Artikel

Jacques Herzog: «Ich kenne kein anderes solches Hochhaus, nicht einmal in Manhattan.»
Neue Zürcher Zeitung

Das Architekturbüro Herzog & de Meuron will das Bauen in der Vertikale neu erfinden – doch ihre offenen Räume wecken auch Ängste und Bedenken. Mit Jacques Herzog sprach Sabine von Fischer.

25. September 2019 - Sabine von Fischer
Herr Herzog, Sie haben viele ikonische Bauten entworfen. Im Fokus der öffentlichen Diskussion stehen derzeit die Hochhäuser: Was kann ein Hochhaus durch seine Höhe der Stadt geben, das ein niedrigeres Haus nicht kann?

Zunächst einmal mehr Nutzfläche auf beschränktem Baugrund. Das ist der kommerzielle Aspekt. Viele Hochhäuser können nur dies. Interessant wird es, wenn Hochhäuser sich in der Vertikalen entwickeln und entfalten und Raum für neue Arbeits- und Wohnformen bieten: Den Roche-Bau 1 oder den Jenga Tower an der Leonard Street in New York haben wir so angelegt.

Das Hochhaus soll also mehr als ein Blickfang sein?

Unbedingt! Ein Hochhaus kann viel mehr sein: Es kann auch Öffentlichkeit generieren und zum Treffpunkt werden. Es kann ein Innenleben haben, das erst in dieser extremen Vertikalen möglich ist. Das interessiert uns an unseren vertikalen Projekten zunehmend.

Sie haben das höchste Hochhaus der Schweiz gebaut, den Roche-Turm mit 178 Metern Höhe. Er ist aber nur unter strengen Bedingungen öffentlich zugänglich.

Das stimmt so nicht: Die Lobby im Erdgeschoss von Bau 1 ist für jedermann frei zugänglich, es gibt dort ein Besucherzentrum mit einer Ausstellung zur Arealentwicklung. Das ist für ein Unternehmen dieser Grössenordnung aussergewöhnlich. Für den Rest des Baus gibt es ein grosses allgemeines Interesse, viele konnten ihn auf Anmeldung bereits besuchen. Es braucht auch Kontrollen und Sicherheitsmassnahmen, die heute anders sind als vielleicht gestern oder morgen. Architektur bildet immer eine Zeit ab, ist so gesehen ein Psychogramm unserer Gesellschaft.

Sie haben das Hochhaus schon als vertikale kleine Stadt beschrieben.

Ja, denn für die vielen tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist der Roche-Bau 1 ein eminent öffentliches, vertikal und horizontal durchlässiges Gebäude – wie eine kleine Stadt. Davon profitiert also eine Öffentlichkeit von Menschen, deren Kommunikation und Begegnung wir im Alltag mit konkreten architektonischen Konzepten anregen und unterstützen wie in kaum einem anderen Hochhaus: Die Geschossplatten sind nicht einfach durchgehend übereinandergestapelt, sondern immer wieder ausgeschnitten, um Sichtbezüge im Inneren herzustellen. Es gibt mehrgeschossige offene Räume, die den Bau wie grosse Lobbys oder Wohnräume rhythmisieren, von unten bis ganz oben. Ich kenne kein anderes Hochhaus, das so aufgebaut ist. Nicht einmal in Manhattan, dem Mekka der Türme.

Vom Zug her habe ich den Roche-Turm heute morgen so gesehen: Er ragt wie eine Haifischflosse über der Stadt, er ist von überall sichtbar, so hoch ist er. Aber ist das nun Öffentlichkeit, was ich sehe?

Sie ist im Entstehen. Zurzeit sind viele neue Roche-Gebäude im Bau. Das einstige Industrieareal wird dadurch zum modernen Campus: Es vereint Forschung, Entwicklung, Produktion und Administration im Konzernhauptsitz. Mitten hindurch führt eine öffentliche Strasse, die Grenzacherstrasse, die mit Bäumen und Büschen neu gestaltet wird. Ausserdem gibt es in diesem öffentlichen Raum Skulpturen von Bernhard Luginbühl, Jean Tinguely, Rémy Zaugg und Fischli/Weiss. Es entsteht also ein veritabler Boulevard. Und entlang des Rheins wird dereinst der Solitude-Park erweitert werden. Das ist doch ein eminenter Gewinn für die Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt und die jedes Jahr grössere Fangemeinde von Rheinschwimmern. Ja, insofern sehen Sie tatsächlich Öffentlichkeit! Besonders wenn Sie nicht bloss vom Zug aus, sondern aus unmittelbarer Nähe hingucken. Die Transformation des Roche-Areals schafft mehr und besseren Raum für alle.

