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Die hohe Kunst der Schräge
Spectrum

Obschon im Vergleich früheren Projekten beinahe zurückhaltend, wirkt er allemal wie eine durchkomponierte Skulptur: der Wohnturm von Coop Himmelb(l)au an der Wagramer Straße. Mit ihm sprengt das Architektenduo die Vorstellungen vom Wohnen im Wolkenkratzer

14. November 1998 - Christian Kühn
Der Flammenflügel aus dem Jahr 1980: Das war für mich stets der Inbegriff der Architektur von Coop Himmelb(l)au. Eine 15 Meter hohe Skulptur aus Stahlrohren, an Drahtseilen abgehängt und mit Flüssiggas befüllt, wurde damals unter dem Motto „Architektur muß brennen“ im Hof der TU Graz entzündet. Das war eine Kampfansage an die vermeintlichen Grundlagen der Architektur: an Schwerkraft, an Dauerhaftigkeit, an eindeutige Form.

So sehr mich der brennende Flügel fasziniert hatte, so wenig konnte ich seinen ruhiggestellten Nachfolgern abgewinnen, die in den achtziger Jahren in vielen Projekten von Coop Himmelb(l)au als Motiv auftauchten. Die skulpturale Qualität dieser Entwürfe war zwar offensichtlich, aber warum sollte man derartiges jemals als Architektur realisieren?

Die Frage stellt sich heute nichtmehr: Mit dem UFA-Kinozentrum in Dresden und dem Wohnturm an der Wiener Wagramer Straße haben Wolf D.Prix und Helmut Swiczinsky sich vom avantgardistischen Rand ins Zentrum des Baugeschehens bewegt.

Im Vergleich zu den Projekten der achtziger Jahre wirkt der Turm an der Wagramer Straße beinahe
zurückhaltend. Dennoch ist auch dieser Bau eine durchkomponierte Skulptur. Man kann den Turm wie frühere Coop-Projekte als ein Ensemble von schrägen, raumbildenden Elementen interpretieren: An den Baukörperkanten sind die Glashüllen deutlich als selbständige Ebenen abzulesen. Zugleich ist aber das Körperhafte herausgearbeitet: Der Lüftungsturm ist der Kopf einer riesigen,archaisch anmutenden Figur. Die Unbestimmtheit zwischen diesen Lesarten trägt wesentlich zur besonderen Ausstrahlung des Gebäudes bei.

Man betritt den Turm unter einem zwanzig Meter weit auskragenden Vordach, das von
zwei aus dem neunten Stock abgespannten Stahlkabeln gehalten wird. Der Eingang liegt achsial und führt in ein zweigeschoßiges Foyer, vorbei an einer Portierloge, zu den Aufzügen. Der Grundriß überzeugt auf den ersten Blick – eine rationale Dreiteilung: ein Erschließungskern an der Nordseite und ein daran anschließender dreieckförmiger Zwickel, der sich entsprechend der Abschrägung des Baukörpers immer mehr verkleinert.

Diese Teilung hat den Vorteil geringer Deckenspannweiten – und damit Konstruktionshöhen zwischen den tragenden Betonscheiben: So ließen sich imselben Volumen um 20 Prozent mehr Nutzfläche realisieren.

Abgesehen von der kleinsten Einheit haben alle Wohnungen Ausblick auf zumindest zwei Seiten und eine gute Querlüftung. Allen Geschoßwohnungen ist eine Loggia vorgelagert, die mit verstellbaren Glaslamellen vor dem Wind geschützt ist. Das gesamte neunte Geschoß kann als „Skylobby“ von den Bewohnern für Feste und als Kinderspielraum genutzt werden. – All das wäre schon eine respektable Leistung: Die erhöhte Nutzfläche erfreut den Bauherrn, die Wohnungsgrundrisse sind klar und leicht an individuelle Wünsche anzupassen, und die große Skulptur mit ihren leichten Schrägen könnte einenStadtraum von hoher Qualität erzeugen, wäre sie nicht von bestenfalls bemühten bis halblustigen oder, wie im Fall der drei Mischek-Türme, geradezu infamen Nachbarn umgeben. An den Kostenistder Qualitätsunterschied nicht festzumachen: AuchCoop Himmelb(l)au errichteten ihren Turm im Rahmen der Wohnbauförderung.

Aber was ist aus dem brennenden Flügel geworden? Aus der Suche nach der „vertikalen Stadt“ und dem „Wohnorganismus“, von der Coop Himmelb(l)au in ihren frühen Texten gesprochen haben? Wer den Turm an der Ostseite genau betrachtet, wird ab dem neunten Geschoß eine etwas veränderte Fassadenkonstruktion erkennen, hinter der sich ein durchgehender Luftraum befindet. Dieser Luftraum hat einerseits bauklimatische Funktion: Im Winter wird die hinter der Glaswand aufgeheizte Luft zu einem Wärmetauscher aufs Dach geführt und trägt zur Heizung bei. Der Überhitzung im Sommer wird durch Zuführung kalter Luft vorgebeugt, die von einem Trichter im Gebäudekopf eingefangen und nach unten geleitet wird. Andererseits entsteht hinter dieser Klimafassade, die mit einigem Abstand wie ein leichter Glasflügel über den Stahlbetonkern gefaltet ist, tatsächlich so etwas wie eine vertikale Stadt.

Wer von seinem Wohnzimmer auf die große, zweigeschoßige Loggia hinaustritt, steht in einem über 14 Geschoße reichenden Wintergarten, auf dessen unterstem Niveau sich der HauptraumderSkylobby befindet. Kommunikativ im sozialromantischen Sinn ist diese vertikale Stadt nicht: Man kann seinem Nachbarn weder zuwinke noch ihm schnell über einen künstlichen Dorfplatz einen Besuch abstatten.

Und trotzdem könnte der Unterschied zum Leben in der isolierten Schachtel nicht größer sein. Man merkt, daß sich Bauherr und Architekten mit der Grundsatzfrage des Wohnhochhauses auseinandergesetzt haben und zu einer Antwort gelangt sind, die die konventionelle Typologie dieser Bauaufgabe sprengt. Eine Fortsetzung ist übrigens geplant: In der Vorgartenstraße errichten Coop Himmelb(l)au – ebenfalls für die SEG – eine Blockrandbebauung, mit der sie diesen Typ neu definieren wollen. Man hat den Eindruck, daß Coop Himmelb(l)au konzeptionell zu ihren Projekten aus den sechziger Jahren zurückgefunden haben. „Architektur ist Inhalt, nicht Hülle“, haben sie damals geschrieben. Die architektonischen Apparate, die sie in den sechziger Jahren vermittelnd um den Menschen herum gebaut haben, sind für sie immer noch gültige Leitbilder.

Mit einem Dekonstruktivismus, der die „Anthropozentrik“ der Architektur überwinden möchte, hat das nichts zu tun. Was Coop Himmelb(l)au in den achtziger Jahren in diesem Umfeld als formale Sprache entwickelt haben, ist nicht Inhalt, sondern Mittel zum Zweck: So virtuos, wie sie diese Sprache inzwischen beherrschen, ermöglicht sie ihnen Freiheiten, die dem heutigen Stand der Technologie und Produktion entsprechen und von den klassischen Ausdrucksmitteln kaum mehr geboten werden.

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