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Der Traum vom Grün
Spectrum

Muss Architektur zum Pflegeberuf werden, um den Planeten aus der ökologischen Krise zu retten? Wenn Baukultur- und Umweltpolitik gut zusammenwirkten, könnten sie zumindest einen Beitrag leisten.

31. August 2019 - Christian Kühn
Critical Care – Architektur für einen Planeten in der Krise: So nennt sich eine aktuelle, sehenswerte Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Der Titel spielt mit der Vorstellung, dass sich die Welt auf der Intensivstation befindet und gepflegt werden muss. Im Untertitel des nur auf Englisch erhältlichen Katalogs klingt die Einschätzung noch drastischer: „Architecture and Urbanism for a Broken Planet“. Die von Angelika Fitz und Elke Krasny kuratierte Ausstellung will die Ursachen für die Krise aufdecken und findet sie unter anderem in der Architektur, die sich bisher viel zu sehr damit beschäftigt hätte, der Welt ihren Stempel aufzudrücken, statt pfleglich mit ihr umzugehen. Nach der Ausstellung „Care + Repair“ im Jahr 2017 ist die aktuelle Ausstellung der nächste Anlauf des AzW, den Sorgeaspekt der Architektur als ihr zentrales Thema festzustellen. Indem sie Architektur als Pflegeberuf deutet, verfolgt die Ausstellung auch eine feministische Agenda, die gezielt am Selbstverständnis der Disziplin rüttelt. Der Genie-Architekt, der sich – um seine Visionen realisieren zu können – den Kräften ausliefert, die über Macht und Geld verfügen, ist aus dieser Perspektive Teil des Problems und nicht der Lösung.

Diese Zuspitzung relativiert sich in den gezeigten Beispielen zwangsläufig: Nur zu pflegen und keinen Fußabdruck zu hinterlassen ist selbst für zurückhaltende Gestalter nur in Ausnahmefällen möglich. Der berühmte Wettbewerbsbeitrag des Architektenteams Lacaton Vassal aus dem Jahr 1996 für eine Platzgestaltung in Bordeaux, der sich mehr oder weniger darauf beschränkte, den Kies zu tauschen und den Platz öfter zu säubern, ist ein seltenes Extrembeispiel. In der Ausstellung ist ein aktuelles Projekt von Lacaton Vassal zu sehen, die Sanierung eines Wohnbaus aus den 1960er-Jahren mit 530 Wohnungen. Statt dieses „Betonmonster“ abzureißen, ersetzten die Architekten die Fassade und erweiterten das Gebäude um eine zusätzliche Schicht von Wintergärten, mit der sich die Nutzfläche bei gleichbleibender Miete verdoppelte. Durch ein raffiniertes Konstruktionssystem konnten die Bewohner während des Umbaus in ihren Wohnungen bleiben.

Bei aller Zurückhaltung ist dieses Haus ein ästhetisch anspruchsvolles Werk, so wie die meisten in der Ausstellung gezeigten Case Studies. Dass der Begriff des „Werks“ dabei weit gedehnt werden muss und auch städtebauliche Projekte und Strategien umfasst, ist offensichtlich. Die „Superblocks“ in Barcelona sind ein Beispiel dafür: Im Blockraster der Stadt werden mehrere Blöcke zusammengefasst und zu einer weitgehend autofreien Zone erklärt. Die Straßen im Inneren des Superblocks gehören den Fußgängern und werden für deren Zwecke gestaltet. Zwei solcher Zonen wurden bereits realisiert; für eine flächendeckende Einführung muss der Kfz-Verkehr in der Stadt um 21 Prozent gesenkt werden. Eine Gemeinsamkeit haben alle ausgestellten Projekte: Sie sind öffentlich finanziert und gemeinwohlorientiert. Dass in den nächsten, für den kranken Planeten kritischen Jahren ein Weltwirtschaftssystem entstehen wird, das kein privates Kapital mehr benötigt, darf man jedoch als illusorisch einstufen. Um im Rahmen des bestehenden Systems zu einer ökologischen Wende zu kommen, wird es viele, lokal angepasste Lösungen brauchen, die sich nicht auf die Haltung von „Care + Repair“ beschränken können: Wenn Millionen Menschen in Ballungsräumen zusammenleben sollen, braucht es entsprechende technische und soziale Infrastruktur. Paris, das seit 2001 von sozialistischen Bürgermeistern regiert wird, ist dafür eine interessante Case Study im großen Maßstab. Das 2010 ins Leben gerufene Projekt „Grand Paris“ mit einem Zeithorizont 2030 umfasst neue Forschungs- und Wirtschaftscluster im Großraum der Stadt, die mit sechs neuen U-Bahnlinien verbunden werden, und vor allem eine komplette Restrukturierung der Regionalverwaltung im Großraum Paris. Der multizentrische Planungsansatz hat dazu beigetragen, die Anzahl der neu gebauten Wohnungen 2017 im Großraum Paris von 40.000 auf über 80.000 zu verdoppeln.

Im Zentrum der Stadt ist eher „Care“ angesagt: Die großen Sternplätze wurden neu und fußgängerfreundlich gestaltet, zahlreiche neue Radwege angelegt, oft auf Kosten des Kfz-Verkehrs, dem dafür sogar einzelne Tunnelabschnitte entlang der Seine entzogen wurden. Seit 2014 läuft unter dem Titel „Reinventer Paris“ eine Folge von Bauträgerwettbewerben, bei denen öffentliche Grundstücke zur Entwicklung durch private Developer ausgeschrieben werden. Das spektakulärste Projekt mit dem Titel „Milles Arbres“ stammt von Sou Fujimoto und Manal Rachdi und soll noch vor den Olympischen Spielen 2024 realisiert werden. Als Konglomerat von Büros, Geschäften, Sozialeinrichtungen und Wohnungen schwebt es wie eine mit 1000 Bäumen begrünte Arche Noah über dem Boulevard Périphérique. In die bukolischen Häuschen auf der obersten Ebene werden wohl nur Millionäre einziehen, in den Etagen darunter sind auch Sozialwohnungen geplant. Ökologisch ist an diesem Projekt angesichts der Beton- und Stahlmengen, die hier zum Einsatz kommen, bestenfalls das Image. Im Gesamtkontext der Pariser Entwicklungsstrategie ist diese „Verschwendung“ aber vielleicht anders zu bewerten: als optimistisches Signal, das für andere, weniger übers Ziel schießende Ideen ansteckend wirkt.

In Österreich werden nach den kommenden Wahlen die Weichen für die zukünftige Baukulturpolitik gestellt. Deren Basis muss eine Vorstellung vom „guten Leben“ sein, die ökologische, soziale und ökonomische Aspekte umfasst und in entsprechende Strategien integriert. Am 3. September um 19 Uhr lädt die „Plattform für Baukulturpolitik“ ins Architekturzentrum Wien zu einer Podiumsdiskussion, bei der Vertreter aller Parteien ihre Positionen erläutern werden. Wer sorgt sich ums Große: die Ostregion, inklusive der Verbindung von Wien und Bratislava; das Rheintal; die Raumplanung als Bundessache? Das Mittlere: den „Westpark“ auf dem ÖBB-Gelände vom Westbahnhof bis Hütteldorf; Schulen, die Inklusion fördern; leistbares Wohnen; wirksame Architekturvermittlung? Das Kleine: das Grün im Grätzl; das Problem des außen liegenden Sonnenschutzes in einer gründerzeitlichen Stadt? Und wer hat Visionen für die gebaute Umwelt, die über das Begrünen von Wartehäuschen hinausgehen?

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