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Aufwärts und davon
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Die diesjährige Architekturbiennale in Venedig neigt auffällig zum Ausräumen und Aufsteigen. Transparenz und Weitblick wollen sich trotzdem nicht einstellen. Eine Nachbetrachtung.

2. Juni 2018 - Christian Kühn
Präsident, Direktorinnen, Kommissäre: Als kulturelle Großveranstaltung legt die Biennale in Venedig Wert auf schöne Titel. Paolo Baratta, seit 20 Jahren Präsident des Spektakels, bestimmt – abwechselnd in den Bereichen Kunst und Architektur – Direktoren, die ein Generalthema ausformulieren und dazu Künstler beziehungsweise Architekten ihrer Wahl einladen.

Für deren Präsentation stehen zwei Schauplätze zur Verfügung: der zentrale Pavillon in den Giardini, dem großen Parkgelände der Biennale, sowie Räume im alten Arsenal, insbesondere die Corderie, eine 320 Meter lange, dreischiffige Halle der venezianischen Militärwerft.

Neben dem von den Direktoren kuratierten internationalen Programm gibt es Ausstellungen in den Länderpavillons, die von nationalen Kommissären verantwortet werden, die sich mehr oder weniger am Thema der internationalen Ausstellung orientieren. Im Idealfall verbindet die Biennale einen individuell gefärbten Blick auf den Zustand der Weltarchitektur, gewissermaßen mit den Augen der Direktorinnen, mit einem kollektiven, der sich aus der Summe der einzelnen nationalen Pavillons ergibt.

Das Generalthema der heurigen Biennale, „Freespace“, stammt von den irischen Architektinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell, die zusammen als Grafton Architects firmieren. Der Begriff ist mehrdeutig: Er meint den Freiraum im direkten Sinn, erlaubt im Englischen aber auch die Assoziation zum Raum, der „for free“ zu haben ist, also zum Geschenk. Architektur könne, so schreiben die Direktorinnen in ihrem Manifest zur Ausstellung, selbst unter schwierigsten Umständen zusätzliche und unerwartete Großzügigkeit und Schönheit entwickeln. Die Erde selbst sei ja ein Auftraggeber, der Licht, Sonne, Schatten, Mond, Luft und Schwerkraft als freie Ressourcen zur Verfügung stelle, mit denen Architektur die „Mysterien der Welt“ offenbare.

Der Zug ins quasi Religiöse ist auffällig, vor allem im Vergleich mit den vergangenen Biennalen. David Chipperfield verstand bei der Biennale 2012 Architektur noch als „Common Ground“, als Medium der Kommunikation; Rem Koolhaas suchte 2014 nach den „Fundamentals“ und fand sie nicht in den guten Absichten, sondern in der technisch und formal guten Praxis; Alejandro Aravena gestaltete die Biennale 2016 als „Report from the Front“: Architektur unter extremen Bedingungen.

Bei McNamara und Farrell geht es dagegen vor allem um Offenbarungen, die von einer Architektengeneration zur nächsten weitergegeben werden. Symptomatisch dafür ist der zentrale Raum des Hauptpavillons in den Giardini. Er ist vollgestellt mit Installationen, in denen 16 irische Architekten sich mit je einem, von den Direktorinnen gewählten architektonischen Referenzbeispiel – bezeichnenderweise „Ikone“ genannt – auseinandersetzen. Der Besucher staunt angesichts der Raumcollagen, bleibt jedoch ohne Vorbildung ratlos. Andere Räume wirken, als hätte jemand den Inhalt seines Instagram-Accounts an die Wand gepinnt, Bilderfluten, deren Zusammenhänge man nur ahnen kann. Dazwischen finden sich zum Glück genug interessante Projekte, die auch so präsentiert sind, dass sich der Besuch lohnt, etwa ein Wohnbau für Obdachlose in Los Angeles von Michael Maltzan oder die Sanierung eines Pavillons einer psychiatrischen Klinik in Belgien von de vylder vinck taillieu architecten.