Der zweite Turm soll mit 205 Metern noch höher werden. Sind Rekordhöhen ein Wunsch der Bauherrschaft oder der Architekten?

Wollen Sie mir diese Frage ernsthaft stellen?

Dann reden wir also lieber über das, was unten passiert. Auf der Baustelle wirkt das Quartier doch sehr eng.

Während der Bauzeit wirkt vieles noch sehr beengt. Danach wird sich einiges ändern. Wie gesagt wird sich die Grenzacherstrasse zum Boulevard und zum Solitude-Park weiter entfalten.

Im Vergleich mit der Rockefeller Plaza in New York fehlen dem Roche-Quartier das einladende Eisfeld und der Weihnachtsbaum für die ganze Stadt.

New York hat das Eisfeld, Basel den Park mit dem Tinguely-Museum und das Schwimmen im Rhein. Ausserdem entsteht ja neue Architektur. Für uns sehr speziell ist es, die für viele Roche-Bauten so typische Formensprache der sechziger Jahre auf dem Areal anzunehmen und weiterzuentwickeln. Trotz unterschiedlichen Formen und Dimensionen gibt es deshalb eine Verwandtschaft der Gebäude.

Der Preis für die Eleganz ist dann, dass die Geschosse nach oben immer kleiner werden.

Das ist keinem «Preis der Eleganz» geschuldet, sondern dem gesetzlich geregelten Lichteinfallswinkel. Wir verbinden also eine gestalterische Idee – die Abtreppung – mit einer gesetzlichen Vorgabe. So funktionieren Architektur und Städtebau idealerweise. Man verbindet nützliche und gesetzliche Vorgaben mit Schönheit. Ihre Frage offenbart aber eine typisch schweizerische Haltung: die Vorliebe für architektonische Kisten. Sie denken wohl, dass alles gerade sein muss und nur vier oder fünf Geschosse haben darf?

Nicht wirklich, ich war ja auch Architektin in New York, und dort zählt weniger die Frage, ob Kiste oder nicht. Die Frage der Beziehung zur Stadt ist wichtig. New York City war ja auch für Rem Kohlhaas das Mekka der Hochhausarchitektur, vor allem interessierte ihn diese Konzentration von sozialer Energie des Hochhauses mit seinem Innenleben, das oft in einer repräsentativen Lobby zum Ausdruck kommt. Es gibt da so viel grossartige Architektur. Ich habe, wann immer ich konnte, diese Lobbys betreten. In der Schweiz vermisse ich das: Die Roche-Lobby ist kaum zugänglich, an der Europaallee gibt es keine wirklichen Eingangshallen.

Nochmals: Die Lobby des Roche-Turms ist für jedermann frei zugänglich. Und was wir für Roche machen, können Sie nun wirklich nicht mit der Europaallee vergleichen . . . Die Wahrheit in New York ist zudem eine ganz andere: Tatsächlich sind nämlich nur wenige Lobbys öffentlich zugänglich; einige gewähren einen Einblick auf ein paar schöne Bilder, Skulpturen oder den Concierge in Uniform.

Nach den Ereignissen von 9/11, als die Türme des World Trade Center einstürzten, waren die Lobbys von einem Tag auf den anderen nicht mehr zugänglich. Die Frage ist, ob die Qualitäten des Hochhauses heute verloren gehen. Im Ursprungsland des Hochhauses, in den USA, passiert das. 9/11 war ein grosser Einschnitt hinsichtlich der Beziehung der High-Rise-Buildings zur Stadt.

Das 21. Jahrhundert hatte einen schlechten Start, was Offenheit und Zugänglichkeit unserer Städte betrifft. Die Ideale der Moderne einer immer freieren und demokratischen Gesellschaft scheinen weit weg. Das wird auch in Architektur und Städtebau erkennbar: mehr Gated Communities, mehr Überwachung, weniger Durchmischung von Nutzungen.

Aus technischer genauso wie aus städtebaulicher Sicht könnten Hochhäuser viel zu urbaner Qualität beitragen. Entwürfe aus der Frühzeit der Hochhäuser enthielten Ballsäle, Kinos, Schwimmbäder und andere urbane Treffpunkte, manchmal übereinandergestapelt. Solche Kühnheiten finden wenig Gefallen bei Investoren. Es ist einfacher und kostengünstiger, diese Nutzungen in den Untergeschossen zu versenken und die luftige Höhe für Büros und Apartments zu vergeben.

