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Äs schöns Huus met Recht und Pflicht
Der Standard

Der Schweizer Wohnbau ist bereits im Übermorgen angekommen. Vor allem Zürcher Genossenschaften legen mit autofreiem Wohnen, exotischen Grundrissen und jeder Menge infrastruktureller Anreize die Latte hoch.

31. Januar 2015 - Wojciech Czaja
Das Bild ist gewöhnungsbedürftig. Direkt vor dem Haus fährt jede Viertelstunde die Sihltalbahn vorbei, dann senkt sich der Bahnschranken, dann bleiben alle stehen und warten geduldig ab, bis der dunkelrote Zug vorbeigefahren ist. Und tatsächlich stehen hier, am sogenannten Sihlbogen, die Zeichen auf öffentlichen Verkehr, denn die Vergabe der 140 Wohnungen in den beiden langgestreckten Bauteilen entlang der Gleise war an eine unumstößliche Forderung geknüpft: Es gibt keine Garage. Wer hier wohnen möchte, der erklärt sich bereit, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Im Gegenzug bekommt er - als Teil der Miete - eine Jahreskarte für Zug, Bus und Tram.

Was sich mit unseren österreichischen, wohnbaurechtlich und marktkonform geschulten Ohren anhört wie eine Utopie, ist andernorts Realität. Am nördlichen Stadtrand von Zürich plante das Büro Dachtler Partner Architekten dieses ungewöhnliche Passivhaus, das bis auf die betonierten Stiegenhauskerne komplett aus Holz erbaut wurde. Es ist das erste siebenstöckige Holzgebäude der Schweiz.

Bauweise und Verkehrskonzept sind ein Beitrag zum energiepolitischen Programm „2000-Watt-Gesellschaft“, das im November 2008 per Volksabstimmung beschlossen wurde und das bis 2050 im Großraum Zürich realisiert werden soll. Hinter dem ungewöhnlichen Projekt Sihlbogen steckt kein gemeinnütziger Wohnbauträger, sondern eine der rund 1700, größtenteils kleinen Wohnbaugenossenschaften, die es in der Schweiz gibt.

Wohnbauexempel

„Die Genossenschaft ist eine sehr innovative und hat uns zu neuen baulichen Lösungen regelrecht gezwungen“, sagt Micha Vogt, Projektleiter bei Dachtler Partner Architekten. Die österreichischen Architekten, Fachplaner und Bauträgerchefs auf einem von Wohnen Plus, Wohnen Plus Akademie und raum & kommunikation veranstalteten Praxischeck staunen nicht schlecht. Gezwungen? „Ja, die Vorgabe lautete, wir sollen experimentieren und ein Exempel statuieren, das es in dieser Form in der Schweiz noch nie zuvor gab.“ Neidvolle Blicke. So sieht Applaus mit den Augen aus.

Noch einen Schritt radikaler ist der im Herbst vergangenen Jahres fertiggestellte Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich-Wiedikon. Nur ein paar Tramstationen vom Hauptbahnhof entfernt entstand hier ein 23.000 m² großer Mix aus Wohnen, Gewerbe, Hotel, Kino und allerlei exotischen Einrichtungen und Dienstleistungen. Im Gegensatz zum Sihlbogen gibt es hier nicht nur klassische Wohnungen, sondern auch Wohngemeinschaften und Cluster-Wohnungen mit bis zu zehn individuellen Wohn-Units.

„Nach EU-Gesetz haben wir hier nur 55 Wohnungen“, sagt Res Keller, Geschäftsführer der Genossenschaft Kalkbreite. „Tatsächlich aber gibt es knapp hundert Einheiten, die in individuellen Wohnverbänden zusammengefasst sind. Das Angebot wird gut angenommen. Wir sind voll, würden wir eine Warteliste führen, wäre sie elendslang.“ Entstanden ist das Projekt, das mit seiner gelb-orange-hellblau gesprenkelten Putzfassade mehr als auffällt, als Folge eines dreitägigen Intensiv-Workshops vor einigen Jahren, an dem jeder Zürcher teilnehmen durfte. Auf Basis des erarbeiteten Entwurfs wurde dann eine Genossenschaft gegründet und Geld auf die Beine gestellt.

Der Verzicht auf ein eigenes Auto versteht sich von selbst. Wer diese Regel bricht, der fliegt. Darüber hinaus gibt es Baby- und Kinderbetreuung, Yoga- und Tanzräume, Wohngemeinschaften samt angestellten Köchen und sogar ausgelagerte „Wohn-Joker“ - das sind kleine Wohnzellen, die die Bewohner entweder für Langzeitgäste oder kurzfristig für Rosenkriege oder pubertierende Jugendliche anmieten können.

„Wir haben die inzwischen gebaute Vision von Anfang an gemeinsam mit vielen entwickelt“, sagt Keller. „Wie sich die vielen Ideen nun im Alltag bewähren, wird sich zeigen. Baulich haben wir zumindest die Voraussetzungen dafür geschaffen, hier eine neue Art von Gemeinschaft leben zu können.“ Die Wohnungen sind unterschiedlich ausgestattet und kosten demnach unterschiedlich viel. Um eine Wohnung mieten zu können, muss man Mitglied der Genossenschaft sein. 100 Quadratmeter Wohnfläche kosten im Schnitt 2000 Franken - das ist für einen Neubau in Zürich günstig.

„Entweder man baut weiter Schuhschachteln dort, wo es teuer ist“, erklärt Peter Schmid, Präsident des Regionalverbands Zürich der Wohnbaugenossenschaften Schweiz, auf Anfrage des STANDARD. „Oder aber man zieht an günstigere Standorte und experimentiert dort und bietet dem Mieter schließlich eine Qualität, die den nicht ganz so zentralen Standort wieder wettmacht. Ich bin mir sicher, dass diese Strategie die richtige ist, denn Monotonie gibt es schon zur Genüge.“ Jetzt sei die Zeit für Projekte mit Strahlkraft da. Vielleicht strahlen sie ja bis Österreich.
[ Die Exkursion erfolgte auf Einladung von „Wohnen Plus“, Wohnen Plus Akademie und raum & kommunikation ]

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