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Die Wunderstadt als Prophylaxe
Der Standard

Der dänische Stadtplaner Jan Gehl hat sein neues Buch „Leben in Städten“ präsentiert. Der Meister der Fußgängerzonen im Interview. Ein Gespräch über Gummireifen, Cappuccino und Reanimation am toten Patienten.

4. Februar 2017 - Wojciech Czaja
Standard: Sie reisen viel. In wie vielen Städten waren Sie bereits beruflich tätig?

Gehl: Es werden wohl an die 200 Städte sein. Böse Menschen unterstellen mir, ich würde jeden Stop-over mitzählen. Das tue ich nicht. Ich bin 80. Da kommt schon was zusammen im Leben.

Standard: Und? Haben Sie eine Lieblingsstadt?

Gehl: Definitiv meine Heimatstadt. Kopenhagen hat schon sehr früh damit begonnen, selbstkritisch zu sein und die Entwicklung des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen. Seit den Sechzigerjahren schon legt die Stadt Wert darauf, ihren Einwohnern eine hohe Lebensqualität zu bieten – und zwar nicht nur durch nachträgliche Korrekturen, wie dies andernorts passiert, sondern als Prophylaxe. Beispielsweise werden jedes Jahr drei Prozent der Parkplätze eliminiert, ohne dies öffentlich an die große Glocke zu hängen. Schon die amerikanische Stadtplanerin Jane Jacobs hat gesagt: „Wenn wir die Planung den Autos überlassen, dann ist dies das Ende der öffentlichen Stadt.“

Standard: Was passiert mit dem gewonnenen Platz?

Gehl: Vieles! Von 1960 bis 1980 stand das Gehen im Vordergrund. Es ging in erster Linie um das Erreichen der Shops und um die Nutzung der Stadt als Einkaufszentrum. Die nächsten 20 Jahre wurde vor allem gesessen und den ganzen Tag lang Cappuccino getrunken. Es ist unglaublich, wie viel Cappuccino ein einzelner Mensch trinken kann! Heute sind wir in der dritten Phase. Seit 2000 wird die Stadt mehr und mehr als Aktivitätszone genutzt. Es ist wie beim menschlichen Organismus. Wenn man früh genug dafür sorgt, dass der Herzschlag passt und die Blutgefäße gut durchströmt werden, dann bleibt das Herz gesund. Kopenhagen zählt heute zu den lebenswertesten Städten der Welt.

Standard: Das war jetzt der Heimatbonus.

Gehl: Auf Platz zwei würde ich Melbourne sehen. Melbourne hat vor 15 Jahren damit begonnen, sich neu zu erfinden und einen kompletten Turnaround zu machen. Es wurden Autos verbannt, es wurden acht Meter breite Gehsteige angelegt, Gastgärten errichtet, Bäume gepflanzt, neue Straßenmöbel ausgesucht, und es wurde beschlossen, die Straßen im Stadtzentrum mit Kunst- und Kulturinitiativen zu füllen. Außerdem wurden besonders behutsame, privat initiierte Gebäudesanierungen steuerbefreit. Das Resultat all dieser Maßnahmen ist eine Art Wohnzimmer für alle. Und es ist eines der schönsten und innovativsten Wohnzimmer, die ich kenne.

Standard: Das klingt nach einer Luxussanierung.

Gehl: Ja. Aber dieser Luxus sollte Standard sein.

Standard: Was haben die Maßnahmen gebracht?

Gehl: Heute leben in der Innenstadt von Melbourne zehnmal so viele Menschen wie vor zehn Jahren. 60 Supermärkte sind nach Downtown zurückgezogen. Und es gibt mehr als 15.000 Schanigarten-Sitzplätze. Muss man noch mehr sagen?

Standard: Was braucht es, um so ein umfassendes Projekt durchzuziehen?

Gehl: Es braucht ein Gesicht. Es braucht einen starken Charakter, der mit aller Kraft dahintersteht und so ein Projekt verteidigt und auch durch schwierige Momente durchboxt. Das kann ein Bürgermeister, ein Stadtplaner, ein Investor sein. Im normalen Beamtenalltag ist so etwas nicht durchführbar.

Standard: Sie haben die „Partitur des öffentlichen Raums“ in der Seestadt Aspern in Wien erstellt. Hatten Sie in Wien einen solchen starken Ansprechpartner?

Gehl: Nein.

Standard: Wie hat sich das Projekt seit damals entwickelt?

Gehl: Das weiß ich nicht. Ich war schon lange nicht mehr dort.

Standard: In Ihrem Vortrag haben Sie eine Studie für die Wiener Innenstadt präsentiert. Davon haben wir noch nie etwas gehört.

