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Die letzten Tage der Baukultur
Spectrum

Die Generali-Versicherung vermietet die denkmalgeschützten Räume ihrer ehemaligen Kunstsammlung an eine Supermarktkette. Ein besonders infamer Fall von Kindesweglegung, der gut ins Gesamtbild der baukulturellen Entwicklung passt.

1. September 2018 - Christian Kühn
Der Optimist und der Nörgler sind zwei Figuren aus der Sammlung von Charakteren, die Karl Kraus für sein Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ geschaffen hat. Sie kommentieren die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, wobei der Optimist als Stichwortgeber auftritt, dessen phrasenreiches Gerede der Nörgler mit seinen Antworten entlarvt.

Leihen wir uns dieses Dramenpersonal für einen Spaziergang durch Wien, und lassen wir den Optimisten beginnen: „Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt! Nicht nur die Mercer-Studie, auch der renommierte Economist reihen uns auf Platz eins. Melbourne haben wir geschlagen, weil die Terrorismusgefahr in Wien gering und die Schönheit der Stadt umwerfend ist.“

Der Nörgler: „Berittene Polizei und Weltkulturerbe – das soll unsere Zukunft sein? Studien wie die beiden zitierten würdigen Leistungen der Vergangenheit. Wie gut es sich in fünfzehn Jahren in Wien leben lässt, entscheidet sich heute.“

„Aber wir sind doch einfach Weltklasse!“, entgegnet der Optimist. „Der Denkmalschutz erfasst in Wien schon Bauten, die erst ein Vierteljahrhundert alt sind. Sehen Sie nur, hier, in der Wiedner Hauptstraße 15: Die Generali Foundation, erst 1995 als Ausstellungsraum für die Kunstsammlung der Versicherung errichtet, steht bereits unter Denkmalschutz. Und seit hier ein Lidl-Supermarkt eingezogen ist, kann jeder ohne Scheu diesen Kunstraum besuchen. Niederschwelliger kann man große Architektur nicht unters Volk bringen.“

Die beiden Herren betreten den Korridor, der als neuer, straßenseitiger Zugang zur Verkaufshalle angelegt wurde. Überlassen wir sie einen Moment diesem Shoppingerlebnis der besonderen Art und wenden uns kurz den Fakten zu. Die 1988 gegründete, auf Konzeptkunst fokussierte Generali Foundation war eine fixe Größe im Wiener Kulturbetrieb, ihre von Jabornegg und Pálffy gestalteten Räume waren ein Meilenstein der Wiener Architekturentwicklung. Sie stehen daher zu Recht unter Denkmalschutz. Im Rahmen einer „Konzentration auf die Kernaufgaben“ überließ die Generali ihre Sammlung Ende 2015 dem Museum der Moderne Salzburg. Seither stand die Halle leer. Eine Nutzung für kulturelle Zwecke scheiterte nicht zuletzt an der geforderten Miete, die mit Kultur nicht zu verdienen ist. Im jüngsten Geschäftsbericht der Generali-Versicherung kommt Kulturförderung – bis auf ein Sponsoring des Wiener Musikvereins – nicht vor. „Simpler, Smarter. Faster!“ nennt sich die aktuelle Unternehmensstrategie: Kultur ist Ballast, selbst für einen milliardenschweren Konzern.

Der Optimist und der Nörgler treten auf die Straße, vor ihnen eine Bildstele von Heimo Zobernig aus zwei übereinander gesetzten City-Lights, seinerzeit als Kunstwerk bewilligt. Jetzt prangt dort das Lidl-Logo. „Elastizität ist die Substanz der neuen Kunst!“, schwärmt der Optimist. „Alles fließt: In der Bankfiliale von Adolf Loos in der Mariahilferstraße 70 werden heute billige Kleider der Marke Tally Weijl verkauft, und im Loos-Haus, dem ehemaligen Modegeschäft Goldman und Salatsch, residiert heute die Raiffeisenbank. So viel Ironie gibt es nur Wien!“

„Die Unterscheidung zwischen Schein und Substanz hat diese Stadt schon lange verlernt“, entgegnet der Nörgler. „Am Heumarkt üben sich die Verantwortlichen seit Jahren im Schönreden einer stadtgestalterischen Katastrophe. Was die Autosuggestion stört, wird verdrängt, wie zuletzt die drei Gutachten, die von der Stadt selbst in Abstimmung mit der Unesco in Auftrag gegeben wurden.“ – „Die Kleingeister aus Paris werden schon noch flexibel werden“, entgegnet der Optimist. „Jedes Gutachten lässt sich interpretieren.“

