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Schönes neues Berlin
Neue Zürcher Zeitung

Abschied von der Architektur der fünfziger Jahre

Nach der Baueuphorie im Osten Berlins entdecken Investoren und Architekten auch das alte Westberlin neu. Rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche soll die Stadt erneuert werden. Geplant sind unter anderem Hochhäuser, denen ungeliebte Bauten der fünfziger und sechziger Jahre geopfert werden sollen. Augenfällig ist ein Hang zum Monumentalen.

9. April 1999 - Jürgen Tietz
Seit Berlins Wiedervereinigung 1990 standen mit Pariser Platz, Friedrichstrasse und Potsdamer Platz vor allem Rekonstruktion und Reparatur von Stadtquartieren im Osten im Blickfeld der Öffentlichkeit. Doch längst hat auch im Geschäftszentrum des ehemaligen Westberlin, zwischen Kurfürstendamm und Tauentzienstrasse, die «neue berlinische Architektur» Einzug gehalten. Rund um die markante Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit Egon Eiermanns ergänzendem Neubau von 1957/63 soll die Stadt neue urbane Qualitäten erhalten. Dies schliesst auch hochtrabende Pläne für Wolkenkratzer mit ein. Gleich reihenweise werden dafür die ungeliebten Bauten der fünfziger und sechziger Jahre geopfert, die die Identität der Stadt der Nachkriegszeit so nachhaltig geprägt haben.

Grossbaustelle City West

Die Neubauten, die an ihre Stelle treten, kennzeichnet ein in Berlin derzeit gern kultivierter Hang zum Monumentalen. Das galt bereits für das Bekleidungshaus Peek & Cloppenburg von Gottfried Böhm mit seiner Pfeilerstellung und für das Salamander-Haus von von Gerkan, Marg und Partner (gmp), die beide Anfang der neunziger Jahre an der Tauentzinstrasse entstanden. Im letzten Sommer wurde in der noblen Fasanenstrasse das Ludwig-Erhard-Haus von Nicolas Grimshaw eingeweiht. Für den massigen Baukörper mit seiner gebogenen Skelettkonstruktion mussten der alte Börsensaal der Industrie- und Handelskammer von Franz Heinrich Sobottka und Gustav Müller sowie das Haus des Vereins der Berliner Kaufleute weichen, ein bescheidener Nachkriegsbau von Paul Schwebes, der zur neuen Berliner Prächtigkeit nicht mehr so recht passen wollte.

Eine Reihe weiterer Bauvorhaben wird dafür sorgen, dass das Herz der City West in den nächsten Jahren Grossbaustelle bleibt. An der prominenten Kreuzung des Kurfürstendamms mit der Joachimstaler Strasse entsteht demnächst ein abgerundeter Neubau mit Hotel nach Entwürfen von gmp. Er tritt an die Stelle des Q-Damm-Ecks, eines bedeutenden Spätwerks von Werner Düttmann aus den Jahren 1969/72. Der Bau mit der markanten Bildschirmwand zählte zu den wenigen herausragenden Baudenkmälern der siebziger Jahre in Berlin. Doch im gegenwärtigen Berliner Architekturklima, das der Nachkriegsmoderne extrem feindlich gesinnt ist, kam eine ernsthafte Diskussion um die Denkmalwürdigkeit des Q-Damm-Ecks gar nicht erst auf. Nur eine Querstrasse weiter plant derweil Jan Kleihues anstelle des C&A-Gebäudes ebenfalls einen Neubau.

Doch die ursprünglich für den Standort gehegten Hochhausvisionen sind inzwischen ad acta gelegt worden. Ohnehin wird das Thema Hochhäuser für die City West seit Jahren kontrovers diskutiert. Mit dem elfgeschossigen Kantdreieck gleich gegenüber dem Theater des Westens realisierte Josef Paul Kleihues 1992–95 nicht nur einen der qualitätvollsten Neubauten der Stadt. Zugleich wirkte der Bau wie ein Startschuss für weitere Hochhausprojekte. Gleich neben der Rotunde des Café Kranzler von Hanns Dustmann entsteht auf dem «Victoria-Areal» am Kurfürstendamm ein gläsernes Hochhaus nach Plänen des in Berlin derzeit vielbeschäftigten Helmut Jahn. Ein Teil der flachen Einkaufszeile, mit der Dustmann in den fünfziger Jahren der damaligen Frontstadt Westberlin eine Visitenkarte verliehen hatte, musste dem Neubau weichen, in dessen Schlagschatten zukünftig diese prominenteste Ecke aus Berlins Nachkriegszeit versinken wird.

Nur wenige Schritte weiter ragt seit Jahren inmitten eines brachliegenden Filetgrundstücks wie ein Mahnmal städtebaulicher Ratlosigkeit die Abrissruine des «Brau und Brunnen»-Gebäudes empor. Selbstverständlich handelte es sich bei dem abgerissenen Geschäftshaus um einen Bau der fünfziger Jahre: Der Architekt heisst einmal mehr Paul Schwebes. Zunächst war an seiner Stelle ein High-Tech-Hochhaus nach Entwürfen von Richard Rogers geplant. Inzwischen ist der umstrittene – aber genehmigte – Entwurf von Rogers vom Tisch. Statt dessen hat der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler für «Brau und Brunnen» eine neue Planung für das «Zoo-Fenster» erstellt. Sein Konzept sieht ein klar gegliedertes Hochhaus vor, das an seiner höchsten Stelle stolze 37 Stockwerke und 118 Meter Höhe erreicht. In den unteren Geschossen sind Einzelhandelsgeschäfte und ein Hotel vorgesehen, der restliche Bau soll der Wohnnutzung vorbehalten bleiben. Doch es erscheint fraglich, ob die Berliner Bauverwaltung mit der Genehmigung solch gigantischer Gebäudekomplexe, wie sie die Entwürfe von Rogers und Mäckler vorsehen, gut beraten war, da dadurch die Dimensionen der City West vollständig gesprengt werden.

