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An den Geisterhäusern in Singapur lässt sich auch das Wachstum der Stadt aufzeigen
Neue Zürcher Zeitung

Die rapide Stadtentwicklung von Singapur hat ihren Preis: Häuser werden abgerissen, Menschen umgesiedelt. Aber die Erinnerungen und Traditionen lassen sich nicht auslöschen.

30. August 2019 - Sabine von Fischer
Die Bruchstellen im aufgeräumten, technokratisch bis ins Letzte kontrollierten und scheinbar nahtlosen Gefüge des Inselstaats Singapur sind der Ausgangspunkt ihrer Geschichte. Die beiden Architekten Charlotte Malterre-Barthes und Marcel Jäggi beschäftigten sich mit den Auswirkungen der rapiden Stadtentwicklung und deren ökonomischen Superlativen: Singapur ist weltweit (nach Macau und Monaco) das drittdichteste Stadtgebiet, hat das dritthöchste Pro-Kopf-Einkommen und exorbitante Immobilienpreise.

Doch dann gibt es Momente, die nicht in dieses Bild passen: wenn beispielsweise eine gebildete und rational veranlagte einheimische Kollegin beim Betreten einer Eingangshalle sagt: «Achtung, hier spukt es.» Die zwei Architekten sehen darin auch eine Form des Widerstands gegen das enorme Tempo der städtischen Veränderungen, mit dem eigentlich niemand mithalten kann. Es ist eine Opposition der Singapurer gegen das fortschreitende Auslöschen von Erinnerungen. In Geistergeschichten drücken sich das Interesse am kulturellen Erbe und eine Besorgnis über die fehlende Erinnerung im Stadtbild aus.

Kein Elternhaus steht mehr

Um diesen Verlust der Tradition besser zu verstehen, überlegte sich Charlotte Malterre-Barthes einige Fragen, die sie jedem Taxifahrer in Singapur stellte. Da nur Einheimische für diesen Beruf zugelassen sind, war es gegeben, dass sie in Singapur aufgewachsen waren. Die Antworten auf die Frage «Steht Ihr Elternhaus noch?» waren immer gleich: Kein einziges gab es mehr, alle waren sie neuen, höheren, dichteren Planungen gewichen. Auf «Steht Ihre Schule noch?» waren es dann nicht mehr hundert, sondern eher achtzig Prozent, die mit «Nein» antworteten.

Kein Wunder also, dass unter solchen Lebensumständen auch metaphysische Räume eine besondere Bedeutung erhalten. Gute und schlechte Geister besetzen inmitten der Neubau-Euphorie in Südostasien Räume für Erinnerungen. Aus dem Spuk in der Eingangshalle wurde ein parallel zur täglichen Arbeit am Future Cities Laboratory laufendes Projekt, in dem Marcel Jäggi und Charlotte Malterre-Barthes die Architektur von Geisterhäusern dokumentierten. Der seit langem in Singapur lebende deutsche Fotograf Philipp Aldrup wurde zu ihrem Partner. Seine Neugierde hatte ihn an im polierten und perfektionierten Alltag übersehene Orte gelockt: übrig gebliebene Räume hinter Luxus-«condominiums» und unter Brückenpfeilern – Orte, wo gebürtige Singapurer üblicherweise nicht hingehen.

Mit dabei auf den Erkundungstouren an diese vergessenen und verwunschenen Orte war auch die Musikerin Vivian Wang, die über ein Filmprojekt der ETH Zürich zu der Gruppe gestossen war. Als langjähriges Mitglied der Indie-Band The Observatory, die mit experimenteller Rockmusik zu den wichtigen Exponenten der musikalischen Untergrundszene gehörte, hatte sie schon viel gesehen, aber nicht diese Unorte. So ging sie mit an Stellen, die viele Singapurer noch nie gesehen haben und wo die parallelen Realitäten der prosperierenden Stadt besonders offensichtlich sind: «Alles in Singapur ist geordnet, sauber und vernünftig, aber wenn man unter diese Oberflächen vordringt, gibt es weitere Dimensionen: einen Altar oder Schrein, ein Feuer mit Opfergaben an einem Laternenmast.»

Den Vorfahren Respekt erweisen

Die Architektin, der Architekt, der Fotograf und die Musikerin haben nun in Zürich das Phänomen von Singapurs Geisterhäusern mit den Mitteln einer nicht ganz üblichen Ausstellung nachgezeichnet. Die beiden ehemaligen Architekturforscher des Future Cities Laboratory dokumentierten acht Gebäude: verlassene Villen und eine Sportanlage, einen Friedhof und sogar eine Metrostation, die im Alltag vor allem wegen der dort ansässigen Geister bekannt waren. Viele der in Zeichnungen, Fotografien und Modellen festgehaltenen Strukturen sind unterdessen abgerissen. In den meisten Fällen waren es hängige Gerichtsverfahren, die eine sofortige Neuüberbauung verunmöglichten und so dem rituellen Glauben Raum gaben.

Fotografien von Stadtlandschaften und rituellen Handlungen hängen, von Jasminduft und einem tropisch anmutenden Pflanzenvorhang von der Brauerstrasse abgeschirmt, grossformatig an den Wänden. Darunter steht eine Tischvitrine mit Planzeichnungen und Objekten aus dem südostasiatischen Alltag, mit denen die Geister geehrt und besänftigt werden: Süssigkeiten, Bücher, Zigaretten. Ganz hinten wird es dann wirklich geisterhaft: In einem komplett abgedunkelten Raum flackern einzelne Glühbirnen an der Decke, aus Lautsprechern zischen und zirpen Töne in einem Loop von dreissig Minuten, manchmal kaum hörbar, dann wie alltägliches Hintergrundrauschen, immer etwas gespenstisch.

In diesem geisterbahnähnlichen Setting richten die Besucher ihre (Handy-)Taschenlampen auf die in Schwarz eingefärbten Geisterhaus-Modelle, deren Podeste mit an einem Schweizer Kraftort gebrochenen Steinen am Boden verankert sind. Es bleibt im Dunkeln, ob die Ausstellungsmacher während ihrer Arbeit selber abergläubisch wurden und welche der vielen Bruchstellen der Stadtentwicklung sie mit ihrer Dokumentation der Geisterhäuser verstehen lernten. Was sie in präzisen Überlegungen sichtbar machen: dass die rituellen Verbrennungen von Opfergaben auch zur schönen neuen Welt von Singapurs Hochhausanlagen gehören. Oder, wie Vivian Wang sagt: «Aberglaube und Ritual sind das Einzige, was sich nicht verändert.»

Die Eröffnung fand pünktlich zum Ende des «Hungry Ghost Month» statt. Jeweils während des siebten Mondzyklus ist gemäss chinesischer Überlieferung besonders viel Respekt für die Geister geboten. Zur Ehrerweisung an die Vorfahren werden in Papier nachgebaute Villen und Luxusautos geopfert, genauso wie die üblichen Essensgaben, Kleider oder Geldgeschenke. Für das Architekturforum Zürich ist «Some Haunted Spaces in Singapore» die letzte Ausstellung in der ehemaligen Ferrari-Garage an der Brauerstrasse. Dann darf der Verein bis zum Neustart im Zollhaus in einem Jahr nomadisch werden – von einem Umzug im Geistermonat wird nämlich ganz besonders abgeraten.

[ «Some Haunted Spaces in Singapore», Architekturforum Zürich, Brauerstrasse 16, bis 19. September. Zur Finissage wird auch ein Spaziergang durch Geisterhäuser in der Zürcher Altstadt angeboten. Das gleichnamige Buch zur Ausstellung von Marcel Jäggi und Charlotte Malterre-Barthes erschien Ende 2018 bei der Edition Patrick Frey. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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