Lassen wir die beiden Herren noch ein paar Schritte machen und wenden uns auch hier den Fakten zu. Die drei Gutachten sind unmissverständlich: „Das alte Intercontinental Hotel setzte sich über die städtebauliche Logik des Grundstücks hinweg, um dort einen Neuanfang zu verkünden, wo dieser am deplatziertesten war. Vor dem Hintergrund der damaligen Aufbruchsstimmung (und urbanistischen Verwirrung) ist die alte städtebauliche Sünde verständlich und sogar verzeihbar. Sie heute zu wiederholen, ja zu potenzieren, aber diesmal ohne den entsprechenden sozialhistorischen Hintergrund und seine mildernden Umstände, wäre unverständlich und unverzeihlich. Das Projekt beeinträchtigt seinen städtebaulichen Kontext so stark und negativ, dass die Welterbestätte Wien Innere Stadt in Bestand und Wertigkeit ernsthaft bedroht ist.“ Soweit der Stadtplaner Vittorio Magnago Lampugnani. Die Gutachten von Christa Reicher und Birgitta Ringbeck stehen ihm in nichts nach.

Sie decken sich auch mit einem aktuellen Protestbrief, den vom Kunstsenat angefangen viele wichtige Kulturinstitutionen unterstützt haben. Die Antwort des Wiener Bürgermeisters liest sich wie eine Nachricht aus einer Parallelwelt: „Das Heumarkt-Projekt bedingt weder einen Abbruch historischer Substanz, noch wird der Stadtgrundriss verändert. Auf den historischen – innerhalb der Ringstraße gelegenen – Stadtkern hat das Projekt keine Auswirkungen. Die Integrität und Authentizität der Welterbestätte werden durch das Projekt nicht in Frage gestellt.“

„Wien ist anders!“, schwärmt der Optimist. „Eine Stadt muss mehr sein als nur schön. Wien hat das beste Kanalsystem und die beste U-Bahn der Welt.“ Das ist dem Nörgler zu wenig: „Das eine darf nicht gegen das andere ausgespielt werden. Warum betet diese Stadt ihre Sachzwänge an? Warum schätzt sie Schönheit und Großzügigkeit so gering?“ Noch einmal zu den Fakten: Der U-Bahnbau in Wien ist ein eigener, von den Wiener Linien regierter Kosmos. Wer sich dort anmaßt, Kritik zu üben, nicht an der U-Bahn per se, sondern etwa als besorgter Hausbesitzer an bestimmten technischen Verfahren, wird rasch in seine Schranken verwiesen. So erging es den Besitzern von Otto Wagners „Hosenträgerhaus“ an der Ecke Alserstraße/Garnisongasse, dessen Fundamente für eine neue U5-Station unterfangen werden. Aus dem Antwortschreiben des Anwalts der Wiener Linien: „Das Interesse der Stadtbevölkerung an einem funktionierenden Nahverkehr ist deutlich höher als an rein ästhetischen Befindlichkeiten. Die Mehrheit der Stadtbevölkerung wohnt in den Außenbezirken und hat ein ureigenes Interesse, sich in der Stadt relativ schnell fortzubewegen. Im Übrigen: Die Funktionalität der Stadtarchitektur steht deutlich über den ästhetischen Aspekten.“

Unsere beiden Herren sind inzwischen die Prinz-Eugen-Straße hinaufgezogen und passieren das Belvederestöckl im Schwarzenberggarten. „Endlich“, so der Optimist, „wird dieser Park öffentlich zugänglich – als Bierlokal mit 880 Plätzen.“ – „Auch der Park des privaten Palais Liechtenstein im neunten Bezirk“, antwortet der Nörgler, „ist tagsüber öffentlich zugänglich – gratis und ohne Konsumzwang. Wer gut wirtschaftet, braucht seinen Besitz nicht zu verramschen.“ Der Optimist: „Ich freu' mich auf diesen Hort österreichischer Gastlichkeit und gepflegter Biere. Braukultur statt Baukultur – das wird eine Erleichterung!“

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