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Panik im Paragrafendschungel
Der Standard

Eigenverantwortung oder Vollkaskomentalität: Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ trägt die absurdesten Normen, Richtlinien und Bauvorschriften zusammen und erklärt auf diese Weise, warum die Welt so ausschaut, wie sie ausschaut.

25. November 2017 - Wojciech Czaja
Zum Schutz vor negativen Auswirkungen auf die Umgebung durch Schatten von Gebäuden mittlerer bis großer Höhe gibt es gesetzliche Bestimmungen betreffend den Lichteinfall“, heißt es im japanischen Baugesetzbuch, Artikel 56, Absatz 2, und Artikel 136, Absatz 12 bis 13. „Die Regelung sieht vor, dass der Schatteneinfall auf einer waagrechten Fläche in einer bestimmten Höhe in jenem Gebiet, das der Regelung unterliegt, am Tag der Wintersonnenwende zwischen 8.00 und 16.00 Uhr eine festgelegte Zeitdauer nicht überschreitet.“

Das dramatisch beschnittene Wohnhaus im Tokioter Stadtteil Shinagawa-ku, das der japanische Architekt Yasutaka Yoshimura in seinem 2006 erschienenen Buch Super Legal Buildings Zentimeter für Zentimeter analysiert, ist nicht das einzige Gebäude, das kraft des geltenden Gesetzes bis zur Karikatur verformt wird. Weltweit gibt es eine ganze Menge zu lachen und zu staunen. Diesen zum Teil angsteinflößenden, verschachtelten und kaum verständlichen Paragrafen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Architektur und Stadtplanung widmet sich seit vorgestern, Donnerstag, eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien (AzW).

Form folgt Paragraph, so der Ausstellungstitel, der den weltberühmten Funktionsaphorismus von Louis Sullivan auf die Schaufel nimmt, ist aber keineswegs ein knochentrockener Brainfuck, wie man vermuten würde, sondern eine immer wieder humoristische Zusammenstellung von manifest gewordenen Normen, Richtlinien und Bauvorschriften, die teils sinnvolle, teils haarsträubende bauliche Lösungen mit sich ziehen.

So lernt man beispielsweise, dass österreichische Erde, die zum Bau eines Kellers ausgehoben und abtransportiert wird, nach zwei Kilometern Lkw-Fahrt von Gesetzes wegen zu Abfall mutiert. Dass Kinderlärm hierzulande von den Lärmschutzbestimmungen ausgenommen ist, während in Deutschland mitunter Schallschutzmauern um Kinderspielplätze errichtet werden. Und dass im Guide to Street Vending in New York City ganz genau geregelt ist, wie weit ein Flohmarkttisch vom Randstein und somit von der Fahrbahn entfernt zu stehen hat. Alles hat seine Ordnung. Und jede Ordnung hat ihre Hüter.

Besonders absurd sind die sich regional eklatant unterscheidenden Stufenvorschriften, die keineswegs mit allzu kurzen oder allzu langen Beinen unterschiedlicher Ethnien und Gesellschaften zu tun haben, sondern schlicht und einfach Produkt des Paragrafendschungels sind. Im AzW sind die weltweiten Verschiedenheiten nicht nur erfassbar, sondern auf mannshohen Modellen auch physisch begeh- und erlebbar, und zwar auf eigene Gefahr, wie am Eingang der Ausstellung zu lesen ist, weil, nun ja, die im Ausland legale Treppe im Inland illegal ist.

Während man in Neuseeland mit einer maximal erlaubten Stiegensteigung von 32 Grad die Höhe erklimmen darf, gleicht die japanische Treppe mit bis zu 57 Grad Steigung schon fast einer halsbrecherischen Hühnerleiter, auf der man sich gut und gerne am Geländer festhält. Und dass die US-Amerikaner mit 115 Zentimetern die mit Abstand größte Stiegenmindestbreite für Einfamilienhäuser haben, ist in Anbetracht des dort grassierenden Hamburger-Hungers leider nicht nur ein Treppenwitz.

„Die gebaute Umwelt ist nicht nur von kreativen, sondern auch von ökonomischen und vor allem von juristischen Kräften geformt“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. „Und all die Normen, Baugesetze, Bauordnungen, Baurichtlinien, Bauvorschriften, Materialrichtlinien, Förderrichtlinien und nicht zuletzt Haftungsfragen prägen die Architektur und Stadt entscheidend mit.“ Die Dichte der oft sinnentleerten Paragrafen zeigt sich in der Ausstellungsarchitektur von Planet Architects, die aus 7000 leeren Aktenordnern aufgebaut wurde. Der Wahnsinn ist augenscheinlich.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist nicht unbedingt die Schuld des Gesetzgebers oder der Industrie, die in den meist intransparenten Normenausschüssen in erster Linie ihre eigenen Partikularinteressen vertritt, sondern hat nicht zuletzt auch mit uns allen zu tun. „Wir leben heute in einer Vollkasko-Gesellschaft, in der wir einerseits über die Regelwut schimpfen, andererseits aber jeden blauen Fleck einklagen und bis zum bitteren Ende ausjudizieren“, so Fitz. „Die Baubranche hat darauf entsprechend reagiert.“

Durchgenormte Welt

Bei der Wiener Internationalen Gartenschau 1974 (WIG 74) wurde im Kurpark Oberlaa der Kinderspielplatz „Erde“ errichtet, der in dieser Form längst nicht mehr realisierbar wäre. Zu gefährlich scheinen die Kugeln, Löcher und Rutschen für den heutigen Kindskopf zu sein. Stattdessen gibt es heute 238 Seiten an Normen, die darum bemüht sind, den Spielplatz zu einer möglichst gefahrenlosen Zone zu erklären. Entsprechend gummiert, gepolstert und uninspiriert fällt die Gestaltung aus. Und dennoch hat die Zahl der Unfälle auf dem Spielplatz in den letzten Jahren rapide zugenommen.

„Vielleicht sind die Eltern heute durch ihre Smartphones abgelenkt“, sagt Martina Frühwirth, die die Ausstellung gemeinsam mit Katharina Ritter und Karoline Mayer kuratiert hat. „Vielleicht aber leben wir heute schon in einer so durchgenormten und durchstandardisierten Welt, dass die Kinder schlichtweg verlernt haben, wie man mit Gefahr umgeht. Jede Norm und jede vorgeschriebene Sicherheitsmaßnahme reduziert uns in unserer Eigenverantwortung. Und ich fürchte, dass dieser Trend noch weiter zunehmen wird.“

Dass die vorauseilende und oftmals verfluchte Bürokratie keineswegs ein österreichisches und keineswegs ein zeitgenössisches Phänomen ist, beweist die international und interdisziplinär zusammengetragene Ausstellung Form folgt Paragraph eindringlich. In einer der Fensternischen lauert der architekturbürokratische Schock: „Wenn du ein neues Haus baust, so mache eine Lehne darum auf deinem Dache, auf daß du nicht Blut auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfiele.“ (Das fünfte Buch Moses, Kapitel 22, 900 v. Chr.)

Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ ist bis 4. April 2018 zu sehen. AzW im Museumsquartier, 1070 Wien. Am Mittwoch, dem 29. November, spricht Standard -Mitarbeiter Maik Novotny im Club Architektur mit Silja Tillner, Jakob Dunkl, Irmgard Eder und dem Kabarettisten Ciro de Luca („Vurschrift is Vurschrift“) zum Thema „Freiheit oder Vollkasko?“

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