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Mut zur Mücke
Spectrum

Ein Bauplatz am Ende der Stadt, ein Bauherr, dem es vor allem um die Rendite ging: Wie dem Architektenteam Querkraft unter schwierigen Bedingungen ein besonderes Projekt gelingen konnte.

9. Mai 2015 - Christian Kühn
Eine Preisfrage für alle, die glauben, Wien zu kennen: Welche Station der U-Bahnlinie U1 liegt zwischen den Stationen Rennbahnweg und Großfeldsiedlung? Selbst für Bewohner des 21. Bezirks ist es keine Schande, die Antwort nicht zu wissen. Im Unterschied zu den beiden nach berühmt-berüchtigten Großsiedlungen aus den 1970er-Jahren benannten Stationen ist die Station Aderklaaer Straße ein Zwischenstopp im gemischt genutzten Baugebiet, wo Industrie, Handel und Gewerbe dominieren.

Für das an die Station anschließende, unbebaute Grundstück im Ausmaß von 30.000 Quadratmetern begann durch die Ankündigung des U-Bahnbaus Ende der 1990er-Jahre ein neues Zeitalter. Erste städtebauliche Konzepte datieren ins Jahr 2000. Heute befinden sich hier eine Shoppingmall mit 20.000 Quadratmetern sowie rund 1200 Miet- und Eigentumswohnungen, die zum einen Teil in zwei Hochhäusern mit jeweils 100 und 80 Metern Höhe, zum anderen Teil in einer achtgeschoßigen Blockrandverbauung und in gleich hohen, kompakten Wohnblöcken untergebracht sind. Das Dach der Shoppingmall ist begrünt und für die Bewohner zugänglich, um das nicht gerade üppige Grünflächenangebot in der Umgebung ein wenig zu kompensieren.

Ursprünglich hieß das Areal Brachmühle. Der neue Name Citygate ist so generisch wie die Shoppingmall, deren Angebot kaum mehr bietet als eine Untermenge des nur drei Stationen entfernten Donauzentrums. Nur beim Namen des zweiten Turms blitzt unfreiwillig Originalität auf: Unter Bezugnahme auf den alten Ortsnamen Leopoldau heißt er Leopoldtower, was sich auf Wienerisch nur als Leopoldauer aussprechen lässt und am besten auf Leopoldauertower erweitert werden sollte.

Architektonisch originell sind nur die beiden von Querkraft geplanten Wohnhochhäuser, von denen das erste gerade bezogen wird. Schon von Weitem fällt dieses Haus durch seine plastisch gestaltete Fassade auf, die mit einfachsten Mitteln einen einprägsamen visuellen Effekt erzielt. Erstens werden die umlaufenden schmalen Balkone in regelmäßigen Abständen halbkreisförmig auf über zwei Meter Tiefe erweitert. Zweitens werden diese Balkone nicht exakt übereinander gestapelt, sondern pro Geschoß leicht verschoben, sodass eine Wellenbewegung mit einemkontinuierlichen Verlauf über die gesamte Fassade entsteht. Und drittens werden auch die Balkongeländer – einfache „Zaunlatten“ aus Aluminium, wie sie als Massenprodukt für Gartenzäune gefertigt werden – in Bewegung gebracht: Dort, wo die Balkone tiefer werden, verdichten sich die Abstände zwischen den Latten, während die Höhe dieser Stäbe gleichzeitig ansteigt.

Auch im Grundriss hat dieses Hochhaus mit einer Innovation aufzuwarten, die von den Architekten als „vertikale Dorfstraße“ bezeichnet wird. Auf der nach Norden gerichteten Schmalseite des Turms liegen keine Wohnungen, sondern gemeinschaftlich nutzbare Räume, von der Waschküche bis zu Kinderspielräumen, und einige allgemein zugängliche Terrassen. Die Lifttüren öffnen sich auf jedem Geschoß zu diesen Räumen, die zum Gang hin verglast sind. Im Unterschied zu einem normalen Hochhaus, bei dem man erst in der Wohnung spürt, auf welcher Höhe man sich befindet, gibt es das Höhenerlebnis und damit eine vertikale Orientierung hier in dem Moment, in dem man aus dem Lift heraustritt und – je nach Höhe – mehr oder weniger weit in die transdanubische Landschaft blickt. Für dieses Erlebnis wurde auf ein paar nordseitige Wohnungen verzichtet, was durch die sonst hohe Effizienz des Grundrisses möglich war. Das Tragsystem ist ökonomisch und bietet für die Wohnungsteilung eine hohe Flexibilität. Die Wohnungen sind gut geschnitten, die Fenster nicht übermäßig breit, aber bis zum Boden geführt, was die Räume in Kombination mit dem umlaufenden Balkon erweitert. Wo immer möglich, bietet sich schon von der Wohnungstür aus ein Blick über ein gegenüberliegendes Fenster ins Freie, eine Maßnahme, die nichts kostet, aber bei jedem Betreten der Wohnung Freude macht.

Die Idee, im Hochhaus die Vertikale zu inszenieren, hat Querkraft bis ins Detail durchgezogen. Auf jeder Etage gibt es vor denLiften eine kleine Grafik und einen Text, der die Höhe mit einer Geschichte verbindet: im ersten Geschoß die Höhe einer Giraffe mit sechs Metern, im achten Geschoß das Brandenburger Tor mit 26 Metern, im 31. Stock die New Yorker Freiheitstatue mit 93 Metern, und ganz oben, im 34. Stock, wird auf die maximale Flughöhe von Stechmücken mit 100 Metern Bezug genommen.

Ähnliches leistet Heimo Zobernigs Kunst-am-Bau-Projekt, das auf eine Umfrage zurückgeht, welche Farben Menschen mit emotional besetzten Begriffen assoziieren. Für denCitygate-Tower wurde die Verteilung zum Begriff Geselligkeit gewählt, bei der Orange mit 25 Prozent dominiert, und als Leitfarbe für die Geschoße verwendet. Diese ist von außen im Schlitz zu sehen, den die vertikale Dorfstraße an der Nordseite ins Hochhaus schneidet, und in den Erschließungsgängen zu den Wohnungen.

Bauherr der Türme und eines Teils der sonstigen Wohnungen ist die Stumpf AG des Investors Georg Stumpf, der mit dem Millenniumstower und der anschließenden Mall ein Vermögen gemacht hat, das ihm 2005 den Kauf des Areals ermöglichte. Die Ausschlachtung eines Projekts bis zum einträglichen Maximum ist sein Markenzeichen. Ein erstes, von Frank und Partner entworfenes Projekt, das diesem Prinzip bedingungslos huldigte, scheiterte mehrfach am Fachbeirat für Stadtgestaltung, dem jedes Hochhaus vorzulegen ist, und vor allem am Grundstücksbeirat, der über die Wohnbauförderung entscheidet. Unter dem Vorsitz von Dietmar Steiner schickte der Beirat das Projekt so lange in die Warteschleife, bis 2010 ein neues städtebauliches Verfahren erfolgte und Stumpf den Auftrag an Querkraft übertrug. Dass auch Querkraft zu kämpfen hatte, zeigen acht Zentimeter dünne Gipskartonwände in den Wohnungen und manche Details, wo mit wenig Geld Architektur statt Improvisation hätte entstehen können.

Das Ergebnis ist ein Teilerfolg in der Kanalisierung von Privatkapital in verträglichen Wohnbau mit öffentlicher Förderung. Die Kompromisse und Kämpfe sieht man dem Projekt an, etwa, wo der Turm mit dem banalen Wohnbauriegel zusammenstößt, den Frank und Partner am Ende bauen durften. In 50 Jahren wird man fragen, wie eine Epoche zu solcher Schizophrenie fähig war.

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