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Ruinenbaumeister
Neue Zürcher Zeitung

Klassizismus und Gegenwart in zwei Berliner Ausstellungen

Das Londoner Sir John Soane's Museum zeigt in Berlin klassizistische Architekturzeichnungen. In der Berlinischen Galerie ist «The Dialog City» zu sehen. Die Zusammenschau eröffnet unerwartete Bezüge.

20. Oktober 2015 - Jürgen Tietz
Die britische Baukunst des Klassizismus und die Berliner Gegenwartsarchitektur könnten unterschiedlicher kaum sein. Zwischen ihnen liegen nicht nur gut 200 Jahre Baugeschichte, sondern auch architektonische Welten. Da ist es bemerkenswert, wenn zwei Ausstellungen in Berlin den Blick für Unterschiede und Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart schärfen. Daraus lässt sich einiges über das Architekturverständnis der jeweiligen Epochen lernen – und über die Grenzen der Vermittlung.

Wiederbelebte Antike

Die grandiose Ausstellung «Auf den Spuren der Antike: Meisterzeichnungen des britischen Neoklassizismus» im Museum für Architekturzeichnungen der Berliner Tchoban Foundation widmet sich Wegen und Sinn der Antikenaneignung. Statt durch die Lektüre dicker Folianten näherten sich John Soane (1753–1837) und seine Zeitgenossen den antiken Originalen auf Augenhöhe. Ein delikates Blatt Soanes zeigt, wie ein mit Gehrock und Zylinder bekleideter Student wagemutig eine Leiter erklimmt, um mit dem Zollstock das Kapitell des römischen Jupiter-Stator-Tempels zu vermessen, das Soane in einer rekonstruierten Idealansicht wiedergibt. Nach der grossen Piranesi-Schau zur Eröffnung des Tchoban-Museums für Architekturzeichnungen (NZZ 7. 6. 13) ist es bereits die zweite Ausstellung, die das neue Haus in Zusammenarbeit mit dem altehrwürdigen Londoner Sir John Soane's Museum präsentiert. Und sie zündet ein wahres Feuerwerk mit Arbeiten von John Soane, Robert Adam, George Dance d. J., William Chambers und James Wyatt. Nicht fehlen darf eine Reverenz an den Übervater der Architekturzeichnung, Giovanni Battista Piranesi, der mit einem grossartigen Capriccio vertreten ist.

Soane und seinen Zeitgenossen dienten ihre Zeichnungen nicht nur als Reiseerinnerungen. Sie waren zugleich Bauaufnahme, Vorlagen für eigene Bauten und nicht zuletzt Lehrstücke für die Ausbildung junger Architekten. Die Adaption der Antike fiel dadurch in eins mit dem Verstehen der historischen Gebäude und der bildlichen Vermittlung eigener Entwürfe an Bauherren, wie eine Reihe stimmungsvoller Ansichten von Tyringham Hall aus der Hand Soanes nahelegt. Nicht weniger eindrucksvoll ist Soanes Präsentationszeichnung von Pitzhanger Manor, in dem er selbst für einige Zeit lebte. Gerahmt von Staffagefiguren, zeigt das Blatt sein Wohnhaus, das Anleihen vom römischen Konstantinbogen aufgreift. Leicht verschattet steht dahinter der Altbau nach Entwurf von Georg Dance d. J., Soanes Lehrer. Die antiken Vorbilder dienten den britischen Klassizisten als formaler und intellektueller Steinbruch bis hin zu neu errichteten Ruinen, die sie in malerische Gartenlandschaften einbetteten. So entwarf Robert Adams ein aufwendiges römisches Fort für Brampton Bryan.