Seit den siebziger Jahren entstand in New York ausserdem fast nur banale Investorenarchitektur, sogar für Museumsbauten. Jetzt bewegt sich wieder mehr, unser Jenga Tower an der Leonard Street ist Ausdruck dieser neu erwachten Ambitionen.

Sie arbeiten als Architekt unter anderen Bedingungen als vor zwanzig Jahren, als die Angst und die Sicherheitsvorschriften weniger im Vordergrund standen. Was macht man heute?

Ich habe ja vorhin Beispiele unserer Hochhausprojekte erwähnt. Alle sind Versuche, neue Modelle für das Wohnen und Arbeiten in der Vertikalen zu formulieren. Der zunächst oft kritisierte Bau 1 von Roche ist heute zu einer der beliebtesten Stadtansichten von Basel geworden. Die Kommunikation unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Austausch zwischen den verschiedenen Abteilungen scheint sehr gut zu funktionieren. Das neuartige architektonische Konzept mit den mehrgeschossigen Lobbys hat sich demnach bewährt.

Auch der Jenga Tower und die Beirut Terraces in Libanon variieren in der Vertikalen. Allerdings hat keiner dieser neueren Türme die vertikale Durchlässigkeit des Bau 1 von Roche: die mehrgeschossigen Lobbys, welche wie grosse Wohnzimmer eine räumliche Rhythmisierung entlang der gesamten Gebäudehöhe ermöglichen, die Terrassen auf beinahe jedem Geschoss. Viele benutzen die internen Treppen, bewegen sich, begegnen sich. Das sind neuartige und abwechslungsreiche räumliche Angebote für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Das ist neu, nicht nur für die Schweiz. Das ist sehr wichtig, weil nur so der Architekt auch in Zukunft Argumente hat, alte und fest etablierte Modelle zu überwinden und Neues zu wagen.

Es gibt also einen neuen Schweizer Typus des Hochhauses?

Zunächst ist das ein einzelnes Beispiel. Aber der Roche-Bau 2 und das angrenzende neue Forschungszentrum werden ähnlich konzipiert, sogar mit einem noch attraktiveren öffentlichen Raumangebot. Andere Projekte im In- und Ausland werden folgen, weil die Menschen nicht mehr in den herkömmlichen, versiegelten Kisten wohnen und arbeiten wollen. Auch im Wohnungsbau gibt es noch viel Potenzial für neuartige Hochhaustypologien, einige haben wir im Ausland bereits realisieren können.

Sie haben seit dreissig Jahren auch ein Büro in New York, hat die Stadt Ihre Arbeit inspiriert?

Die Dichte, die Nähe und die Höhe der Gebäude in Manhattan ist faszinierend und einmalig. Dabei ist die Organisation so einfach: das Schachbrettraster mit dem riesigen Park in der Mitte. Da wird das einzelne Hochhaus selten für sich alleine wahrgenommen; es ist wie in einem Wald versteckt. Es gibt die wenigen Ausnahmen der uns allen vertrauten berühmten Türme wie etwa das Chrysler Building. Die Schweiz hat keine vergleichbaren Voraussetzungen. Beinahe jeder Turm wird separat debattiert. Deshalb muss das Hochhaus bei uns anders gedacht werden: Es muss präziser positioniert und proportioniert werden, mit einer innovativen inneren Organisation – wie ich sie eben beschrieben habe. Nur wenn das gelingt, wird die Akzeptanz auch hier in der Schweiz zunehmen.

Eine letzte Frage: Sie sagten einmal, Sie reisten gar nicht gern. Wie oft besuchen Sie Ihre Büroniederlassungen in Berlin, Hongkong, London und New York?

Nur wenn nötig. Zum Beispiel, um Mock-ups im Massstab 1:1, also Baumuster in voller Grösse, zu besichtigen und zu diskutieren, manchmal für ein Nachtessen mit der Bauherrschaft, weil wir ja während einiger Jahre einen gemeinsamen Weg gehen. Solche Begegnungen, die physische Präsenz erfordern – dafür reise ich. Das wird mit den Möglichkeiten der digitalen Revolution immer weniger. Aber solange Architektur für die Menschen wichtig bleibt, ist physische Erlebbarkeit ein zentrales Thema.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: