Artikel

Experimentierfeld Klassizismus
Neue Zürcher Zeitung

Die Neubauten am Pariser Platz von Josef Paul Kleihues

4. Dezember 1998 - Jürgen Tietz
Die Frage, wo in der Architektur die Grenze zwischen «kritischer Rekonstruktion» und unkritischer Kopie verläuft, ist umstritten. Mit besonderem Nachdruck wurde sie am Pariser Platz in Berlin diskutiert. Eigentlich war die «kritische Rekonstruktion» ein Kind der Berliner Internationalen Bauausstellung (IBA) der achtziger Jahre, mit der sich ihr geistiger Vater, Josef Paul Kleihues, als Leiter der IBA-Neubau auf die Suche nach der Stadt des 19. Jahrhunderts begab. Längst ist die «kritische Rekonstruktion» zum Berliner Heilmittel aufgestiegen. Wo immer Krieg und Nachkriegszeit im historischen Stadtgrundriss Brachen hinterlassen haben, dient sie als Medizin, um städtische Bereiche zurückzugewinnen.

Nach dem Mauerfall erinnerte am Pariser Platz nur noch das Brandenburger Tor als monumentaler Solitär mit Mahnmalcharakter an Berlins ehemaligen «Empfangssalon». Mit den Häusern Sommer und Liebermann hat Josef Paul Kleihues dem Tor jetzt eine architektonische Fassung zurückgegeben. Wie eng ihre Bindung an die historische Bebauung des 19. Jahrhunderts ist, reflektiert bereits ihre Namensgebung. 1844/46 hatte der Klassizist August Wilhelm Stüler die barocke Nordfront des Platzes – einschliesslich der beiden das Brandenburger Tor rahmenden Gebäude – für den Stadtrat und Hofzimmermeister Carl August Sommer in ein italianisierendes Ensemble verwandelt. In dem nördlich an das Tor angrenzenden Haus Pariser Platz Nr. 7 befand sich später das Atelier Max Liebermanns. Mit den beiden Neubauten begibt sich Kleihues auf eine doppelte Spurensuche. Zum einen spürt er als Verfechter eines «Poetischen Rationalismus» den formalen Grundprinzipien des Klassizismus nach, der ihm als Mutter der vernunftbeherrschten Architektur der Aufklärung gilt. Zum andern setzt er sich mit dem konkreten Vorbild der Stüler-Bauten auseinander, die er in eine abstrakte allgemeingültige Gebäudesprache zu übersetzen sucht.

Entgegen ersten Überlegungen, das Tor mit streng geometrischen Glasbauten zu rahmen, entschied sich Kleihues schliesslich für Steinbauten. Nun entsprechen die nach einem strengen Massraster ausgeführten Gebäude mit ihren elf Fensterachsen den Vorgängerbauten. Die Hauptfassaden gehen auf den Pariser Platz, die Rückseiten mit ihren Vorgärten zur verkehrsumbrausten Ebertstrasse. Der helle portugiesische Sandstein, mit dem die Fassaden verkleidet sind, weist kaum Struktur auf. Dadurch verleiht er den Gebäuden eine einheitliche, aber auch künstlich und kühl wirkende Fassadenoberfläche. Streng heben sich der Fugenschnitt und die sparsam eingesetzten Gesimse von der glatten Oberfläche ab. Im Erdgeschoss hat Kleihues die Putzrustika der beiden Vorgängerbauten in eine liegende Kannelur übergeführt, die die Bauten bildhaft rahmt. Das zunächst irritierende Motiv der liegenden Kannelur bekommt an den Nahtstellen zwischen den Seitenflügeln und den leicht vorspringenden Mittelrisaliten eine fast skulpturale Note – vielleicht das reizvollste Detail der Gebäude.

Vom Erdgeschoss an reduzieren sich die Fensterformate kontinuierlich, erneut entsprechend strenger Massverhältnisse. Dabei fällt einmal mehr Kleihues' in engen Spuren laufende Auseinandersetzung mit Stüler auf – etwa bei dem Drillingsfenster. Die ausführlichen Fensterrahmungen des Vorgängerbaus hat Kleihues auf schmale Leisten reduziert, die den oberen Abschluss der Fenster betonen. Das Motiv der von Stüler unterhalb des Kranzgesims gesetzten Reihe kleiner quadratischer Öffnungen adaptiert Kleihues nach seinen Vorstellungen. Deutlich vergrössert, täuschen die quadratischen Fenster nun nach aussen hin ein Mezzaningeschoss vor; in Wirklichkeit handelt es sich allerdings um ein Vollgeschoss. Die historische Gebäudehöhe von 16,8 Metern, die sich auf das Kranzgesims des Brandenburger Tores bezieht, wird jedoch beibehalten.

Signifikantester Unterschied zwischen den beiden Zwillingsbauten ist ihr Dachabschluss. Während das Haus Sommer hier eine geschlossene Attika aufweist, die der Massivität seines steinernen Erscheinungsbildes entspricht, zeigt das Haus Liebermann statt dessen eine luftig geflochtene Geländerkonstruktion, die ein allzusehr ins Historisieren abgleitendes Detail bildet. Inzwischen ist Kleihues bestrebt, dieses Geländer durch eine Attika zu ersetzen. Während das Haus Liebermann im Inneren noch auf seine Fertigstellung wartet, zeigt das Haus Sommer, in dem Commerzbank und Rheinische Hypothekenbank residieren, eine in den Formen schlichte, in den verwendeten Materialien aber repräsentative Innenausstattung. Im Erdgeschoss schliesst sich dem Entrée ein Veranstaltungssaal an. Hier sollen künftig Ausstellungen stattfinden, durch die das Gebäude mit der prominenten Adresse zumindest teilweise einen öffentlichen Charakter bekommt.

Die Häuser Sommer und Liebermann sind als strenge Variationen zum Thema des Klassizismus gedacht. Mit ihrer rationalen Massordnung versuchen sie, dessen architektonische Formensprache ins Abstrakte zu übertragen. Damit bezieht Kleihues eine deutlich andere Position, als sie die «Stimmungsarchitektur» des Hotels Adlon von Patzschke, Klotz und Partner gleich gegenüber bietet. Doch wer versteht in einem von Bildungsverlust und formaler Normierung geprägten Zeitalter dieses Variation zum Thema Klassizismus? Wer erkennt die sanfte Ironie der liegenden Kannelur des Erdgeschosses? Eher wird man wohl die allzu grosse Nähe der Neubauten zu ihrem Vorbild feststellen. Auch wenn die verlorene Historie bei Kleihues nicht als Kopie zutage tritt, so erscheint sie doch als eine Metamorphose mit beabsichtigtem Wiedererkennungseffekt.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: