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Laser statt Leser
Der Standard

Finnland schenkt sich selbst eine aufsehenerregende Bibliothek zum 101. Geburtstag. Das neue Oodi in Helsinki ist in jeder Hinsicht eine Ode an den Bildungsbürger.

15. Dezember 2018 - Ulf Meyer
Solche Politikerbiografien gibt es wohl nur in Finnland: Claes Andersson brach seine Karriere als Chefarzt ab, um fortan als Lyriker und Jazzmusiker zu brillieren, und wurde bald darauf Kulturminister Finnlands. Auf ihn geht die Idee zurück, auf dem besten Baugrundstück in ganz Finnland, direkt gegenüber dem Nationalparlament und mitten im neuen Kulturviertel der Hauptstadt, eine riesige neue Bibliothek zu bauen. Klar ist: Der Neubau hat architektonisch und inhaltlich das Zeug, zu einem Impulsgeber im Bibliothekswesen zu werden.

Zum 101. Geburtstag der Republik Finnland ist die neue Oodi-Bibliothek eröffnet worden. Seitdem strömen Bürger und Gäste in Scharen in die neue Bücherei, den jüngsten Stolz der Hauptstadt. Das nordische Land gilt als Pisa-Meister, bibliophil und als die am flächendeckendsten „alphabetisierte und digitalisierte Nation der Welt“. Aber selbst in dieser bibliotheksverwöhnten Gesellschaft hat das Oodi das Zeug dazu, zum neuen GoldsStandard im öffentlichen Bibliothekswesen zu werden.

Das finnische Architekturbüro ALA hat dem Gebäude mit einem holzverkleideten Trichter als Rieseneingang seine unverwechselbare, elegante Form gegeben. Das Oodi liegt vis-à-vis dem Parlament am Kansalaistori. Die wichtigste Konzerthalle (Musiikktalo) und das beste Museum zeitgenössischer Kunst (Kiasma) in Finnland flankieren diesen Bürgerplatz.

Das Gebäude bietet mehr als 17.000 Quadratmeter Fläche, aber „nur“ 100.000 Bücher. Denn lange Reihen mit Bücherregalen nehmen nur das oberste der drei Geschoße ein – mit herrlichen Panoramablicken über die Innenstadt, die Finlandia-Halle und die Tölöö-Bucht. Der Neubau definiert seine Rolle als urbanen Wohnraum. Tonstudios, eine Küche, große und stets bevölkerte Spiel- und Leseareale für Kinder und der „Maker Space“ machen aus dem Oodi ein „Forum für Gedanken und Werke“, wie es heißt.

Die doppelt gekrümmten Fassaden haben ALA Architects schon bei ihrem Gesellenstück, dem Kilden-Theater in Kristiansand (Norwegen), eingesetzt. Der mit finnischer Fichte verkleidete, gedeckte Eingang formt in der Bibliotheksetage einen großen Stadtbalkon, von dem aus die Bürger auf Augenhöhe auf das Parlament schauen können.

Zahl der Ausleihen steigt

Die symbolische Geste soll zeigen, dass Bildung und Politik der finnischen Gesellschaft gleich wichtig sind. Etwa 98 Millionen Euro haben sich Stadt und Staat ihren Neubau kosten lassen, der ein Grundbedürfnis befriedigt: Die fünf Millionen Finnen haben im letzten Jahr 68 Millionen Bücher aus ihren Stadtbibliotheken getragen. Für seine Bibliotheken hat der finnische Staat etwa 57 Euro pro Kopf ausgegeben, ein Rekordwert. Trotz Digitalmedien und florierender Streamingdienste steigt die Anzahl ausgeliehener Bücher weiter.

Dass das Oodi-Gebäude eine raffinierte Brückenkonstruktion aus Stahl ist, verschweigt es architektonisch innen wie außen. Zwei mächtige Stahlträger spannen über hundert Meter, um das stützenfreie Foyer zu ermöglichen. In diesem langen, dünnen Raumkontinuum liegen nur ein Kino, ein Auditorium und ein Café. Im Stockwerk darüber, einem geometrisch heillos verwurstelten Zwischengeschoß, in dem das überkomplexe Tragwerk halbherzig versteckt wird, liegen die Studios, Arbeits- und Seminarräume.