Der zentrale Ort im Hauptpavillon gehört freilich einem architektonischen Hohepriester: Peter Zumthor zeigt auf der Empore eine Sammlung von großteils naturalistischen Modellen, darunter, an prominenter Stelle, zwei Innenraummodelle der Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel, Deutschland. Dass sie einen Hohlraum in einem Prisma aus massivem Stampfbeton abbilden und die Kapelle selbst eine Selbstreferenz zu Zumthors erstem berühmten Werk, der St. Benedikt Kapelle in Sumvigt, ist, muss sich der Besucher mangels weiterer Erklärungen dazudenken. Die Nicht-Eingeweihten stehen vor zwei rätselhaften Ikonen. – In der Ausstellungsgestaltung haben sich McNamara und Farrell sowohl im Hauptpavillon als auch im Arsenale dafür entschieden, die Räume von allen Einbauten zu befreien. Die Türen und Oberlichten sind möglichst offen, es gibt keine Raum-im-Raum-Lösungen. Die Corderie im Arsenal hat man wahrscheinlich noch nie so unverstellt in ihrer vollen Länge erleben können, was allerdings einen Preis hat: Sie waren noch nie einer Fachmesse, in der sich Exponat an Exponat reiht, so ähnlich.

Ausräumen ist ein beliebtes Thema auch in den Länderpavillons. Der britische, von Caruso St. John und Marcus Taylor kuratierte bleibt überhaupt ganz leer. Eine seitliche Treppe führt auf eine über dem Pavillon installierte Plattform, von der man allerdings nicht auf neue Horizonte, sondern in die Baumkronen blickt. Nachmittags wird Tee serviert. Ein Land, das einmal als führende Design-Nation auftrat, präsentiert sich in der Brexit-Starre.

Im österreichischen, von Verena Konrad kuratierten Beitrag haben Kathrin Aste und Frank Ludin (LAAC) die Formulierung von der „Erde als Auftraggeber“ aufgenommen und dem Pavillon eine Weltkugel aus glänzendem Edelstahl im Maßstab 1:50.000 unterschoben, die im Kontrast zu einer von Dieter Henke und Marta Schreieck im Eingangsraum errichteten, besteigbaren Holzkonstruktion steht. Auf der gekrümmten Oberfläche der Weltkugel, die alle Räume und den Hof des Pavillons durchzieht, spazieren die Besucher wie der kleine Prinz aus Antoine de Saint-Exupérys Erzählung über seinen Planeten. Was das für einen Nutzen hat? Keinen. Aber das Gehen auf der Spiegelkugel ist ein wunderbares Erlebnis, an das auch die Videos in den zwei Seitenräumen des Pavillons anschließen: Stefan Sagmeister und Jessica Walsh tun hier nichts anderes, als die Worte „Beauty“ und „Function“ visuell zu gestalten, unterlegt mit einem im Flüsterton vorgetragenen Text. Wohin sich Typografie und Kalligrafie, Medium und Botschaft, unter dem Einfluss digitaler Techniken entwickelt haben, zeigt dieser Beitrag eindrucksvoll.

Umso erstaunlicher ist, dass in der Gesamtbiennale das Thema Digitalisierung, das vor einem Jahrzehnt omnipräsent war, so gut wie keine Rolle mehr spielt. Hat sich das Thema tatsächlich überholt, oder steckt da eine Disziplin gerade den Kopf in den Sand und glaubt dabei, endlich tiefgründig zu werden? Dass die beiden Goldenen Löwen an den Schweizer Pavillon und an den portugiesischen Architekten Eduardo Souto de Moura für Beiträge gegangen sind, die den Minimalismus ins Extrem treiben, deutet auf Letzteres hin.

So bleiben die Dänen und die Spanier die letzten Optimisten: Erstere feiern ihr von Rem Koolhaas geplantes neues Designzentrum in Kopenhagen und zeigen ein Kaleidoskop aktueller Bau- und Forschungsprojekte, Letztere haben ihren Pavillon leer geräumt und mit experimentellen Arbeiten der jüngsten Generation tapeziert. Auf b-e-c-o-m-i-n-g.com findet sich die digitale Version dieser Orgie an Papierarchitektur.

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