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Der Kultdesigner aus Chicago, den keiner über Vierzig kennt, verpasst zwei Klassikern einen neuen Dreh
Neue Zürcher Zeitung

Mit seiner 3-Prozent-Regel holt Virgil Abloh die Mode von Gucci und Louis Vuitton in die Zukunft. Und nun macht er sich auch an Möbelstücke, die keiner unter Dreissig kennt.

14. Juni 2019 - Sabine von Fischer
Turnschuhe, Türstopper, Teppiche, Handtaschen, Roben, T-Shirts: Virgil Abloh hat alles gestylt und zum Verkaufsrenner gemacht. Wenige bringen Alltag und Luxus so nah zueinander – vielleicht noch sein langjähriger Mentor und Begleiter Kanye West. Auf Instagram hat Virgil Abloh vier Millionen Follower, laut «Time Magazine» war er 2018 unter den 100 einflussreichsten Menschen. Wir blicken ihm auf die Füsse: Ja, er trägt Off-White, sein vor fünf Jahren gegründetes Label. Es gibt keinen Turnschuh, der hipper ist als dieser. Und nun kommen die Möbel dran.

Virgil Abloh ist DJ und nach anderen prestigeträchtigen Stationen seit einem Jahr Kreativdirektor der Herrenkollektion von Louis Vuitton. Studiert hat er Architektur, daher stammt vielleicht seine Begeisterung für die Objekte des legendären französischen Ingenieur-Architekten Jean Prouvé. Nichts ist ihm heilig, auch nicht dessen Designklassiker Petite Potence und Antony, eine Leuchte und ein Stuhl.

Spin-off des Kulturwandels

Darf man das? Virgil Abloh gibt dem bisher unantastbaren Designkanon einen neuen Dreh. Bei Nike, Gucci, Louis Vuitton und anderen wurde er dafür schliesslich angestellt. Man darf also, denn man will den Kontakt zur jungen Generation nicht verlieren. Die für Vitra gestalteten Objekte sollen Brücken schlagen, von 1942 (als Jean Prouvé die Leuchte als Prototyp für sein eigenes Haus baute, bevor sie 1947 in Serie ging) bis 2019. Und sie schauen voraus ins Jahr 2035: «Twentythirtyfive» heisst das Projekt. ­– Auch wenn Virgil Abloh gerne darüber diskutiert, ob wir dann überhaupt noch Möbel brauchen. Schliesslich lebt er es selbst vor, dass ein Mobiltelefon zum Arbeiten reicht, wo auch immer er ist. Und er ist ständig unterwegs.

Der amerikanische Trendsetter wehrt sich nicht einmal gegen den Vorwurf, er stehle Jean Prouvés Entwürfe. Seine Designs folgen der 3-Prozent-Regel: fast alles belassen, drei Prozent neu gestalten, so wie ein paar Strichlein eine Aussage in Ironie verwandeln. Auch Anführungszeichen reichen, die 3-Prozent-Regel zu erfüllen. Von Prouvés Möbeldesign bleiben demnach 97 Prozent, Abloh ergänzt Plexiglas oder ein Drahtgitter und Farbe.

Prouvés Erben haben selbstverständlich ihre Zustimmung gegeben. Die Objekte im Angebot heissen weder Kopien noch Reeditionen, sondern Ausstellungs-Spin-offs, weil sie gleichzeitig in einer Virgil-Abloh-Inszenierung mit Objekten aus dem Vitra-Archiv arrangiert sind. Das Durchschnittsalter an der Vernissage liegt allerdings sogar über jenem von Abloh (Jahrgang 1980). Die Jugend, die er ansprechen will, klickt sich, so die Erwartung, durch den Webshop.

Die rasende Neuerfindung der Welt

«Erst dachte ich, Sie hätten nicht die Geduld, mit uns zu arbeiten», gesteht Vitra-Leiterin Nora Fehlbaum dem agilen Designer am Eröffnungsgespräch. Ohne eine Sekunde zu verlieren, antwortet Abloh: «Speed is the name of the game.» So sind die Millennials: Das digital vernetzte Arbeiten ist nicht nur effizient, sondern vor allem eine Befindlichkeit, die alles neu aufmischt. Jeden Tag lässt sich mit dem Smartphone eine neue Welt erfinden.

«Think Otherwise» ist die Aufschrift auf der grossen Flagge am Museum of Contemporary Art Chicago, wo kürzlich die erste grosse Retrospektive auf das Werk des 38-Jährigen eröffnet wurde. In seiner Heimatstadt, wo sich viele Jugendliche als Zweitklassbürger der USA fühlen, trifft die Botschaft einen Nerv.

Und was bedeutet «Think Otherwise» für Virgil Abloh c/o Vitra? Die Mission ist, den Millennials, die den Namen Jean Prouvé noch nie gehört haben, dessen Arbeit näherzubringen. Aber es geht auch in umgekehrter Richtung: Die Nachkriegsgeneration und ihre Nachfolger, die mit Vitra-Möbeln gross geworden sind, kennen nun den Namen Virgil Abloh.

[ Virgil Abloh c/o Vitra: TWENTYTHIRTYFIVE, bis 31. 7. 2019, Fire Station, Vitra Campus, Weil am Rhein, Eintritt frei. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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