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Terrassen über Trassen
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Nach dem Desaster am Heumarkt hat die Stadt Wien auf den Althangründen einen „Lucky Punch“ gelandet: Aus einem toten Viertel könnte eine durchgrünte Raumstadt werden. Hochhäuser braucht es dafür nicht. Ein Projekt von Artec.

30. Juni 2018 - Christian Kühn
Die Stadt über der Stadt: Das war ein Architektentraum, der in den Jahren zwischen 1955 und 1975 gerne geträumt wurde. Alison und Peter Smithson, wichtige Vertreter des derzeit im Architekturzentrum Wien in einer Ausstellung gewürdigten „Brutalismus“ reichten 1957 bei einem Wettbewerb für die Neugestaltung des Zentrums von Berlin einen Entwurf ein, der über dem Raster der gründerzeitlichen Stadt ein Netzwerk von Hochstraßen vorsah, an denen sich kleine Gruppen von Turmhäusern – im Englischen „Cluster“ genannt – anlagern sollten. Den Wettbewerb konnten die Smithsons nicht gewinnen, aber er verhalf ihnen zu einem Auftrag in London, dem „Economist Cluster“, einer Gruppe von drei höhenmäßig abgestuften Bürotürmen mitten in der Altstadt, angeordnet an einer erhöhten, vom motorisierten Verkehr freien Plaza.

Die Überlagerung von Stadtebenen unterschiedlicher Nutzung ist keine neue Idee. Sie findet sich bereits bei Leonardo da Vinci in einer Skizze für die Stadtentwicklung von Mailand und in vielen Stadtvisionen des 20. Jahrhunderts: Antonio de Sant'Elia, Le Corbusier und Ludwig Hilberseimer konzipierten Städte mit sauber getrennten Verkehrsebenen, und der jüngst mit dem Kiesler-Preis ausgezeichnete Yona Friedman konnte eine ganze Karriere auf das Skizzieren von „Raumstädten“ aufbauen, in denen man – über den Metropolen Europas schwebend – die chaotischen Zustände auf dem Boden hinter sich lassen konnte. Ideen wie diese sind ansteckend wie eine Infektionskrankheit. Sie können in Architektinnen und Architekten das kritische Bewusstsein lähmen und sie dazu verleiten, offensichtlich problematische, nur entfernt mit den ursprünglichen Ideen verwandte Lösungen umzusetzen, weil sie von einem Trend legitimiert erscheinen.

Die Ergebnisse sehen dann aus wie das Konglomerat an Baumassen, die sich in den 1970er-Jahren als neue Stadtebene über der Trasse der Franz-Josefs-Bahn aufgetürmt haben. Sie reichen vom Julius-Tandler-Platz am einen Ende bis zum Josef-Holaubek-Platz 800 Meter weiter stadtauswärts, wo das Ensemble im hässlichsten Haus Wiens, dem Bundeskriminalamt, kulminiert. Was dazwischen liegt – größtenteils Bürobauten für universitäre und private Nutzung und eine Hochgarage –, ist teilweise nicht viel besser gelungen. An manchen Punkten merkt man den Versuch, ansprechende öffentliche Räume zu gestalten, aber die Bebauung ist zu dicht, und die Wege sind zu verwirrend; kein Teil passt an den anderen. Die Stadt über der Stadt, das abgehobene Ambiente für den Flaneur, ist hier gründlich gescheitert.

Ein radikaler Umbau des Bestandes wird seit 2010 für den Bereich zwischen Althanstraße und Nordbergstraße geplant, der vom Julius-Tandler-Platz stadtauswärts über eine Länge von rund 250 Metern im Eigentum des Projektentwicklers 6b47 steht. In einer 2010 mit Bürgerbeteiligung durchgeführten Studie wurden Ideen entwickelt, die eine Umwidmung für Wohnbauten sowie einen „Hochpark“ auf der überplatteten Ebene neun Meter über der Bahntrasse vorsahen. Das Bauvolumen sollte reduziert, zum Ausgleich aber mehr Gebäudehöhe erlaubt werden. Grundsätzlich ging man von einem Abriss der bestehenden Bebauung aus. Der Idee, die Bahntrasse gleich in der Spittelau enden zu lassen und damit die Barriere der Bahnlinie komplett zu eliminieren, erteilten die ÖBB eine Absage. Ein 2016 begonnenes und im März 2017 vorgestelltes „dialogorientiertes Verfahren zur Entwicklung eines lokalen städtebaulichen Leitbilds mit Bürgerbeteiligung“ sorgte vor allem deshalb für öffentliche Aufregung, weil es „Höhenfenster“ vorsah, in denen eine Bebauung von bis zu 126 Metern, der Höhe des Verbrennungsturms Spittelau, zulässig sein sollte. Ob diese Höhe an diesem Standort mit dem Wiener Hochhauskonzept vereinbar ist, erscheint fraglich, empfiehlt dieses doch für den Bereich der „Konsolidierten Stadt“ schlicht „Respekt und Zurückhaltung“. Allerdings folgt auf diese einfache Verhaltensregel ein Schwall von Gummiphrasen, die für die richtige Koalition der Willigen alles möglich machen: „Punktuelle Schwerpunktsetzungen, diskrete Vertikalentwicklung in zweiter, dritter Reihe und gezielte, das Umfeld belebende Systembrüche umreißen als Stichworte mögliche städtebauliche Verhaltensweisen für die Implementierung von Hochhäusern im Bereich der Konsolidierten Stadt.“ Die Wiener Stadtplanung zeigte sich daher von jeder Kritik unbeeindruckt und legte das Leitbild der Stadtentwicklungskommission vor, die es wohlwollend zur Kenntnis nahm. Der Weg zu einem Wettbewerb auf dieser Grundlage war frei.

