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Wenn die Welt ins Haus bricht
Wenn die Welt ins Haus bricht, Foto: Hans Werlemann
Wenn die Welt ins Haus bricht, Foto: Edgar Cleijne
Spectrum

Um Lebensformen, erst in zweiter Linie um Bauformen geht es Rem Koolhaas bei seinen Wohnbauten. An den Villen, die derzeit im Architektur Zentrum präsentiert werden, läßt sich eine Tendenz ablesen: ein immer radikalerer Umgang mit den Themen der Moderne.

26. September 1998 - Christian Kühn
In einer Welt flüchtiger Bilder wird Architektur gerne als Bastion des Dauerhaften verstanden: Festgefügt und jedem Sturm trotzend, teilt sie die Welt ein in Öffentliches und Privates, in Außenwelt und geschütztes Innen. Von der Villa Rotonda bis zur Villa Kunterbunt dasselbe Schema - das Haus als schützendes, klar abgegrenztes und faßbares Objekt in der Landschaft.

Was soll aber dieses Photo? Abgebildet ist offensichtlich ein Innenraum. Auf einem Parkettboden steht ein kubisches Volumen, auf einer Seite mit Wellblech abgeschlossen, auf den anderen Seiten verglast. Die Verglasungen sind unterschiedlich geteilt: Die dem Betrachter nächste Ebene ist in vier Felder geteilt, die hintere in acht. Die rechte Seite ist ohne Unterteilung mit opakem Glas geschlossen. Der Boden des Kubus ist ebenfalls aus Glas und wird gerade von unten erleuchtet. Nach oben ist der Kubus offen und erlaubt den Blick auf ein Stück Himmel: Offensichtlich handelt es sich um einen kleinen Hof. Eine Treppe, rechts angedeutet durch die zwei schwarzen Linien des Geländers, führt ins untere Stockwerk.

Verwirrung stiften die Bäume und die Horizontlinie, die in den Raum eingeblendet erscheinen und das Bild wie eine Szene aus einem Film von Andrej Tarkowski wirken lassen. - Eine Photomontage, eine Doppelbelichtung? Oder ist das Photo von außen durch eine weitere Glasscheibe aufgenommen, in der sich die Außenwelt spiegelt?

Das Objekthafte tritt in diesem Bild völlig hinter dem Atmosphärischen zurück. Die kleine Villa, die es eben nicht abbildet, sondern darstellt, scheint den Spielregeln der klassischen Moderne zu gehorchen, wie sie Mies van der Rohe in seinem „Tugendhat Haus“ in Brünn und dem „Barcelona Pavillon“ formuliert hat: klare Linien und Proportionen, edle Materialien unterschiedlicher Dichte und Transparenz. Erst in der Verfremdung wird der konzeptionelle Bruch klar. Wo sich die Architektur der Moderne noch der Welt öffnet, um sie mit ihren Mitteln in Ordnung zu bringen, da bricht hier die Welt ins Haus ein, kehrt das Innere nach außen und das Untere nach oben.

Die kleine Villa mit dem Innenhof - 1988 fertiggestellt - ist das älteste unter den fünf Wohnhaus-Projekten des holländischen Architekten Rem Koolhaas, die derzeit im Architektur Zentrum Wien unter dem Titel „Living - Reading“ (bis 16. November) präsentiert werden. Wer sie chronologisch bis zum jüngsten Projekt, einer gerade fertiggestellten Villa in Bordeaux, betrachtet, wird einen immer radikaleren Umgang mit den Themen der Moderne feststellen. Die „verkrustete Definition von Architektur als etwas, das ein für allemal festschreibt“, wird für Koolhaas immer fragwürdiger. Aber wie läßt sich zwischen Ordnung und Freiheit die richtige Balance finden?

Als Theoretiker hatte Koolhaas in seinem Buch „Delirious New York“ noch die Vorzüge des amerikanischen Hochhauses preisen können, die neutrale, offene Struktur, deren Hülle sich vom Inhalt längst abgelöst hat. In seinen Bauten macht er sich - scheinbar im Widerspruch zu seinem Loblied auf die neutrale Stadt ohne Eigenschaften - immer auf die Suche nach der spezifischen, einzigartigen Lösung.

Das ist weniger inkonsequent, als es vorerst klingt. Koolhaas trennt Architektur und Städtebau in zwei unabhängige Disziplinen: Der Städtebau hätte Potentiale zu schaffen, die dann von der Architektur ausgelotet und genutzt werden müßten. Koolhaas hat bewiesen, daß er imstande ist, dieses Konzept auch in der Praxis durchzuhalten - wenn die politischen Voraussetzungen stimmen. Zum Milliardenprojekt Eurolille, dem vergangenes Jahr eine eigene Ausstellung im Architektur Zentrum Wien gewidmet war, wurde er von den Verantwortlichen nicht geholt, um die Dinge zu vereinfachen, sondern um jene „höllische Dynamik“ zu entfesseln, die große Projekte zu ihrer Verwirklichung brauchen.

So war es in Lille möglich, Bauträger mit unterschiedlichen Nutzungsinteressen auf mehreren Ebenen übereinander vorzusehen - eine Idee, die Koolhaas selbst als so riskant einschätzte, daß er sich über die Zustimmung wunderte. Aber die Verquickung aller Interessen bis zu einem Punkt, der nur gemeinsames Scheitern oder gemeinsamen Erfolg möglich machte, war ganz im Sinne der Auftraggeber.

