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Woh­nen als die Sum­me der Teil­chen
Der Standard

Auf dem Hun­zi­ker-Are­al in Zü­rich wur­de das Zu­sam­men­le­ben in der WG völ­lig neu er­fun­den. Statt in klei­nen, ab­ge­schot­te­ten Zim­mern ko­exis­tiert man nun in ei­ner rie­si­gen Clus­ter-Woh­nung mit ein paar klei­nen Ein­lie­ger­woh­nun­gen. Das hat was.

3. Oktober 2015 - Wojciech Czaja
Komm rein in die Stu­be!“, sagt Mar­co Gäh­ler, 27 Jah­re alt, ge­fühl­te 2,10 Me­ter groß bis zu sei­nem Schei­tel, rollt laut­los ins Wohn­zim­mer und plat­ziert sich mit ei­ner hal­ben Pi­rou­et­te rück­lings auf die Couch. „Die Woh­nung ist so groß, dass ich manch­mal Lust ha­be, ein paar Run­den zu dre­hen und neue Fi­gu­ren aus­zu­pro­bie­ren, ein­fach so.“ An sei­nen Fü­ßen hat er ein Paar Ska­ter­schu­he fest­ge­schnallt, sol­che, die man nor­mal­er­wei­se in ei­ner Half­pi­pe vor­fin­det, ge­wiss nicht zwi­schen Vor­zim­mer und Kü­che. „Ich weiß, das sind un­ge­wöhn­li­che Haus­schu­he. Man ge­wöhnt sich dran.“

Mar­co ist Phy­si­ker, Che­mi­ker und IT-Pro­gram­mie­rer und wohnt im so­ge­nann­ten Clus­ter-Haus auf dem neu be­bau­ten Hun­zi­ker-Are­al im Nor­den Zü­richs. Frü­her wur­den hier Be­ton­fer­tig­tei­le für die gan­ze Schweiz her­ge­stellt, heu­te ste­hen hier 13 Wohn­häu­ser mit ins­ge­samt 450 Woh­nun­gen, die un­ter dem viel­ver­spre­chen­den Ti­tel „Mehr als Woh­nen“ fir­mie­ren. Ne­ben den Du­plex Ar­chi­tek­ten, die das in Zie­gel und Be­ton er­rich­te­te Clus­ter-Haus ge­plant ha­ben, sind noch ei­ni­ge an­de­re Zür­cher Ar­chi­tek­tur­bü­ros mit von der Par­tie. Die Mi­schung könn­te wil­der nicht sein.

„Mehr als Woh­nen“ be­deu­tet: Die Be­wohn­er­in­nen und Mit­glie­der der Ge­nos­sen­schaft ver­zich­ten auf ihr ei­ge­nes Au­to und so­mit auch auf ei­nen in der Re­gel kost­spie­li­gen Ga­ra­gen­platz. Im Ge­gen­zug wird ih­re As­ke­se mit mehr oder we­ni­ger lu­xu­riö­sen Ser­vi­ce-Zu­ckerln be­lohnt. Das An­ge­bot er­streckt sich von Cars­ha­ring und Elek­tro­mo­bi­li­tät über Ge­mein­schafts­kü­chen, Glas­häu­ser, Kräu­ter­be­ete bis hin zu im Haus in­te­grier­ten Ho­tel­zim­mern für den Tan­ten­be­such aus Über­see. Vor al­lem aber be­sticht die Wohn­haus­an­la­ge, an der sich mehr als 60 Zür­cher Wohn­bau­ge­nos­sen­schaf­ten be­tei­ligt ha­ben, durch ein enor­mes Pot­pour­ri an neu­en Wohn- und Grund­riss­ty­po­lo­gien.

