zum Ausdruck brachte und damit um sich herum Urbanität erzeugte, beschränkt sich der Beitrag des Zinshauses zur Stadt auf die Fassade. Dahinter reiht sich Zimmer an Zimmer, funktionell geordnet, aber ohne jene eigenständige Verfassung, die aus den Zimmern erst eine Wohnung und aus der Wohnung eine Heimat machen könnte.

Ist die heutige Wohnbaupraxis dieser Haltung tatsächlich so weit überlegen, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat? Was den Komfort, die Wohnungsgröße und die technische Ausstattung betrifft, ist das natürlich keine Frage. In all diesen Punkten haben sich Standards eingebürgert, die kein Bauträger zu unterschreiten wagt. Die prekäre Beziehung zwischen privater und öffentlicher Sphäre ist dagegen ein Thema, dessen Vernachlässigung kaum jemandem Kopfzerbrechen zu bereiten scheint.

Solange es um Reihenhäuser oder verdichtete Teppichsiedlungen geht, ist das weniger problematisch: Hier impliziert die Aufgabe an sich das Nachdenken über Grenzen und Übergange vom Öffentlichen zum Privaten. Beim mehrgeschoßigen Wohnbau dagegen, der ja derzeit aus ökonomischen Gründen in Wien wieder absolute Priorität hat, scheint man in dieser Frage aber ungestraft noch unter das Niveau des Zinshauses zurückfallen zu dürfen. Jedenfalls überwiegen nach wie vor die Fälle, bei denen - angeblich im Interesse der Bewohner - nur die Maximierung von Nutzfläche betrieben wird.

Wie sehr letztlich auch die Bewohner davon profitieren können, wenn man die Beziehung zwischen Haus und Stadt ernsthaft thematisiert, beweist ein jüngst nach dem Entwurf von Anton Schweighofer fertiggestelltes Wohnhaus in Wien- Simmering. Es ist ein Bau von eindeutig urbanem Charakter, ein langgestreckter, zur Kaiserebersdorfer Straße hin fünfgeschoßiger Riegel mit markant ausgeformten Ecken, der an den Seiten auf drei Geschoße reduziert ist und dort präzise an die gründerzeitliche Bebauung anschließt. Was sofort auffällt, ist der tiefe Vorgarten an der Hauptstraße, der jetzt noch etwas kahl wirkt, aber im Laufe der Zeit einen grünen Filter vor das Haus setzen wird. Der Vorgarten ist teilweise den Wohnungen im Erdgeschoß zugeordnet, teilweise schafft er großzügige Vorbereiche vor den Eingängen ins Haus. Das Flächenpotential ist damit zwar nicht ganz ausgeschöpft, der Bauherr ließ sich aber davon überzeugen, daß der tiefe Vorgarten die Qualität der Wohnungen steigern würde.

Im Erschließungssystem setzt sich diese Großzügigkeit fort: Statt das Stiegenhaus auf ein Minimum zu reduzieren, hat Schweighofer daraus einen lichtdurchfluteten Raum gemacht, der durchaus auch zum Verweilen einlädt. Abgeschlossen ist dieser Raum durch einen gläsernen Wintergarten, der als großer, ruhig proportionierter Kasten genau so weit über die Putzfassade vorspringt, daß man beim Begehen der Treppe immer wieder aus dem Baukörper herauszutreten vermeint und einen Blick nicht nur auf die andere Straßenseite, sondern weit in die Kaiserebersdorfer Straße hinein werfen kann. Die Stiegenpodeste sind hier über das notwendige Maß hinaus zu kleinen, zwischen den Stockwerksniveaus schwebenden Plattformen erweitert, die sich die Bewohner im Lauf der Zeit aneignen werden.

Mit ihrem raffinierten Spiel aus Symmetrie und Asymmetrie prägen zwei solcher verglaster Stiegenhäuser den Mittelteil der Fassade. Die Ecken des Baukörpers sind dagegen als massive Blöcke ausgeformt. Im obersten Stock lösen sich diese Blöcke in ein Gerüst aus Rahmen auf, die ihrerseits einen achteckigen Turm einfassen. Eine solche Verbindung zwischen der Sprache der klassischen Moderne und einer in der klassischen Tradition verankerten Geometrie hat Schweighofer schon oft durchexerziert. Bemerkenswert ist hier allerdings, wie sich diese Spannung bis in die Grundrisse der Wohnungstypen verfolgen läßt.