Im Wettbewerb, der im Februar 2018 entschieden wurde, ging es nicht mehr um einen kompletten Neubau. Der Bauteil am Julius-Tandler-Platz, das ehemalige technische Zentrum der Creditanstalt Bankverein mit integrierter, aufs Minimum reduzierter Bahnhofshalle, sollte erhalten bleiben: ein monumentaler Bürobau, geplant von Karl Schwanzer und Kurt Hlaweniczka, mit Spiegelfassade, großen Freitreppen und zahlreichen Terrassierungen und Rücksprüngen. Für die Umnutzung in einen Wohnbau lag bereits eine Planung von Delugan Meissl und Josef Weichenberger vor, die auch am „dialogorientierten Verfahren“ teilgenommen hatten. Sie versahen den Bau mit einer horizontal gebänderten Terrassenfassade und ergänzten ihn zwecks Flächengewinn um einen „Hochpunkt“.

Im Wettbewerb für den Rest des Areals deuteten 29 von 30 Teilnehmern die Ausschreibung als ein klares Bekenntnis des Auslobers und der Stadt zu einem Hochhauscluster an diesem Standort und reichten entsprechende Entwürfe ein. Darunter waren einige wenige skulptural gearbeitete Einzelstücke. Die Mehrheit zeigte Hochhäuser in Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen, die sich in den unteren Ebenen mehr oder weniger erfolgreich um gute Beziehungen zur Nachbarschaft bemühten.

Ein einziges Projekt kam ohne vertikale Geste aus. Dass dieses Projekt am Ende gewinnen konnte, verdankt es dem Nachweis, dass ein Hochhauscluster an diesem Ort nicht nötig ist, sondern die Kommunikation mit der heterogenen Umgebung eher behindert. Der Entwurf von Bettina Götz und Richard Manahl (Artec) schließt logisch an die bestehende Bebauung am Julius-Tandler-Platz an und setzt diese beiderseits der Bahntrasse fort, mit großzügigen Durchbrüchen zur Althan- und Nordbergstraße an den genau richtigen Stellen. Der entstehende Park auf neun Meter Höhe hat den Querschnitt dieser Straßen und ist damit in den urbanen Rhythmus des Orts eingebunden. Auf 30 Meter Höhe ist der Raum von zwei Brücken überspannt, die auf dieser Ebene eine halb öffentliche Zone mit Ringerschließung entstehen lassen.

In den Geschoßen darüber erlauben sich Artec, den Traum von der Stadt über der Stadt weiter zu träumen, mit terrassierten Baukörpern, die den Nachbarn möglichst wenig Licht nehmen. Das sieht in der Vogelperspektive ein wenig aus wie ein Kreuzfahrtschiff oder wie einer der Flugzeugträger, die Hans Hollein in den 1960er-Jahren als Zukunftsvision in die Wiener Altstadt collagierte. Artec ist zuzutrauen, auch in diesem monumentalen Maßstab Außerordentliches zu leisten. Mit schwebenden Bauten haben sie, wie ihr Altenheim in Innsbruck beweist, ja Erfahrung.

Dieses herausragende Projekt zeigt, dass Wien seine „Konsolidierte Stadt“ respektvoll weiterbauen kann, ohne in irgendeiner Weise gestrig zu wirken. Jetzt geht es darum, dem Projekt, dessen Nutzfläche deutlich unter dem gewidmeten Maximum liegt, jene Ausführungsqualität zu ermöglichen, die es verdient. Es könnte ein Meilenstein der Wiener Stadtentwicklung werden.

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