„Ich fin­de die­se Woh­nung klas­se“, sagt Mar­co. „Ich ha­be zwar schon mal in ei­ner Wohn­ge­mein­schaft ge­lebt, aber hier hat je­der sei­nen ei­ge­nen Rück­zugs­be­reich, und es gibt kein An­stel­len am WC und kei­ne Strei­te­rei­en we­gen der Zahn­pas­ta­tu­be.“ Je­der Clus­ter be­steht aus ei­nem rund 200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Wohn­be­reich für al­le, da­zwi­schen lie­gen – wie Häu­ser rund um ei­nen Dorf­platz – klei­ne, au­tar­ke Ein­lie­ger-Mi­ni­woh­nun­gen mit Wohn- und Schlaf­be­reich, Tee­kü­che und ei­ge­nem Dusch­bad. Die Tü­ren ste­hen die meis­te Zeit of­fen. Ab und zu nur ver­kriecht sich je­mand und ward ei­nen gan­zen Tag lang nim­mer ge­se­hen.

„400 Qua­drat­me­ter zu zehnt, mit ei­ner rie­si­gen Wohn­kü­che, ei­nem 30 Me­ter lan­gen Wohn­zim­mer, das uns ehr­lich ge­sagt viel zu groß ist, ei­ner über­durch­schnitt­lich gro­ßen Log­gia, auf der man mit Freun­den gril­len und Par­tys fei­ern kann, und das al­les mit­ten in Zü­rich …“, er­zählt Mar­co mit ei­nem im­mer brei­ter wer­den­den Grin­ser und ei­ner ge­wis­sen Süf­fi­sanz in sei­ner schwy­zer­düt­schen Stim­me, „al­so ich wür­de das schon als so­zia­len Lu­xus be­zeich­nen.“

Zwei Eta­gen über ihm wohnt Karl Klisch. Der 49-jäh­ri­ge Tier­arzt stammt aus Ham­burg und lebt nun seit knapp über ei­nem Jahr in Zü­rich. „Wenn ich schon ei­nen Ta­pe­ten­wech­sel vor­neh­me, dann will ich auch ei­ne neue Art des Woh­nens aus­pro­bie­ren“, sagt er. „Ich fin­de die­ses Pro­jekt und die­se Form des Zu­sam­men­le­bens ex­trem be­rei­chernd. Ich ge­nie­ße das Mit­ein­an­der.“ Vis-à-vis wohnt An­na Ham­bit­zer, 28 Jah­re alt, Phy­si­ke­rin und Elek­tro­me­di­zi­ne­rin. „Hier zu sein ist wirk­lich mehr als nur woh­nen“, sagt sie. „Die­ses Haus ist ein Bei­trag für ein zu­künf­ti­ges, ge­sell­schafts­über­grei­fen­des Ko­exis­tie­ren, weit über die klas­si­sche Stu­den­ten-WG hin­aus.“

Miet­ver­trag nach sechs Mo­na­ten

Un­ge­wöhn­lich ist je­doch nicht nur der Woh­nungs­grund­riss, son­dern auch das Ver­mie­tungs­mo­dell. „Be­reits ei­ne klei­ne Grup­pe von nur drei Leu­ten kann sich bei uns für ei­ne Woh­nung an­mel­den“, sagt An­dre­as Ho­fer, Ge­schäfts­füh­rer der ei­gens für die­ses Pro­jekt ge­grün­de­ten Su­per-Bau­ge­nos­sen­schaft Mehr als Woh­nen. „Da­nach ha­ben die Leu­te ein hal­bes Jahr Zeit, um in Ei­gen­ini­tia­ti­ve ei­ne grö­ße­re Wohn­ge­mein­schaft zu for­mie­ren. In die­ser Zeit un­ter­stüt­zen wir sie fi­nanz­iell, da­mit sie die Ge­samt­mie­te nicht al­lein auf­brin­gen müs­sen.“

Erst nach Ab­lauf die­ser Frist star­tet der Miet­ver­trag mit der Ge­nos­sen­schaft. Die WGs sind von nun an au­tark und küm­mern sich selbst­stän­dig um die Be­le­gung und Nach­ver­mie­tung ih­res Woh­nungs­clus­ters. „In­dem man Ver­ant­wor­tung ab­gibt, stärkt man bei den Be­wohn­er­in­nen und Be­wohn­ern ein Stück weit auch den Ge­dan­ken ei­nes Mit­ein­an­ders“, so Ho­fer. „Man­che Ge­nos­sen­schaf­ten ha­ben die­ses Mo­dell be­reits seit über zehn Jah­ren im Port­fo­lio. Es funk­tio­niert per­fekt.“