In den Ecktypen findet sich eine Variante dessen, was Schweighofer als „Kreuzgrundriß“ bezeichnet: Vier annähernd quadratische, in ihrer Nutzung nicht genau vorbestimmte Raumeinheiten umschließen einen kreuzförmigen Innenbereich, der zum gemeinsamen Wohnen und zur Erschließung der umliegenden Einzelräume dient. Bei seinen Wohnbauten der späten achtziger Jahre hat Schweighofer dieses Prinzip erprobt, und es hat sich trotz anfänglicher Bedenken bezüglich der Möblierbarkeit und der Belichtung gut bewährt.

Daß dieser Wohnungstyp nicht nur einfach eine gemeinsame Innenzone, sondern auch eine geometrisch klar definierte Mitte hat, auf die sich die anderen Räume beziehen, wird bei den Dachwohnungen mit ihrem achteckigen Turmaufbau, der den Zentralraum noch überhöht, deutlich. Einem verwandten, aber in der räumlichen Wirkung gänzlich anderen Prinzip gehorchen die Wohnungen an den verglasten Stiegenhäusern. Auch hier gibt es ein gemeinsames Innen, aber es gibt keine geometrisch fixierte Mitte mehr. Indem einer der vier umliegenden Einzelräume um 45 Grad gedreht wird, löst sich der Kreuzgrundriß auf: Es entsteht eine fließende Innenzone, die hier noch durch zwei diagonal eingestellte, tragende Säulen an Komplexität gewinnt. Zur Fassade hin ist diese Innenzone durch einen im Grundriß trapezförmigen Wintergarten erweitert.

Natürlich ist ein Raumgrundriß mit elf oder mit fünf Ecken für die übliche Wohnvorstellung eine gewisse Zumutung: Als Abstellraum für das standardisierte Programm der Möbelhäuser taugt diese Wohnung nur bedingt. Dafür sieht Schweighofer ein größeres Potential zur individuellen Gestaltung, und wer Mobiliar tatsächlich als leicht und mobil versteht, hat hier sicher mehr Freiheiten als üblich.

Die Idee einer fließenden, gemeinsamen Innenzone, die zwischen individuell genutzten Einzelräumen entsteht, hat Schweighofer bei seinem wichtigsten jüngeren Bau, einem Studentenheim im zehnten Bezirk, entwickelt. Dort lag die Zumutung an die Bewohner vor allem darin, sich für ihren privaten Bereich auf einen Raum von 2,3 mal 2,8 Meter - wenn auch bei einer „hochbettfähigen“ Raumhöhe von drei Metern - zu beschränken. Obwohl man dem Gebäude anfangs zwar guten Willen, aber Unkenntnis der tatsächlichen, angeblich rein individualistisch geprägten Bedürfnisse studentischer Nutzer nachgesagt hatte, hat sich das Konzept zum allgemeinen Erstaunen ausgezeichnet bewährt.

Die Bewohner haben dort praktisch umgesetzt, was Schweighofer mit der Idee eines „Wohnens im Raum und nicht im Zimmer“ zu umschreiben versucht: Wo das „Wohnen im Zimmer“ den individuellen Besitzanspruch an ein paar Quadratmetern Fläche benennt, versteht Schweighofer unter „Wohnen im Raum“ eine Form des Wohnens, die ihre Qualität aus dem Zusammenspiel der Räume gewinnt. Die kleinste individuelle Einheit ist zwar durchaus abschließbar; indem sich diese Einheiten zum gemeinsamen Innenbereich öffnen, können sie aber, im Gegensatz zu einer Gang-und-Zimmer-Lösung, zueinander in Beziehung treten.

Von einem kollektiven Wohnen kann man dabei aber nur bedingt sprechen. Der Ausgangspunkt der Betrachtung ist für Schweighofer stets das Individuum, dem die Möglichkeit geboten wird, sich seinen Wohnraum aktiv anzueignen und über die Grenzen hinaus zu erweitern. Dieses Prinzip gilt in der Kaiserebersdorfer Straße im Inneren der Wohnung genauso wie im räumlichen Überfluß der Erschließungsbereiche.

Daß vom Bewohner dabei Offenheit und Konfliktfähigkeit erwartet werden, ist sicher auch eine gewisse Zumutung. Ob die Wiener Mentalität mit dieser Zumutung zurechtkommt, bleibt abzuwarten. Die Behauptung, innerhalb der engen und immer enger werdenden Grenzen des geförderten Wohnbaus gebe es, wenn überhaupt, nur noch eine einzige Aufgabe für die Architektur, nämlich standardisierte Grundrisse immer kostengünstiger zu reproduzieren, hat Schweighofers Bau jedenfalls schon jetzt widerlegt.

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