Gehl: Ja, das war eine Studie im Auftrag des grünen Stadtplanungsressorts 2015. Unsere Aufgabe war es, die Ringstraße zu untersuchen und die Zugänge und Zufahrten in die historische Innenstadt zu analysieren.

Standard: Was kam dabei heraus?

Gehl: Es könnte besser sein. Die Straßen und Fußgängerzonen innerhalb des Rings sind wunderschön, aber die Portale und Schnittstellen sind absolut unterverkauft. Fakt ist: Entlang der Ringstraße gibt es sehr wenig Abwechslung und Verweilqualität. Außerdem gibt es eine sehr schwache und nicht ausgearbeitete Interaktion zwischen Fußgänger und Baudenkmal. Es ist schade, dass die Potenziale dieses so wunderbaren Ortes nicht genutzt werden.

Standard: Sie werden oft eingeladen, um Fehler zu korrigieren und tote Stadtquartiere zu reanimieren. Waren Sie jemals schon zu spät beim Patienten?

Gehl: Den perfekten Zeitpunkt gibt es nicht – und den zu späten auch nicht. Zwei Städte beweisen, dass man auch dann noch etwas bewirken kann, wenn alle der Meinung sind, dass der Patient längst schon tot und absolut unwiederbelebbar ist: Moskau und New York. In New York haben wir uns beteiligt, als der Times Square verkehrsberuhigt wurde. Niemand hätte das in dieser Stadt je für möglich gehalten. „Das ist doch der Big Apple“, haben alle gesagt. „Unmöglich!“ Doch es war möglich. Und der Times Square hat sogar Schule gemacht. Mittlerweile gibt es am Broadway einige Verkehrsberuhigungen, und es werden mehr.

Standard: Und in Moskau?

Gehl: Als ich das erste Mal in Moskau zu Besuch war, war ich absolut schockiert. Die Großartigkeit dieser Stadt war in Abgasen verpufft. Die Stadt war ein einziger Parkplatz. Überall standen Autos. Es war entsetzlich.

Standard: Und dann?

Gehl: 2013 wünschte sich Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin, dass Moskau wieder vermenschlicht wird. Wir haben Fußgängerzonen, Verkehrsberuhigungen und neues Stadtmobiliar wie etwa Bänke, Beete, Blumen, Bäume und Laternen vorgeschlagen. In den zwei Jahren danach wurden etliche Fußgängerzonen nach unserem Vorbild angelegt. Heute ist die Stadt voller Menschen. Es ist ein Wunder!

Standard: Wie bewirkt man so ein Wunder?

Gehl: Entweder durch sehr effiziente Demokratie wie am Beispiel Russland. Oder aber – und das ist das, was ich allen empfehle – durch einen Mix aus Verboten, Geboten und Anreizen. Wo auch immer Sie einem Autofahrer etwas wegnehmen, müssen Sie dem Fußgänger, Radfahrer und Öffi-Benutzer etwas zurückgeben. Mit Verboten allein wird es nicht gehen – aber ohne Verbote auch nicht.

Standard: Weil?

Gehl: Weil Autofahrer ziemlich resistente Gewohnheitstiere sind. Sobald man einem Menschen vier Gummireifen gibt, verblödet er. In Mexiko-Stadt verbringen die Menschen durchschnittlich 3,5 Stunden pro Tag im Auto. Was für eine wunderbare Art, die eigene Zeit zu vergeuden!

Standard: Wie nutzen Sie selbst den öffentlichen Raum?

Gehl: Ich habe in meinem Leben schon zu viel Cappuccino getrunken. Das Sitzen ist vorbei. Ich nutze die Stadt vor allem zum Gehen und Fortbewegen. Mein Arzt sagt immer: 10.000 Schritte pro Tag. Mindestens!

Standard: Und? Hilft’s?

Gehl: Und wie! 10.000 steps a day keeps the doctor away. Oder haben Sie schon einmal einen fettleibigen Venezianer gesehen? Das ist Stadtplanung!
Jan Gehl (80) ist Architekt und Stadtplaner in Kopenhagen. Er betreut Stadtentwicklungsprojekte auf der ganzen Welt, darunter etwa die Seestadt Aspern in Wien. Sein Fokus ist die Verbesserung der Lebensqualität und der urbanen Infrastruktur. Seine Bücher wurden in 75 Sprachen übersetzt. Diese Woche präsentierte er in Wien „Leben in Städten. Wie man den öffentlichen Raum untersucht“ (mit Birgitte Svarre, mit einem Vorwort von Anton Falkeis, Birkhäuser-Verlag).

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