Die Mie­ten im Clus­ter­haus lie­gen je nach Grö­ße, Stock­werk und Him­mels­aus­rich­tung zwi­schen 4000 und 6000 Fran­ken, rund 3700 bis 5500 Eu­ro. Ob­wohl je­der ein­zel­ne Mie­ter ei­nen ei­ge­nen Miet­ver­trag be­kommt, obliegt es der Wohn­ge­mein­schaft zu ent­schei­den, wie die­se für die mo­nat­li­che Mie­te auf­kom­men will. Man­che WGs ha­ben den Ge­samt­preis ein­fach nur durch die An­zahl der Be­woh­ner di­vi­diert, an­de­re ha­ben kom­pli­zier­te For­meln ent­wi­ckelt, die die Grö­ße der pri­va­ten Ein­lie­ger­woh­nung so­wie ei­ne an­tei­li­ge, mal ge­sieb­tel­te, mal ge­ach­tel­te, mal ge­neun­tel­te Nut­zung der Ge­mein­schafts­flä­chen be­rück­sich­tigt. Schweiz halt.

„Die Wohn­form der Zu­kunft“

„Ich den­ke, dass sich die­se groß­städ­ti­sche Wohn­form in Zu­kunft noch dra­ma­tisch wei­ter­ent­wi­ckeln wird“, sagt Dan Schürch, Pro­jekt­lei­ter im zu­stän­di­gen Ar­chi­tek­tur­bü­ro Du­plex. „Das Clus­ter-Woh­nen ist für mich die mo­der­ne Va­ri­an­te der Groß­fa­mi­lie mit all ih­ren ge­sell­schaft­li­chen Ab­si­che­run­gen wie Kin­der­be­treu­ung, Kran­ken­pfle­ge und ganz all­täg­li­cher Hil­fe im Al­ter, so wie man das von Bau­ern­hö­fen von frü­her kennt. In die­sem Fall bloß ha­ben wir das so­zia­le Pro­gramm auf ei­ne mo­der­ne, 400 Qua­drat­me­ter gro­ße Pass­iv­haus­woh­nung um­ge­münzt.“

In Ös­ter­reich, und da vor al­lem in und um Wien, ha­ben sich in den letz­ten Jah­ren schon et­li­che Bau­grup­pen for­miert, die be­reits Er­fah­rung mit Au­tar­kie, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und der gro­ßen Bür­de und Wür­de der Ei­gen­ver­ant­wor­tung ma­chen konn­ten. Al­ler­dings be­schränkt sich die­ses Mo­dell auf Woh­nen im Ei­gen­tum. Der näch­ste Schritt wird sein, auch Mie­te­rin­nen und Mie­tern die­se Frei­hei­ten zu­zu­ge­ste­hen. Um ein so in­no­va­ti­ves Pro­jekt wie „Mehr als Woh­nen“ auch hier­zu­lan­de zu rea­li­sie­ren – da­zu braucht es nicht nur mu­ti­ge Bau­trä­ger, frisch durch­lüf­te­te Be­hör­den, son­dern auch ein völ­li­ges Um­den­ken der Bau­ord­nung, der För­der­richt­li­ni­en und nicht zu­letzt des sprö­den, ver­al­te­ten Miet­rechts­ge­set­zes.

Über das Clus­ter-Haus in Zü­rich wur­de ein Do­ku­men­tar­film ge­dreht. „Mit den Au­gen der an­de­ren“ ist noch bis 17. Ok­to­ber in der Ar­chi­tek­tur­ga­le­rie Ber­lin zu se­hen. www.ar­chi­tek­tur­ga­le­rie­ber­lin.de

Die Aus­stel­lung „Da­heim. Bau­en und Woh­nen in Ge­mein­schaft“ im Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum (DAM) in Frank­furt am Main wid­met sich in­no­va­ti­ven Wohn­bau­ten in Eu­ro­pa und der gan­zen Welt. 26 über­aus in­spi­rie­ren­de Pro­jek­te wer­den da­bei un­ter die Lu­pe ge­nom­men. Zu se­hen bis 28. Fe­bru­ar 2016. www.dam-on­li­ne.de

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