Der Erfolg von Eurolille hat Koolhaas und sein OMA (Office for Metropolitan Architecture) zu einem gefragten Stadtplaner im asiatischen Raum gemacht, wo sich derzeit die größten Herausforderungen an die Urbanistik stellen. Für Koolhaas ist der Begriff Stadt freilich mit soviel historischen Schlacken belastet, daß er sich kaum mehr als Bezeichnung für diese Agglomerationen eignet. Das Institut, an dem er in Harvard forscht und unterrichtet, heißt bezeichnenderweise „Institute for the study of what used to be the city“.

Um das Auftragsvolumen bewältigen zu können, hat Koolhaas OMA inzwischen zu 50 Prozent an ein großes holländisches Ingenieurbüro verkauft. In Hongkong arbeitet eine OMA-Filiale als Franchise-Unternehmen, das sich, den örtlichen Bedingungen der Architekturproduktion entsprechend, in erster Linie auf das Problem der Gebäudehülle konzentriert. - Aber zurück zum kleinen Maßstab: In der Ausstellung präsentiert Koolhaas seine Wohnhäuser unter dem Titel „Living“. Es geht um Lebensformen, erst in zweiter Linie um Bauformen. Und es geht um das Planen und Bauen als Prozeß: Koolhaas nennt Architektur eine auszehrende und süchtigmachende Tätigkeit, und ausnahmslos alle Bauherrn der gezeigten Häuser waren genauso süchtig nach Architektur wie ihr Architekt.

Der Bauherr der Villa Dall'Ava bei Paris führte den Prozeß um seine Baubewilligung bis zum obersten Gerichtshof - und gewann. Der Bauherr des „Dutch House“ hat sich ein Haus bauen lassen, das an vielen Stellen Geschichten erzählt, statt einfach problemlos zu funktionieren: Das Schlafzimmer, auch hier an einem kleinen Innenhof gelegen, läßt sich nur über eine Zugbrücke erreichen; die Zimmer der Töchter, die nur ab und zu auf Besuch kommen, liegen im Tiefgeschoß mit Blick auf eine Betonwand. Eine Rampe hebt ein dreieckiges Stück aus dem Boden des Hauptgeschoßes so in die Höhe, daß der vorprogrammierte Blick über die Terrasse empfindlich gestört wird. Die Störung gehört freilich zum Konzept: Erst was nicht funktioniert, wird lebendig.

Das Haus in Bordeaux - das jüngste in der gezeigten Serie - hat eine besondere Geschichte. Nachdem Koolhaas den Auftrag bereits erhalten hatte, erlitt der Auftraggeber einen schweren Unfall und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen. Er wollte nun nicht mehr - wie zuvor - ein sehr einfaches Haus, sondern im Gegenteil ein sehr komplexes: Es werde schließlich seine Welt sein. Koolhaas hat ein Haus auf drei Ebenen entworfen: eine Zufahrtsebene mit höhlenartigen Räumen, darüber eine verglaste Plattform, über der ein schwerer Block aus Beton mit kreisrunden Fensterlöchern schwebt. Verbunden sind diese Ebenen durch eine Wendeltreppe und einen Lift mit einer Gundfläche von 3 mal 3,5 Metern - das Arbeitszimmer des Bauherrn, das an einer Bücherwand entlangfährt und an alle anderen Ebenen des Hauses niveaugleich andocken kann.

Mit diesem Haus hat sich Koolhaas am weitesten von den ruhigen Kuben Mies van der Rohes und dessen Definition, Baukunst beginne mit dem sorgfältigen Zusammenfügen zweier Ziegelsteine, entfernt. Das Haus ist ein unglaublicher konstruktiver Gewaltakt, die pure Lust am Überspielen aller statischen Regeln. Der Betonblock liegt auf drei Punkten auf und ist zusätzlich von einem Stahlträger abgehängt, der aber seinerseits über dem Gebäude zu schweben scheint.

Das Material zu diesen Einfamilienhäusern und zu der verdichteten Gruppe von 24 Wohneinheiten im japanischen Fukuoka ist in der Ausstellung, die vom Architekturzentrum Arc en Rˆve in Bordeaux übernommen wurde, nach den unterschiedlichen Präsentationsformen geordnet. In einem Raum finden sich alle Modelle, im nächsten Raum alle Pläne, im dritten großformatige Photos und Videos zu einigen der Bauten. Im letzten Raum schließlich gibt es den Übergang zum zweiten Thema der Ausstellung, dem Lesen. Hier sind die Wände tapeziert mit Seiten des 1995 erschienenen Buchs „S,M,L,XL“ von Rem Koolhaas und Bruce Mau, dessen graphische Gestaltung wesentlich zum Erfolg des Buches beigetragen hat. Mau ist anschließend ein eigener Raum mit seinen Arbeiten für ZONE Books gewidmet.

Die großen und ganz großen Projekte hätten, so schreibt Koolhaas in „S,M,L,XL“, seine Architekturauffassung radikal verändert. Trotzdem erweisen sich die kleinen Wohnbauten als unabdingbare Experimentierfelder einer Architektur, die sich unter härtesten Bedingungen immer noch als Baukunst begreifen will. Wer an dieser exotischen und vom Aussterben bedrohten Disziplin Interesse hat, dem sei die Ausstellung wärmstens empfohlen.

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