Die Beletage aber ist das zweite und letzte Obergeschoß: Sie ist als Bücherlandschaft unter einem leichten, gleißend-weißen Bücherhimmel gestaltet. Hölzerne Böden kontrastieren mit der Putzdecke, die sich wie Cumuluswolken wölbt und durch runde Oberlichter Tageslicht auf die Leser herablässt. Die niedrigen Regale lassen die Blicke frei schweifen.

Im Grundriss ist die Bibliothek der konventionellste Teil des Neubaus. Rem Koolhaas’ Bibliothek in Seattle oder Sou Fujimotos Bücherei für die Musashino-Universität bei Tokio haben erfolgreicher versucht, aus dem Programm selbst Funken zu schlagen. Aber die Architekten des Oodi versuchten nicht, das Bucharchiv ihrer Bibliothek neu zu erfinden, sondern sie um diverse Funktionen anzureichern und so für zukünftige Generationen relevant zu halten.

Der kostenlose und niedrigschwellige Zugang zu neuen Technologien wie 3D-Druckern und Lasercuttern, aber auch zu Spielkonsolen und Nähmaschinen steht im Oodi im Zentrum des Geschehens. Auch Sportgeräte, Werkzeuge und Geschirr können in der modernen Multimediathek ausgeliehen werden.

Oodi soll lebenslanges Lernen, eine aktive Bürgerschaft und damit schlichtweg „Demokratie und Meinungsfreiheit“ unterstützen, wie ihre Bauherren es nennen. Auch das gute alte Buch hat im Oodi einen Hightechtouch bekommen: Alle Medien sind mit Radio-Frequenz-Identifikations-Tags ausgestattet, mit deren Hilfe Roboter sie im Haus bewegen und bei Bedarf wieder an ihren Regalplatz befördern können.

Für alle Bürger

Der Name „Oodi“ („Ode“) wurde in einem ebenso offenen Wettbewerb ermittelt wie der architektonische Entwurf selbst. Die gebaute Ode ist ein Lobgesang auf den Bildungseifer und die Digitalaffinität der nordischen Gesellschaft. Die Formfreude des Gebäudes sorgt dafür, dass es zum neuen Symbol der finnischen Kapitale werden kann. Oodi ist ein schon jetzt beliebtes „Stadthaus für alle Bürger“, denen es helfen soll, „sich in der Welt zurechtzufinden“, wie die Ambition des Hauses heißt – keine kleine Aufgabe.

Der neue Typus der hybriden Bibliothek ist auf halber Strecke zwischen Wissensspeicher und digitalem Coworking-Space für kreative Aktivitäten angesiedelt. Vielleicht müssen Bibliotheken Hightechmultimediastudios sein, um als Bautypus zu überleben? Den Charme des Neubaus macht dennoch die geschmackvolle Assemblage von Büchern, Regalen, Licht zu schönen Orten aus. Eine Bibliothek muss schließlich nach wie vor zweierlei leisten: das schnelle Auffinden von Titeln, die man sucht, und die Begegnung auf dem Weg dorthin mit Titeln, von denen man nie wusste, dass es sie überhaupt gibt.

Im Google-Zeitalter ist dies die entscheidende Qualität zeitgenössischer Bibliotheken: Wissen übersichtlich zu speichern, aber auch zu verknüpfen. Nur dann wird angesichts der Digitalisierung aller Lebensbereiche die Existenz von Bibliotheken nicht infrage gestellt. Vielleicht schätzt am Ende die Lesergeneration, die fast ausschließlich mit ortloser Information aufgewachsen ist, die Hardware von Bibliotheken wie Oodi, die nichts mehr sind als das – schöne Orte der Bücher.

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