Ruine sucht Romantik

Nur vier Kilometer, aber inhaltlich gut 200 Jahre entfernt von den Darstellungen im Tchoban-Museum für Architekturzeichnungen zeigt die Berlinische Galerie derzeit die Ausstellung «The Dialog City: Berlin wird Berlin» im Rahmen der Artweek-Kooperation «Stadt/Bild» mehrerer Ausstellungshäuser. Die von Arno Brandlhuber, Florian Hertweck und Thomas Mayfried entwickelte Schau präsentiert einen völlig anderen Ansatz des Architekturdiskurses. In einer langen Reihe sind dort Aktenordner und Kartons in Regalen aufgestellt. Darin lagern die Modelle und Unterlagen von Wettbewerben aus der Berliner Nachwendezeit aus dem Bestand der Berlinischen Galerie, die erst im Rahmen dieser Ausstellungen vor Ort aufgearbeitet und archiviert werden können. Das ist eine hübsche Idee, denn in jedem Wettbewerb glimmt auf, welche alternativen Wege die Berliner Architektur hätte einschlagen können, quasi eine Stadt im Konjunktiv.

Doch die eigentliche Intervention findet an der Wand gegenüber statt: Dort sind Lesebücher mit auffällig silbernem Einband gestapelt, die die Ausstellungsbesucher kostenlos mitnehmen dürfen. Gegliedert in übergeordnete Abschnitte aus Gegensatzpaaren wie «Zentren und Mitte», «Fremdbild und Eigenlogik» oder «Boden und Eigentum», befassen sich auf mehr als 600 Seiten ganz unterschiedliche Autoren bald dialogisch, bald monologisch mit Berlin. Architektur wird hier nicht als schöne Kunst betrachtet, sondern vor allem als soziale Utopie verhandelt und zugleich in den aktuellen Themen des Stadtdiskurses verortet. Damit einher geht eine radikale Stadtkritik, die sich nicht an der «kritischen Rekonstruktion» der Nachwendezeit erschöpft, sondern gerade vor Eigentumsfrage und Bodenbesitz das Stadtverständnis in seinem Kern berührt. Doch trotz dem immer wieder in den Texten aufgegriffenen partizipativen Anspruch bleiben Ausstellungsinstallation und Lesebuch letztlich selbstreferenziell. Eine ganz andere Öffnung des Architekturdiskurses beschritt da John Soane 1824. Seine Präsentationszeichnung für Holy Trinity, Marylebone, zeigt den Betrachtern die Fassaden der Londoner Kirche und öffnet zugleich kunstvoll einen Einblick, so dass sie Teil an Idee und Raumwirkung des Entwurfes haben konnten.

Provokante «Antivilla»

Mit der «Antivilla» des Architekturbüros von Arno Brandlhuber, Markus Emde und Thomas Schneider am Krampnitzsee bei Potsdam gibt es sogar eine Schnittmenge zu den Themen der britischen Klassizisten. In Form einer Ruine präsentiert sich nämlich das einstige Stofflager des VEB Obertrikotagen «Ernst Lück» aus DDR-Zeiten. Im Innern entkernt und mit neuem Flachdach aus wasserundurchlässigem Beton samt expressivem Wasserspeier ausgestattet, dient es heute als Atelierhaus. Das ruinenartige Erscheinungsbild wirkt auf den ersten Blick provokant, ist ganz sicher unkonventionell und sorgt für erhebliches mediales Rauschen. Über den architektonischen Zukunftswert dieser Interventionen lässt sich jedoch trefflich streiten. Solchen Unwägbarkeiten sind John Soane und Robert Adam enthoben. Sie gelten nicht nur als Klassizisten, sondern sind längst selbst Klassiker der Architekturgeschichte.

Die Ausstellung «Auf den Spuren der Antike» im Tchoban-Museum für Architekturzeichnung dauert bis 14. Februar 2016. Kein Katalog. Die Ausstellung «The Dialog City: Berlin wird Berlin» in der Berlinischen Galerie ist bis zum 21. März 2016 zugänglich. Kostenloser Reader in der Ausstellung. Ausserdem: Stadt/Bild. Ein Lesebuch (dt./engl.). Verbrecher-Verlag, Berlin 2015. 400 S., € 16.–.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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