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Stadt aus freien Stücken
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Das Sonnwendviertel Ost ist das eigentliche Vermächtnis der Ära Vassilakou/Chorherr in der Wiener Stadtplanung. Ein Besuch in einem Viertel mit vielen Gesichtern: Bobo-Town? Stadt der Zukunft? Oder beides?

6. Juli 2019 - Christian Kühn
Das Sonnwendviertel ist der jüngste Stadtteil von Favoriten, dem zehnten Wiener Gemeindebezirk, und verdankt sein Entstehen dem neuen Hauptbahnhof. Mit dem Beschluss zu dessen Errichtung im Jahr 2003 war klar: Aus einer Barriere zwischen dem dritten, vierten und zehnten Bezirk werden 50 Hektar Bauland in Bestlage.

Nun schlug die Stunde der Stadtplanung. Eine Stadt zu planen ist an sich ganz einfach. Wer die Schemata von Block, Zeile und Turm zu variieren weiß, kann nicht falschliegen, solange er darauf achtet, dass die Straßen so breit sind, dass es keine Staus gibt, und genug Fläche für Parkplätze zur Verfügung steht. Der ursprüngliche Masterplan für das Quartier aus dem Jahr 2004 hielt sich an diese ewigen Prinzipien und sah im unmittelbaren Umfeld des Bahnhofs Hochhäuser vor (Quartier Belvedere) und im Anschluss nach Süden eine Wohnbebauung mit Superblocks, die dem Raster der gründerzeitlichen Blockrandbebauung folgen (Sonnwendviertel West). Ein lang gestreckter, nach Helmut Zilk benannter Park begleitet diese Bebauung parallel zu der in Hochlage geführten Bahntrasse. Als Abschirmung zur Bahn war eine rund 600 Meter lange Struktur mit zentralem Erschließungsboulevard vorgesehen (Sonnwendviertel Ost). Entlang dieses Boulevards sollte an beiden Seiten eine geschlossene Bebauung mit kammartigen Erweiterungen liegen, zum Park hin für Wohnungen und zur Bahn hin für Gewerbebetriebe.

Dieser Plan sah auf den ersten Blick schlüssig aus. Woher die Nachfrage nach so viel Gewerbefläche kommen sollte, konnte er aber nicht beantworten. Die ÖBB und die Stadt Wien beauftragten daher einen neuen Masterplan, der in einem „kooperativen Verfahren“ entwickelt wurde. Knapp 50 Architekturbüros bewarben sich mit einem Konzept um die Teilnahme; sechs wurden ausgewählt, um gemeinsam einen Plan für die Bebauung zu entwickeln. Ein Konsens war rasch erzielt: den Boulevard in eine verkehrsfreie Zone zu verwandeln und die Kfz-Erschließung an die Bahn zu verlegen. Für die Bebauung konnten sich die Teilnehmer aber auch nach drei Workshops nicht auf einen gemeinsamen Plan einigen, bis Max Rieder, einer der Teilnehmer, vorschlug, die sechs Konzepte zu überlagern. Das ergab einen mehrdeutigen Plan, in dessen Rahmen die beteiligten Büros Testplanungen für jeweils zwei Baufelder entwickelten.

Ein Städtebau nach dem Schema von Block, Scheibe und Turm entsteht so nicht. Im Unterschied zum alten Masterplan ist der neue weniger schematisch und gleicht städtebaulichen Strukturen, wie sie sonst in „gewachsenen“ Städten zu finden sind. Dieses Ergebnis verdankt sich aber keinem „malerischen“ Ansatz, bei dem die Stadt auf ein Bild hin komponiert wird, sondern einer Vorgehensweise, die ohne ein bestimmtes formales Ziel zwischen Kontrolle und Zufall vermittelt. Eine andere Form liefert allerdings noch keinen neuen Inhalt. Städtisches Leben braucht Dichte, Diversität und Theatralik, und diese Mischung stellt sich nur ein, wenn an einem Ort nicht bloß gewohnt, sondern auch gearbeitet und Handel betrieben wird. In „normalen“ Neubaugebieten gelingt es so gut wie nie, die Erdgeschoßzonen zu beleben und eine gesunde Mischung von Wohnen und Arbeiten herzustellen. In diesem Fall setzten die Projektentwickler an dem Punkt an, der diese Frage entscheidet: nämlich beim Verkauf der Grundstücke. Sie legten unterschiedliche „Verwertungstypen“ fest: Baufelder für Bauträgerwettbewerbe; Baufelder für „Quartiershäuser“, in denen sich Interessenten mit einem Konzept für die Mischung von Wohnen und Arbeiten bewerben mussten; Baufelder für Baugruppenprojekte; und schließlich Baufelder, die ausschließlich über den Preis vergeben wurden.