Gesprengte Dimensionen

Ausgangspunkt für Mäcklers Hochhausplanungen war eine von ihm zusammen mit dem Architekturhistoriker Wolfgang Schäche im Auftrag des Berliner Bausenators angefertigte Verträglichkeitsstudie für die Umgebung des Breitscheidplatzes (erhältlich bei der Berliner Senatsverwaltung Bauen, Wohnen und Verkehr; DM 18.–). Angesichts der massigen Neubauten von Grimshaw, Jahn, Kleihues und des Entwurfs von Rogers signalisierte die Studie Handlungsbedarf für die City West, um die Verlagerung der Baumassen nach Westen städtebaulich aufzufangen. Gleich eine ganze Reihe von Hochhäusern sollten daher nach ihren Vorstellungen zukünftig das Stadtbild um den Breitscheidplatz verändern.

Die Zeitstimmung der fünfziger Jahre, in der der grösste Teil der Berliner Innenstadtbebauung erfolgte, war nicht hochhausfeindlich. Gleich mehrere qualitätvolle Hochhäuser, die in losem Abstand die Innenstadt akzentuieren, entstanden damals. Dem Allianzhochhaus von Alfred Gunzhauser und dem Hochhaus am Zoo von Paul Schwebes und Hans Schoszberger folgte in den sechziger Jahren das Europa-Center von Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg (HPP). Eingebettet waren diese Hochhäuser jedoch in eine sehr differenzierte, meist an der Traufhöhe von 22 Metern orientierte Bebauung. Fernab vom Diktat der Blockrandbebauung der Gründerzeit, die heute in Berlin fröhlich Urständ feiert, modellierten Schwebes und Schoszberger mit dem «Zentrum am Zoo», das sich an der Budapester Strasse entlangzieht, eine an Le Corbusier angelehnte originär berlinische Variante der Nachkriegsmoderne. Allerdings wurden das feine Fassadenrelief und die filigrane Struktur der Fenster des Ensembles in den achtziger Jahren mit der hier nachgerade typischen Lieblosigkeit saniert.

Stadtlandschaftliches Städtebauideal

In der immer wieder aufwallenden Diskussion um das städtebauliche Bermudadreieck zwischen Bahnhof Zoo, Kurfürstendamm und Breitscheidplatz droht die Architektur der fünfziger Jahre endgültig den kürzeren zu ziehen. In aller Schärfe hat die Berliner Architektenkammer gegen Mäcklers Entwurf für das «Brau und Brunnen»-Hochhaus protestiert. Es stehe zu befürchten, dass der Kern der «westlichen Innenstadt mit einem Schlag verzwergt»: Klar ist, dass die genehmigten Hochhausplanungen weitere Begehrlichkeiten bei anderen Investoren wecken werden. Schon wird wieder einmal der Abriss des Schimmelpfeng- Hauses von Franz Heinrich Sobottka und Gustav Müller diskutiert. Neben Schwebes/Schoszberger bildeten Sobottka/Müller die wichtigste Berliner Architektengemeinschaft im Berlin der Nachkriegszeit. Zwar steht das Schimmelpfeng-Haus, das einen Querriegel zur Kantstrasse bildet, unter Denkmalschutz. Doch auch in diesem Fall droht der allzuoft auf verlorenem Posten stehenden Denkmalpflege lediglich ein weiteres Rückzugsgefecht. Erst kürzlich hat der Vorsitzende des Berliner Denkmalrates, der Kieler Kunsthistoriker Adrian von Buttlar, in der «FAZ» öffentlich geklagt, dass rings um die Gedächtniskirche «ein geschichtliches Erinnerungspotential ersten Ranges und obendrein ein qualitätvolles Beispiel des stadtlandschaftlichen Städtebauideals der fünfziger Jahre» zu verschwinden drohe.

Die oft bedenkenlose Zerstörung von Bauten der fünfziger, sechziger und inzwischen auch der siebziger Jahre hat in Berlin mittlerweile traurige Tradition. Erinnert sei an die Zerstörung des von Paul Baumgarten geschaffenen Reichstagsinneren auf Beschluss des Deutschen Bundestags sowie an den anstehenden Abriss der polnischen und der ungarischen Botschaft Unter den Linden. Für sie wurde der Denkmalschutz ebenso aufgehoben wie vor Jahren für das Haus des Vereins der Berliner Kaufleute. Mit der Entsorgung der historischen Bauten der Nachkriegszeit beraubt sich die vergleichsweise junge Metropole Berlin nicht nur eines bedeutenden Abschnitts ihrer Architekturgeschichte. Mit ihrem baulichen Erbe gibt die Stadt zugleich ein Stück ihrer von der Nachkriegszeit geprägten Identität sorglos dahin. Statt sie behutsam für die Zukunft weiterzuentwickeln, droht in Berlin derzeit der Untergang einer ganzen Architekturepoche.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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