Eine der Besonderheiten ist die Vorgabe einer sehr geringen Miete von vier Euro netto pro Quadratmeter im Erdgeschoß für öffentliche und kommerzielle Nutzungen, die den Projektwerbern über einen geringeren Grundpreis abgegolten wird. Wesentlich für das Projekt ist auch das Mobilitätskonzept. Ziel war einerseits, das Areal von motorisiertem Durchgangsverkehr freizuhalten, andererseits den ruhenden Verkehr nicht in Tiefgaragen unter den Wohnhäusern, sondern in Hochgaragen unterzubringen. Das ist unbequem, aber wirksam: Der öffentliche Raum wird belebt, wenn die Bewohner nicht direkt aus der Garage mit dem Lift in ihre Wohnung gelangen; und wenn der Weg zum Auto gleich lang ist wie der zum öffentlichen Verkehrsmittel, bleibt das Auto öfter in der Garage. Für den Transport von Waren von der Hochgarage in die Wohnungen sieht das Mobilitätskonzept ein Angebot von Transporthilfen vor, die wie Einkaufswägen im Supermarkt geliehen werden können. Diese planerische Bevormundung wird nicht jedem gefallen. Dass Verhaltensänderungen nötig sind, wissen wir; durch marktwirtschaftliche Selbststeuerung werden sie offensichtlich nicht gelingen. (Auch im Sonnwendviertel Ost hat rund ein Drittel der Bauflächen noch eine eigene Tiefgarage, im Sonnwendviertel West gilt das für alle Flächen.)

Etwa die Hälfte des neuen Stadtteils ist bis auf Feinarbeiten im öffentlichen Raum bereits fertiggestellt. Wie immer bei städtebaulichen Projekten wird es Jahre dauern, bis man beurteilen kann, ob das Konzept aufgegangen ist. Eine vorläufige Bilanz fällt jedenfalls gut aus. Die Quartiershäuser sind errichtet, und auch wenn sich die versprochenen Nutzungsmischungen nicht immer eingestellt haben, ist der Anteil an Nutzungen jenseits des Wohnens signifikant größer als in anderen Neubaugebieten. Die Bloch-Bauer-Promenade (wie der zentrale Boulevard jetzt heißt) wird tatsächlich als Fußgängerzone ausgewiesen und nicht, wie es die Verkehrsplaner der Stadt Wien vorgeschlagen haben, als Wohnstraße. Eine Bürgerinitiative hat gerade mit 1500 Unterschriften durchgesetzt, unbequemer leben zu dürfen. (In einer Fußgängerzone herrscht außerhalb eines Zeitfensters striktes Fahrverbot, in einer Wohnstraße darf auch zwischendurch Dringendes mit dem Pkw angeliefert werden.)

Wer sich für die Details der Stadtentwicklung und die einzelnen realisierten Projekte interessiert, dem sei das Buch „Ein Stück Stadt bauen“ empfohlen, das Robert Temel gerade für die Stadt Wien und die ÖBB herausbrachte. Das Buch enthält neben einer Beschreibung der Ziele und Verfahren Kurzdarstellungen der Einzelprojekte und mehrere aufschlussreiche Interviews.

Das Sonnwendviertel Ost ist das eigentliche Vermächtnis der Ära Vassilakou/Chorherr in der Wiener Stadtplanung. Es ist keine „Themenstadt“, wie sie die Stadt Wien so oft (für Frauen, Fahrradfahrer) errichtet hat. Hier geht es ums Ganze, mit allen Widersprüchen – dem Wunsch nach Dorf in der Stadt versus das Bewusstsein, dass man in der Großstadt seine Nachbarn nicht unbedingt lieben muss. Architektonisch steht diese Stadt in ihrer formalen Mischung für den Übergang von der Big Band zum Free Jazz: klingt zuerst furchtbar, aber am Ende passt es doch.

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